Aromaschutzverpackung öffnen
Franz Lehárs Operette
"Das
Land des Lächelns" wimmelt von Personal, das man heute
gewissermaßen nur mehr im Museum bewundern kann: Grafen, Generälen und
Eunuchen. Eine Figur aber ist in ihrer Neu- und Lebensgier, Weltoffenheit
und adoleszenten Naivität vollkommen heutig: Lisa.
Wasser aufsetzen
Die Abenteuerlustige
interessiert besonders die Welt des chinesischen Prinzen Sou-Chong, der ihr
als Zeichen seiner Gunst einen goldenen Buddha überbringen lässt. Die beiden
kennen sich von öffentlichen Veranstaltungen, wo die Konventionen und
Überwachungsmechanismen freilich keinen Raum gewähren für Annäherung und
Intimität. Gleichwohl hat Lisa im äußerlich sehr gemessenen Sou-Chong ein
seelisches Beben ausgelöst, dessen Eruptionen in seinem Entree
"Immer nur lächeln" spürbar werden. Es nützt
wenig, dass er dabei seinem Herzen befiehlt, nicht so stürmisch zu klopfen,
und die Flucht in die ihm kulturell vertraute Innerlichkeit antritt. Die
Sehnsucht bahnt sich ihren Weg nach draußen, und auch die Musik kündet von
ihr.
Zum Sieden bringen, Blätter
hinzugeben
Bei der ersten privaten
Begegnung packt Lisa die Gelegenheit beim Schopf und lädt den Prinzen auf
ein Tässchen Tee ein. Das anschließende Duett ist eine Schlüsselszene, in
der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ereignen und die Weichen für
den weiteren Handlungsverlauf gestellt werden:
Sou-Chong und Lisa sind in
der freien Natur, die Regeln des Salons gelten hier nur bedingt. Nie zuvor
sind sie sich körperlich so nahe gewesen – und sie wähnen sich unbeobachtet.
Luftig gekleidete Mädchen treten aus dem Schatten der Bäume und reichen
ihnen Hocker, auf denen sie sich niederlassen und den Tee einnehmen. In den
Teedämpfen, die das beginnende Liebespaar einer Blase gleich umschließen,
werden alle Sinne wach, Zeiten und Räume fließen in eins und die Umwelt
beginnt sich zu verflüchtigen. Sou-Chong fühlt sich an seine Vergangenheit
erinnert: "In dem Aroma liegt der weiche Duft aus
meinem Heimatland, so wunderbar." Auch entdeckt er mit Freude, dass das
Teegeschirr aus China-Porzellan gefertigt ist, die Blumenverzierung ähnelt
der Vegetation in seiner Heimat.
Abwarten
Gegenwart stellt sich ein,
wenn sich in seiner Wahrnehmung der aus Kindertagen vertraute Duft
"mit der lieben Wiener Luft und mit dem süßen
Hauch" von Lisas Haar verbindet. Die Zukunft indes schimmert, einem
Versprechen gleich, in den Farben des Märchens: "Wie
ein Liebespärchen, Prinz und Märchenfee bei einem Tee à deux", singt
Sou-Chong über sich und Lisa. Was die beiden einander und der Welt noch
nicht eingestehen wollen, wird in Form einer märchenhaften Liebesgeschichte
sagbar. "Es ist exotisch wie ein Roman: die
Europäerin! Ein Mandarin!", bemüht auch Lisa die Welt der Fiktion, womit
bereits die Brüchigkeit dieses Glücks angedeutet ist …
Den Duft genießen
"Galant",
"charmant", "apart",
"exotisch", "erotisch",
so lauten Lisas Beschreibungen des chinesischen Prinzen. Diese Adjektive
gruppieren sich um das Thema "Verführung", sie
akzentuieren die von ihr erwünschte Note der kulturellen und habituellen
Andersartigkeit, die in Opposition steht zur banalen, unaufgeregten Welt der
Wiener Männer und ihres Jugendfreundes Gustl. Umgekehrt ist Lisa für
Sou-Chong ein nicht minder verlockendes Geschöpf, das er in Bildern des
Rausches und Weggetreten-Seins zu fassen sucht: "Sie
hat mich verzaubert, sie hat mich betört, wie Haschisch, wie purpurner
Wein." Er gesteht ihr:
"Ich bin entzückt, ich bin
beglückt, wenn ich Sie seh, und besser schmeckt mir noch als Sekt das
Tässchen Tee. (…) Wenn man mit Ihnen ganz allein Gedanken tauscht, dann
braucht man nicht Likör noch Wein und ist berauscht."
Noch nicht kosten
Das angesprochene Prickeln
beim Gedankentausch ist bemerkenswert, weil hier die Grenze abgesteckt wird,
wie weit das Paar zum Zeitpunkt des Tee à deux zu gehen bereit ist. Der
Flirt ist noch keine erfüllte Liebe, die Verbindung noch nicht sozial
anerkannt. Sämtliche Sinnesbereiche kommen im Duett zur Sprache – bis auf
den Tastsinn. Das hat seine Logik, denn im verbalen Durchspielen des
zukünftigen Glücks ("Prinz und Märchenfee")
vollzieht sich, unterstützt von synästhetischen Wendungen wie
"süße Näh", eine sexuelle Vereinigung in Worten
und Gesten – nicht in der Tat.
Tasse vorwärmen
Diese uneigentliche
Vereinigung erinnert an eine berühmte Szene in Thomas Manns 1902
entstandener Erzählung "Tristan", in der die
schwindsüchtige Gabriele Klöterjahn während einer Ausfahrt der
Sanatoriumsbewohner vom ebenfalls daheim gebliebenen Ästheten Detlev Spinell
verleitet wird, sich ans verbotene Klavier zu setzen. Spinell reicht der
Verehrten den Klavierauszug von Wagners "Tristan
und Isolde" und diese wählt das Sehnsuchts-, dann das Liebesmotiv:
"Sie
spielte mit preziöser Andacht, (…) hob demütig (…) das Einzelne hervor,
wie der Priester das Allerheiligste über sein Haupt erhebt. (…) Zwei
Kräfte, zwei entrückte Wesen strebten in Leiden und Seligkeit
nacheinander und umarmten sich in dem verzückten und wahnsinnigen
Begehren nach dem Ewigen und Absoluten".
Am
Ende dieser musikalisch-gedanklichen Ekstase fällt Spinell vor Gabriele
Klöterjahn auf die Knie.
Zucker bereitstellen
Das Klavierspiel von
Frauen steht in der Fin-de-Siècle-Literatur auffällig oft in Zusammenhang
mit (sublimierter) Sexualität. Vom Teetrinken kann das weniger häufig
behauptet werden. Es begegnet in den verschiedensten Ausformungen: als "Mad
Tea Party" von Märzhase, Hutmacher und Haselmaus in Lewis Carrolls "Alice im
Wunderland", als durch Blausäure getrübtes Vergnügen in unzähligen
Kriminalerzählungen wie etwa Roald Dahls "Die Wirtin" oder bei Heinrich
Heine im "Buch der Liebe", wo es den Rahmen für spöttische
Gesellschaftskritik liefert:
Sie
saßen und tranken am Teetisch und sprachen von Liebe viel. Die Herren, die waren ästhetisch,
die Damen von zartem Gefühl.
Wohlfühlklima erzeugen
Die Tee-Zeremonie Gong
Fu Cha in China dagegen hat einen anderen Charakter:
"Man trinkt den Tee, um den Lärm der Welt zu vergessen", lautet ein
Spruch des chinesischen Gelehrten T’ien Yiheng. Das gilt in noch stärkerem
Maße für das Tee-Ritual in Japan, den chadô, das eigentlich besser
mit Tee-Weg übersetzt wird und ein Naheverhältnis zum Zen aufweist.
Eine gewisse Seinsvergessenheit muss man auch Lisa und Sou-Chong
bescheinigen, wenn sie
ihren Tee einnehmen, aber sie beruht nicht auf innerer
Sammlung. Lisa will mit ihrer Einladung zum Tee keineswegs Sou-Chongs Durst
stillen oder ihm zu spiritueller Erkenntnis verhelfen. Das Teetrinken ist
nur ein Vehikel, um einander nahe zu kommen, der Durst dahinter von ganz
anderer Art. Insofern ist man geneigt, Lisas Einladung als eine Geste der
Uneigentlichkeit zu klassifizieren, gleichfalls die anschließenden Worte im
Duett. Es sind verklausulierte Handlungen, die ebenso wie das maskenhafte
Lächeln "trotz Weh und tausend Schmerzen" die
wahren Beweggründe hinter der Oberfläche verbergen.
Besucher zu Tisch bitten
Gäste werden in China zum
Zeichen der Wertschätzung immer mit Tee bewirtet. Interessanterweise war die
Fähigkeit, guten Tee zuzubereiten, früher ein wichtiges Kriterium bei der
Auswahl künftiger Schwiegertöchter, wie überhaupt Tee als symbolische Gabe
bei Hochzeits- und Verlobungsbräuchen eine wichtige Rolle spielte. Die
Verlobungsgeschenke der Han-Chinesen heißen noch heute "Teegeschenke".
Vor diesem Hintergrund könnte das Tee-à-deux-Duett im "Land des Lächelns"
als erste Liebeserklärung bzw. heimliche Verlobung gewertet werden, die im
Finale des ersten Aktes im Kuss und in Lisas Entscheidung gipfelt, ihrem
Geliebten nach China zu folgen.
Gebrauchsanweisung lesen
Einmal mehr ist Lisa damit
als selbstbestimmter Typ gezeichnet – ein Charaktermerkmal, das den
zurückhaltenden, völlig anders sozialisierten Sou-Chong fasziniert. Er
selbst fügt sich, noch in Wien, trotz Verliebtheit bereitwillig der Order,
heimzukehren, um mit der Verleihung der Gelben Jacke ein wichtiges
Herrschaftsamt im Staate anzutreten. Die prunkvolle Zeremonie mit seinem
Onkel Tschang als Zeremonienmeister gleicht einer Initiation, bei der der
Prinz "ein Anderer" wird. Mircea Eliade schreibt:
"Um
berechtigt zu sein, unter die Erwachsenen aufgenommen zu werden, muss
der junge Mensch eine Reihe von Initiationsprüfungen bestehen: dank
dieser Riten und der Offenbarungen, die sie in sich schließen, wird er
als verantwortungsvolles Glied der Gesellschaft anerkannt. Die
Initiation führt den Novizen in die menschliche Gemeinschaft und
gleichzeitig in die Welt der geistigen Werte und Begriffe ein."
Nebenwirkung beachten
In seiner neuen
Machtposition ist Sou-Chong mehr denn je Diener des Staates, welcher in
China stärker noch als in Wien in Zeremoniell und Hierarchiedenken erstarrt
ist. Als man ihm die traditionelle Heirat von vier Mandschu-Mädchen
abverlangt, weigert er sich zunächst mit Hinweis auf seine bestehende
Verbindung. Schließlich aber fügt er sich, indem er den Ritus als
"bedeutungslos" abtut. In diesem entscheidenden
Moment verrät er Lisa, der er seine alleinige Liebe zugesichert hat, und
damit ihre gemeinsame Liebe. Seine Schwüre erweisen sich als
Lippenbekenntnis, er selbst als eine fremdbestimmte Marionette, auf die im
Notfall nicht zu zählen ist. Lisa bleibt nur mehr die Flucht. Der Staat hat
über das Persönliche gesiegt.
Kann bei übermäßigem Konsum abführend wirken
Auch bei den Buffo-Figuren
fordert die Kontinente umspannende Liebesverwicklung ihre Opfer: Sou-Chongs
Schwester Mi bleibt ohne ihren Schwarm Gustl, der mit Lisa geht, in China
zurück; so erfährt Sou-Chongs und Lisas Schicksal gewissermaßen eine
Spiegelung. Das konventionell geforderte Lachen gefriert zur Maske:
"Schau mein Gesicht, ich weine nicht", bemerkt
Sou-Chong zu Mi. "So hat es Buddha gelehrt. (…)
Lass uns zu zweit tragen das Leid, tragen in Demut den Schmerz!" Vom Ritual
zu Maskenhaftigkeit ist es eben nur ein kleiner Schritt.
Genießen oder wegschütten
Das resignative Stückende
und die Dramaturgie nach der Logik des Verzichts haben wesentlich zum Erfolg
der Operette beigetragen. Lehár zeigte sich erleichtert, anders als in der
Erstfassung ("Die gelbe Jacke") nun ohne die "Lüge
des Happy Ends" auszukommen. Vorrangig reagierte er mit der Neubearbeitung
wohl auf geänderte Rezeptionsbedingungen: "Nach
den durch Nachkriegswirren und Inflation gekennzeichneten frühen, kommt mit
den stabilisierten Verhältnissen der späten zwanziger Jahre dieses Bedürfnis
nach 'Inwendigem' auf",
schreibt Lehár-Biograph Stefan Frey.
"Die
Psychologie der Lyrischen Operette [somit von 'Das
Land des Lächelns'] führt vom Realen ins Unbewusste, von der Außenwelt
in eine Innenwelt, deren ungestörte Gehalte die Musik repräsentiert. (…)
Zerbricht schließlich der Glückszustand des Protagonisten am
'Realen', das in die
Handlung eindringt, wird dieses Scheitern als Verzicht erklärt. Die
Identifikation wird dadurch nicht gestört, da jenes 'Reale'
ohne echten Realitätscharakter für das Publikum ist –
'entpolitisiert, vermenschlicht und von aller überflüssigen
Historie gereinigt.'"
Auf bald!
Den Gegenwartsbezug an das
"Land des Lächelns" heranzutragen, ist die
reizvolle Aufgabe einer jeden mutigen Regie. Denn auch und gerade in Zeiten
zunehmender Vernetzung und Durchdringung kultureller Räume bleibt die Liebe
eine ständige Herausforderung.
Gekürzt erstpubliziert im
Programmheft zu "Das Land des Lächelns", Volksoper Wien, Saison 2007/08.
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