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Sehnsucht nach Liebe
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Scham, Nacktheit und Körperbild von Jugendlichen

.Die hier aufgeführte Studie an Kärntner SchülerInnen zeigt: Jugendliche im Alter
zwischen 15 und 20 Jahren
gehen überaus selbstkritisch mit sich um. Sie vergleichen ihre
Körper ständig mit dem in unserer Gesellschaft geltenden Idealbild. Dieses künstlich
generierte Ideal ist jedoch nicht zu erreichen.

Von Mario Obersteiner und Klaudia Odreitz
(02. 10. 2007)

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   Wir leben in einer sexbesessenen Gesellschaft, gleichzeitig leiden jedoch viele Menschen unter einer masochistischen Scham, nämlich dann, wenn es um ihren eigenen Körper geht (1). Eine Psychologie der Scham, wie es unsere gemeinsame Dissertation "Sexualwissenschaftliche Untersuchung zu Sexualität, Scham, Nacktheit, Körperbild und Selbstwert von Jugendlichen im Alter von 15 Jahren bis 20 Jahren" (2) darstellt, ist daher – in Anbetracht der gesellschaftlichen Unehrlichkeit um Liebe, Körper, Nacktheit und Sexualität – sehr wichtig, denn Menschen erkranken vielfach an einer Überfülle von Schamgefühlen, zum Beispiel an Depression.

Der gesellschaftlich führende Umgang mit Nacktheit und Sexualität produziert in unserer westlichen Kultur – nicht nur bei Jugendlichen massenhaft Scham. Die pornographischen, aber auch medialen Standards durch die unzähligen Angebote in Werbungen, im Internet etc. Bezug nehmend auf nackte Körper beiderlei Geschlechts lassen beim Großteil Gefühle von Beschämung zurück. Grund dafür ist die Empfindung von Mangelhaftigkeit. Immer mehr Teenager leiden an einer massiven Körperbildstörung (wie zum Beispiel an Anorexia nervosa).

   Das Schamgefühl ist anthropologisch als universell anzusehen, es ist nicht ein Resultat von bestimmten Epochen. Wie Menschen beschämt werden – hier sei an den kommerziellen Kult des perfekten body erinnert, ist historisch relativ als auch geschlechtsspezifisch. Die Geschlechterunterscheidung zum Schamverhalten zeichnet sich deutlich in unserer empirischen Untersuchung ab. Eine unserer Thesen lautete: Körperbild und Körperempfinden stehen in direktem Zusammenhang mit Scham. Wir befragten 523 BerufsschülerInnen aus Kärnten, davon waren 318 Jungen und 205 Mädchen. Anhand unserer empirischen Auswertungen von drei Fragebögen (HFS, FBeK und TSST) (3) pro Person bestätigte sich die These. Bei den befragten männlichen Jugendlichen herrschen Minderwertigkeitsgefühle vor, die sich primär auf deren Penis (Ausschauen wie Größe, Dicke, etc.) beziehen. Diese werden von uns als geschlechtsbedingte Scham bezeichnet. Für die befragten Mädchen führt die Scham, bezogen auf ihren ganzen Körper (wobei das weibliche Genital hier eine untergeordnete Rolle einnimmt), zu einem starken Gefühl von Minderwertigkeit. Das führen wir auf geschlechtsspezifische Sozialisierung zurück. Die befragten Jugendlichen gehen mit ihren Körpern überaus selbstkritisch um. Sie vergleichen ihre Körper ständig mit dem in unserer Gesellschaft geltenden Idealbild. Dieses künstlich generierte Ideal ist jedoch nicht zu erreichen. Insgesamt haben die weiblichen ProbandInnen eine höhere Schamschwelle, was auch mit einem niedrigeren Selbstwert einhergeht.

Scham ist ubiquitär. Selbst mit Angeboten wie "Die Scham ist vorbei" kann eine solche sich nicht überspielen lassen. Die Scham ist nach Hegel "eine Wirkung der Liebe"  und  "… dieses Zürnen der Liebe über die Individualität ist die Scham" (4). Die Scham wirft den liebenden Menschen ob seiner Unvollständigkeit auf sich selbst zurück. Minderwertigkeit bezogen auf Körpergröße (Brustumfang, Penis- sowie Scheidengröße), Hautfarbe, Adipositas etc. können Ansatzpunkte für das Gefühl sein, dem gegenwärtigen oder vorgestellten Liebesobjekt nicht auszureichen. Damit in Zusammenhang steht der Handlungsimpuls, der zur Scham dazugehört, entweder sich selbst oder Teile von sich selbst zu verbergen. Destruktive Folgen von starker Scham, wie etwa Wut und Zorn, können Amokläufe sein. Scham kann zu psychischen Krankheitsbildern führen wie zum Beispiel Dysthymie (vormals neurotische Depression) und Persönlichkeitsstörungen.

   Auf unsere Frage "Meinen Sie, dass gehemmte/unterdrückte Sexualität (in welcher Form auch immer) krank machen kann?" (TSST) ging hervor, dass weit über die Hälfte der befragten Lehrlinge der Meinung sind, dass dies möglicherweise krank machen kann.

Wie lässt sich Scham demnach transzendieren? Hierzu entwickelten wir ein "Schammodell":
 


   Das Modell besagt folgendes: Psychoanalytisch betrachtet geht es um die Überwindung einer narzisstischen Kränkung. Wird die Annäherung zwischen zwei Menschen im Namen der Liebe durch die Abweisung eines Individuums verhindert, führt das unmittelbar in seinem Widerpart zu Scham und Wut. Diese unmittelbare Haltung gilt es zu überwinden, um dadurch die Sicht darauf zu ermöglichen, dass diese schmerzliche Ablehnung in der unwiderlegbaren Individualität des anderen begründet liegt und in diesem Sinne akzeptiert und respektiert werden muss. Gelingt dieser Schritt, so hat man/frau auch unmittelbaren Zugang zum Gegenüber als ganzen Menschen gewonnen, und seine Abweisung wird zu einer Bestätigung der eigenen Menschlichkeit. Am Ende dieses Prozesses stehen zwei gleichwertige Individuen, denen es möglich ist, vernünftig und unmittelbar miteinander zu kommunizieren und dabei der Forderung der Aufklärung nachzukommen, das Gegenüber nie nur als Mittel für die eigenen Zwecke zu betrachten. Narzissmustheoretisch stellt der Humor eine der wenigen Chancen dar, aus den Schwierigkeiten der Kränkung herauszukommen.

In einer von uns dargestellten Clusteranalyse (Suchmethode) nach der Wart-Methode, wurde versucht Gemeinsamkeiten der zwei Testinstrumente (FBeK und HFS) zu finden.

Die fünf Cluster wurden wie folgt dargestellt:
 


Cluster 1: "Die Selbstbewussten"

Sie bilden die größte Gruppe, die sich selbst als durchschnittlich attraktiv bezeichnen und ein gesundes Selbstvertrauen aufweisen.

Cluster 2: "Die Durchschnittstypen"

Diese weisen in keiner der vier Skalen des FBeK Auffälligkeiten auf. Allerdings kämpfen sie mit ihren Schamgefühlen, da sie sich ständig mit den imaginären Idealbildern messen müssen.

Cluster 3: "Die Egoisten bzw. die Ichbezogenen"

Sie haben kaum eine Unsicherheit, eine Besorgnis sowie ein körperlich-sexuelles Missempfinden in Bezug auf ihren Körper. Sie haben ein hohes Selbstwertgefühl und sind jene Gruppe, die es scheinbar geschafft hat, dem vorgestellten Schönheitsideal am nächsten zu kommen, was mit einem geringen Schamverhalten zusammenhängt.

Cluster 4: "Die Opfer"

Diese bildet vergleichsweise eine relativ kleine Gruppe mit 7 Personen, wobei 5 Probandinnen im Fragebogen TSST auf die Frage "Sind Sie in Ihrer Kindheit zu sexuellen Handlungen angehalten worden?" mit "ja" antworteten. Dies kommt mit einer relativ großen Unsicherheit und einer Besorgnis sowie mit einem körperlichen-sexuellen Missempfinden zum Ausdruck. Diese Gruppe dominieren Mädchen.

Cluster 5: "Die Schamhaften"

Diese Gruppe setzt sich vorwiegend aus den befragten weiblichen Jugendlichen zusammen. Sie besitzen einen gesunden Egoismus, der eine außerordentliche Gewichtung des Erscheinungsbildes des eigenen Körpers mit sich bringt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Mädchen extrem stark auf Nacktheit reagieren, die nicht nur auf das weibliche Geschlechtsorgan bezogen ist, hingegen die Burschen auf die Genitalscham mit höheren Schamrohwerten reagieren. Somit läuft die weibliche Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit Gefahr, durch Eigen- und Fremdabwehr zu erkranken.

"Geliebt wirst du einzig dort, wo du schwach dich
zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren." (Adorno)


Anmerkungen

(1) Odreitz, Klaudia (2002): Nacktheit - ein Menschenrecht, das erkämpft werden muss? Anmerkungen zu einer durchaus widersprüchlichen Situation. Dissertation an der Alpen-Adria-Universität 2002, Klagenfurt

(2) Odreitz, Klaudia, Obersteiner, Mario (2007): Sexualwissenschaftliche Untersuchung zu Sexualität, Scham, Nacktheit, Körperbild und Selbstwert von Jugendlichen im Alter von 15 Jahren bis 20 Jahren, Dissertation an der Alpen-Adria-Universität 2007, Klagenfurt

(3) HFS = Heidelberger Fragebogen zu Schamgefühlen, FBeK = Fragebogen  zur Beurteilung des eigenen Körpers, TSST = Abgewandelter Fragebogen zur Sexualität von Odreitz und Obersteiner

(4) Hegel, G.W.F. (1986): Frühe Schriften, Werke 1, Suhrkamp, Frankfurt/Main. S. 247


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