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Wege zur Verständigung
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Ein Plädoyer für das Sprechen- und Artikulierenlernen von Gehörlosen

Lautsprachliche Kommunikation öffnet Gehörlosen die Tore zu Berufen auch in nicht
geschützten Umfeldern und ermöglicht so eine bessere und leichtere Integration.

Von Kristin Teuchtmann
(01. 09. 2007)

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   Dass Gehörlose, früher als "Taubstumme" bezeichnet, nicht "stumm" sind, davon konnte ich mich schon in sehr jungen Jahren überzeugen. Als Dreijährige betrat ich vielleicht zum ersten Mal bewusst die Landeslehranstalt für Hörgeschädigte in Linz, an der meine Mutter als Lehrerin beschäftigt war. Ein wenig scheu und überrascht stellte ich fest, dass es hier nicht ruhig oder still war, nein, es war sogar wesentlich lauter als in meinem Kindergarten. Doch nicht nur an den Geräuschpegel, auch an die Andersartigkeit der Geräusche musste man sich gewöhnen. Sie flößten mir anfangs Angst ein und trieben mich in die sicheren Arme meiner Mutter: tiefe Laute, manchmal unkontrolliert und für den Außenstehenden nicht verständlich, dann wieder hohe, gellende Schreie, und alles vermischt mit den Geräuschen von Stiegen steigenden und herumschlurfenden Hausschlapfen und sich immerfort bewegenden Händen. Denn auch Hände sind nicht lautlos. Meist wird das Gestikulieren von Lauten begleitet, die die Gestik unterstreichen oder für einen nicht-tauben Zuhörer eine Verständniserleichterung bringen sollen.

Meine Schwester und ich waren in diese Schule gekommen, weil wir mit den gehörlosen Schülern und Schülerinnen meiner Mutter ins Landestheater gehen durften, in eine Benefiz-Märchenaufführung, auf die wir uns recht freuten. Wir verschwendeten keinen Gedanken daran, wie wohl die eigentlichen Nutznießer diese Veranstaltung erleben würden lautlos und ohne die Furcht einflößende Stimme der Hexe? Würden die Kinder dennoch wissen, dass Hänsel und Gretel der Hexe nicht trauen dürfen? Natürlich, denn sie sah böse aus, hatte eine lange Nase mit einer dicken Warze drauf und eine falsche schwarze Katze auf ihrem Buckel, die ein wenig zu eigenmächtig nach vorne und nach hinten schwankte. Jedes Mal schrieen die Schüler und Schülerinnen aus Angst, sie würde herunterfallen.

   Von nun an durften wir jedes Jahr mit in die Theateraufführung und auch zu anderen außerordentlichen Schulveranstaltungen. Einmal traten sogar Waterloo und Robinson auf und sangen für die Schüler und Schülerinnen eine eigentümliche Veranstaltung in Anbetracht des Publikums, das ja vorwiegend aus gehörlosen Kindern und Jugendlichen bestand.

Besonders zu den Schülern meiner Mutter hatten wir ein engeres Verhältnis, sie kamen uns manchmal zuhause besuchen. Wenn sie uns in der Stadt sahen, grüßten sie uns und in den Sommerferien gingen manche sogar mit uns baden. Besonders vertraut waren sie uns aber nie. Je älter meine Schwester und ich wurden, umso mehr begannen wir uns aber mit ihnen zu verständigen. Wir versuchten langsamer und klarer zu sprechen, damit sie leichter von unseren Lippen ablesen konnten. Mit manchen, vor allem mit den Schwerhörigen oder den erst später Ertaubten, gelang dies leicht. Doch meine Mutter unterrichtete hauptsächlich völlig gehörlose Kinder und mit ihnen war das Sprechen und vor allem das Verstehen schwieriger.

Dass es jedoch überhaupt zu einem Austausch kam, verdankt sich der Tatsache, dass meine Mutter wie auch viele ihrer Kollegen und Kolleginnen –, bis heute eine starke Unterstützerin der Lautspracherziehung ihrer Schüler geblieben ist. Diese Stunden, die meist im Einzelunterricht und vor einem Spiegel erfolgen, zählen für den Schüler wie auch für den Pädagogen zu den anstrengendsten und schwierigsten. Buchstaben und Diphtonge auszusprechen, die man selbst nicht hören kann (und nur an verschiedenen Orten im Mund, an den Lippen, am Hals oder auf dem Kopf, wie zum Beispiel das "i", fühlt), muss erlernt werden wie eine neue Sprache, ohne sich dabei auf eine Ausgangssprache, eine Mutter- oder Vatersprache, stützen zu können. Jedes Wort, das verständlich artikuliert wird, ist ein Erfolg, selbst wenn dieses bis zur nächsten Stunde wieder vergessen oder verloren ist. Oft hören sich die Wörter und Sätze anders an, haben fehlerhafte Betonungen und sind ohne Sprachmelodie aber man versteht sie.

   Als wir 1986 gemeinsam mit meiner Mutter den amerikanischen Film "Gottes vergessene Kinder" (im Original "Children of A Lesser God") anschauten, wurde sie wütend über die verkitschte Lösung eines Problems: Die gehörlose Protagonistin Sarah verweigert das Sprechen, aber tatsächlich handelt der Film eben nicht vom Sprechen oder vom Erlernen des Artikulierens, sondern ausschließlich vom Deuten und der stillen Gestik. Nicht nur in den meisten US-Schulen wird ausschließlich die Zeichensprache als Kommunikationsmittel verwendet, auch in Wien sehe ich immer mehr "stumm" werdende Hörgeschädigte, die keine Geräusche mehr von sich geben und sich  ausschließlich still mit den Händen verständigen. Dafür können sich KindergärternInnen und LehramtsstudentInnen mit der Absolvierung eines Zeichensprachenkurses profilieren.

Neben der Schwierigkeit, das Sprechen zu erlernen und der harten Arbeit von Seiten der Lehrenden und des Lerners, die wohl der Hauptgrund für die schwindende Zahl an sprechenden Gehörlosen ist, könnte auch die stetige Perfektionierung unserer Produktwelt Schuld an der Misere tragen. Wenn in einer Handywerbung das Flöte spielende Mädchen gegenüber der Handymusik dudelnden Zwillingsschwester den Kürzeren zieht und ausgelacht wird, dann kann man verstehen, dass gehörlose Menschen ihre strapaziösen Sprach- und Artikulierversuche verstummen lassen und lieber auf die altbewährte Zeichensprache oder auf die ihnen bereits vertraute SMS- und E-Mail-Kultur zurückgreifen. Das Ausmaß dieses Verlusts liegt auf der Hand: Mit dem Nicht-Sprechen-Können und teilweise auch Nicht-mehr-von-den-Lippen-ablesen-Können wird der Taube wieder zu einem "Taubstummen", der nur in seiner Welt unter Menschen mit derselben Behinderung leben kann.

   Dass sich die meisten Schüler und Schülerinnen meiner Mutter gegenüber lautsprachlich verständigen konnten, öffnete ihnen Tore zu Berufen auch in nicht geschützten Umfeldern. Sie machten Ausbildungen und fanden Anstellungen, in denen sie sich profilieren konnten nicht zuletzt aufgrund ihrer Fähigkeit zu sprechen, zu kommunizieren, wenn auch nicht fehler- und problemfrei. Die Zeichensprache wird sicherlich ihr erstes Verständigungsmittel bleiben. Dennoch ist der Schritt in die Mehrsprachigkeit entscheidend, die heutzutage auch in anderen Bereichen zu den grundlegenden Erfolgskriterien zählt.
 


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