Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
"Das Pendeln zwischen Realität und Fiktion hat mich
immer herausgefordert"

Gianina Cărbunariu, 1977 geboren, ist eine der bekanntesten Stimmen
des rumänischen Theaters. Seit 2004 arbeitet sie europaweit als Regisseurin und
Dramatikerin, unter anderem an Theatern in London, Madrid, Bologna, Stockholm, München
und Berlin. Ihre Arbeiten wurden auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt, etwa
dem Festival d’Avignon, den Wiener Festwochen, dem New Drama Festival in Moskau und
dem Festival TransAmériques in Montreal. Sie erhielt diverse Auszeichnungen für ihre
Regie und Dramatik. Ihre Stücke, die sich vorwiegend sozialpolitischen Themen im
europäischen Kontext widmen, wurden vielfach übersetzt. Cărbunarius Produktionen
hatten schon immer eine starke politische Dimension, und ihre Gesellschaftskritik ist
eine der stimmigsten und komplexesten unter den Werken rumänischer
Künstler der
"Zwischengeneration".

Von Irina Wolf
(18. 01. 2025)

...




(c) Sorin Tanase

Gianina Cărbunariu
 

 

 

 

"Ich probe gerne im Thea-
ter, weil dies eine Zusam-
menarbeit und einen stän-
digen Gedankenaustausch
mit allen Teammitgliedern bedeutet, aber wenn ich
nur im Proberaum bleiben
müsste, hätte ich wahr-
scheinlich nicht weiter
Regie geführt.
"

 

 

 

 

Buchhinweis

Modreanu, Cristina.
"
Gianina Cărbunariu, the
Director-Playwright"
The Routledge Companion to
Contemporary European
Theatre and Performance.
UK. Edited by Ralf Remshardt,
Aneta Mancewicz, 2023.

 

 

 

 

 

"Ich bin daran interessiert,
dass sich ein Schauspieler
oder eine Schauspielerin
vom Thema des von mir
vorgeschlagenen Projekts
angezogen fühlt, sich offen
für einen Dialog zeigt,
Meinungen vertritt, die
ich mit Argumenten unter-
mauern kann und somit
in den Prozess eingebun-
den wird."

 

 

 

 

 




 

"Der Arbeitsprozess mit
internationalen Teams ist
immer spannend: Jeder
Teilnehmer muss die Kom-
fortzone verlassen, alle
Antennen ausfahren, eine
gewisse Aufmerksamkeit
und Geduld mitbringen,
aber die gesamte Anstren-
gung wird durch die Freude
an gemeinsamen Erkun-
dungen belohnt."

 

 

 

 

 

 

"Während der Pandemie
zeigten wir Shows an der
Theaterfassade, die von
Tausenden von 'Gelegen-
heitszuschauern' bewundert
wurden. Wir haben junge,
talentierte Grafikdesigner
und Bühnenbildner ein-
geladen, die visuelle Iden-
tität des Theaters neu zu
erfinden. Alle Projekte
wurden mit einem kleinen
Team realisiert, das enorme
Arbeit geleistet hat."

 

 

 

 

 

 

"Regelmäßig kam es zu
von Politikern verursachten
Skandalen, die über
bestimmte kuratorische
Entscheidungen empört
waren."

Irina Wolf: Von Beginn Ihrer Karriere an haben Sie sich auf Inszenierungen der von Ihnen verfassten Texte konzentriert. Ihre Arbeiten basieren auf Interviews oder Archivrecherchen zu aktuellen sozialpolitischen Themen sowie zu offenen Fragen, die mit der rumänischen und europäischen Vergangenheit in Zusammenhang stehen. Warum haben Sie diese Arbeitsweise ausgewählt?

Gianina Cărbunariu: Der Hauptgrund liegt darin, dass ich mich von bestimmten Begegnungen, von Recherchen, vom Untersuchungsprozess des Sachverhalts in verschiedenen Epochen und Orten, von Interviews und Dokumentenprüfung inspiriert fühle. Ich probe gerne im Theater, weil dies eine Zusammenarbeit und einen ständigen Gedankenaustausch mit allen Teammitgliedern bedeutet, aber wenn ich nur im Proberaum bleiben müsste, hätte ich wahrscheinlich nicht weiter Regie geführt. Dieses Pendeln zwischen Realität und Fiktion hat mich immer herausgefordert – zumal das Endergebnis eine Fiktion ist. Ich mache kein Dokumentartheater, obwohl die Recherche ein wichtiger Teil des Arbeitsprozesses ist, vielleicht die längste. Manchmal dauern die Dokumentationsphasen monatelang bis zu einem Jahr, während die Proben sich normalerweise nicht über die für eine Produktion vorgesehene Standardzeit von 6 bis 8 Wochen erstrecken. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für die Proben. Auf jeden Fall ist die von mir gewählte Arbeitsweise sehr intensiv. Sie gibt mir die Möglichkeit, bestimmte gesellschaftliche Fragen auf persönliche Art zu formulieren und meine künstlerischen Ausdrucksmittel neu zu erfinden. Jedes Projekt ist verschieden, weil ich an jedes Thema anders herangehe. Es ist so, als würde ich immer bei Null anfangen. Es ist wie eine Reise, bei der es einen Entwurf gibt, aber immer unbekannte Bereiche, Nuancen und neue Perspektiven auftauchen.

Irina Wolf: Was interessiert Sie am meisten an der Arbeit mit Schauspielern?

Gianina Cărbunariu: Ich habe sowohl im In- als auch im Ausland mit Schauspielern jeden Alters zusammengearbeitet, mit jungen Absolventen, aber auch mit Schauspielern, die bereits eine bemerkenswerte Karriere hinter sich hatten. Ich bin immer beeindruckt von Menschen, die großen Respekt vor dieser nicht einfachen Tätigkeit haben, die Teamgeist und Großzügigkeit gegenüber den anderen Mitarbeitern – sowohl Künstlern als auch Technikern – zeigen. Ich bin daran interessiert, dass sich ein Schauspieler oder eine Schauspielerin vom Thema des von mir vorgeschlagenen Projekts angezogen fühlt, sich offen für einen Dialog zeigt, Meinungen vertritt, die ich mit Argumenten untermauern kann und somit in den Prozess eingebunden wird. Nicht selten sind seine/ihre in Improvisationen besprochenen Lebenserfahrungen Teil der Inszenierung. Dann wird die Produktion noch mehr "ihre", "unsere".

Irina Wolf: 2014 waren Sie mit Solitaritate, einer Koproduktion des Nationaltheaters "Radu Stanca" aus Hermannstadt (Sibiu) und des Avignon-Festivals in Avignon vertreten. Nach Silviu Purcărete in den Jahren 1992-1993 war es die erste Präsenz eines rumänischen Künstlers im offiziellen Festivalprogramm (im IN). Wie hat Sie das geprägt? Welche weiteren Erfahrungen oder internationalen und nationalen Begegnungen haben Sie bzw. Ihren Arbeitsstil beeinflusst?

Gianina Cărbunariu: Das Avignon-Festival bringt Theaterleute aus der ganzen Welt zusammen und verschafft den Künstlern im IN große Sichtbarkeit. Für jemanden wie mich, die lange Zeit in der freien Szene "am Rande" des rumänischen Theatersystems gearbeitet hat, bedeutete es auch eine Bestätigung, die in Rumänien schwieriger zu erlangen war. Die Entscheidung, "am Rande" zu arbeiten, war in meinem Fall kein Zufall. Ich glaube nicht, dass mich das Avignon-Festival besonders geprägt hat. Es hat meine Arbeitsweise nicht beeinflusst, aber es war definitiv ein Moment wichtiger Begegnungen für eine junge Künstlerin, und diese Verbindung mit dem Festival blieb bestehen. Ich kehrte zurück ins IN in eine Folgeausgabe des Festivals als Autorin des Textes The Tigress, der von einer schwedischen Theatergruppe am Royal Dramatic in Stockholm aufgeführt wurde.

Da ich mich viele Jahre lang dafür entschieden hatte, parallel zum staatlichen Theatersystem in Rumänien tätig zu sein und dabei Unabhängigkeit zu gewinnen, war es wichtig, meine Arbeiten stets einem internationalen Publikum zu präsentieren. Und ich hatte diese Chance, direkt nach Abschluss meines Regiestudiums an vielen renommierten Theatertourneen oder Festivals teilzunehmen, wie etwa in Ungarn, Frankreich, Polen, der Slowakei, Slowenien, Russland, Kanada, Portugal, Spanien, Österreich, Belgien, Deutschland, England, Griechenland, der Schweiz, Tschechien, Serbien usw. Die erste Erfahrung machte ich in meinem letzten Studienjahr, als ich 2004 mit Stop the Tempo, einer von mir geschriebenen und inszenierten Produktion zur Biennale "New Plays from Europe" eingeladen wurde. Ich kehrte auch in den folgenden Auflagen zurück, entweder als Künstlerin mit einer eigenen Inszenierung oder als "Patin" – d.h. als rumänische Beraterin der deutschen Kuratoren. Diese Biennale europäischer Dramaturgie, die fast ein halbes Jahrhundert lang existierte (zuerst in Bonn und dann in Wiesbaden), war wahrscheinlich das interessanteste Theaterfestival, das ich je besucht habe, mit einem äußerst mutigen und großzügigen kuratorischen Konzept. Die Biennale beeinflusste mich durch Treffen mit anderen Künstlern und war auch ein Vorbild für meine zukünftige Kuratorenarbeit.

Weitere relevante Erfahrungen sammelte ich in europäischen Projekten, an denen ich beteiligt war: als Künstlerin ("Cities on Stage/Villes en Scène"-Projekt", "BeSpectative", "Hunger for Trade", "For Sale"), als Künstlerin und Co-Produzentin ("Parallel Lives – 21st Century Through the Eyes of Secret Police") und in den letzten Jahren als Produzentin und Mitglied des künstlerischen Projektausschusses ("Unlock the City!" und "Future Laboratory"). Jedes dieser Projekte bedeutete einen Gedankenaustausch mit Künstlern und Kuratoren aus verschiedenen Ländern, aus verschiedenen Generationen, mit Experten aus verschiedenen Gebieten, mit Menschen und Realitäten. Es bedeutete auch den Aufbau beruflicher und menschlicher Verbindungen, die mir Hoffnung gaben, etwas gemeinsam aufbauen und sich gegenseitig unterstützen zu können. Ich weiß nicht, ob diese Kooperationen meinen Arbeitsstil direkt beeinflusst haben, aber der Dialog, die Konfrontation von Perspektiven, die unterschiedlichen Herangehensweisen haben mir auf jeden Fall geholfen, meinen Horizont zu erweitern und mir immer wieder neue Fragen zu stellen.

Ich denke, dass mich die Arbeit mit internationalen Teams, deren gemeinsame Sprache, Englisch oder Französisch ist, immer inspiriert. So wie bei den Produktionen, die ich als Regisseurin an Theatern in Deutschland, Spanien, Italien oder Polen gemacht habe, als ich mit Schauspielern aus diesen Ländern und mit internationalen Kooperationspartnern (Bühnenbildnern, Musikern, Choreografen, Dramatikern) gearbeitet habe. Der Arbeitsprozess ist in diesem Zusammenhang immer spannend: Jeder Teilnehmer muss die Komfortzone verlassen, alle Antennen ausfahren, eine gewisse Aufmerksamkeit und Geduld mitbringen, aber die gesamte Anstrengung wird durch die Freude an gemeinsamen Erkundungen belohnt. Ich arbeite gerne an Produktionen in Sprachen, die ich nicht spreche, weil es ein Prozess ist, der eine andere Art von Fokus erfordert.

Irina Wolf: Nach sieben Jahren als Leiterin des Jugendtheaters (TT) in Piatra Neamţ haben Sie diese Position aufgegeben – ein äußerst seltener Fall in der rumänischen Theaterszene. Wie würden Sie rückblickend Ihre siebenjährige Tätigkeit in Piatra Neamţ beschreiben?

Gianina Cărbunariu: Es war eine wichtige Etappe für mich, vor allem, da ich in die Stadt zurückkehrte, in der ich geboren bin: TT ist der Ort, an dem ich das Theater entdeckt habe, und dieser Erfahrung habe ich viel zu verdanken. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas zurückgeben muss. Es war nicht einfach, aber ich glaube, ich habe fast alles geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Ich betrachtete diese Arbeit vor allem als ein künstlerisches Projekt: der Institution eine künstlerische Ausrichtung zu verleihen durch zeitgenössische, kollaborative, gemeinschaftliche, nationale und internationale Koproduktionen. Gleichzeitig ein Theaterfestival zu kuratieren, das Begegnungen ermöglichtzwischen lokalen Zuschauern und Künstlern sowie zwischen Theaterleuten aus dem In- und Ausland mit unterschiedlichen künstlerischen Ansichten und diversen Weltanschauungen. In dem von mir geleiteten Theater habe ich in sieben Jahren nur zwei Mal inszeniert, da meine Aufgabe darin bestand, anderen rumänischen oder ausländischen, insbesondere aufstrebenden Künstlern, einen Raum zum Ausdruck zu bieten.

Zusätzlich zur Theatersaison und zum Festival haben wir zahlreiche Programme sowohl in Piatra Neamţ als auch in der umliegenden Region realisiert, wobei in vielen Projekten wirtschaftlich und sozial benachteiligte Kategorien von Menschen einbezogen wurden. Während der Pandemie zeigten wir Shows an der Theaterfassade, die von Tausenden von "Gelegenheitszuschauern" bewundert wurden. Wir haben junge, talentierte Grafikdesigner und Bühnenbildner eingeladen, die visuelle Identität des Theaters neu zu erfinden. Alle Projekte wurden mit einem kleinen Team realisiert, das enorme Arbeit geleistet hat, mit sehr bescheidenen Budgets und in einem konservativen, oft sogar feindseligen politischen Kontext. Regelmäßig kam es zu von Politikern verursachten Skandalen, die über bestimmte kuratorische Entscheidungen empört waren, von denen sich einige sogar der Theaterpädagogik widmeten. Als Gewinn dieser hitzigen öffentlichen Diskussionen ist das Eingreifen der Theaterbranche zu verzeichnen. Auch kam die Solidarität anderer Künstler (Schriftsteller, bildende Künstler, Musiker, Choreografen) und des jungen Publikums aus Piatra Neamţ zum Ausdruck. So haben wir bewiesen, dass man dem Druck der Politik widerstehen kann.

Mein Ansatz basierte auf der Idee, "am Rande" des rumänischen Theatersystems, aber in Zusammenarbeit mit wichtigen europäischen Institutionen in Projekten zu arbeiten, die der Gemeinde Piatra Neamţ gewidmet sind: dem Postwest-Projekt (initiiert von der Volksbühne Berlin), dem "Unlock the City!"-Projekt (Projektleiter: Piccolo Teatro Milano) oder "Zukunftslabor" (Projektleiter: Théâtre de la Ville Luxembourg). Mein Management-Projekt "Teatrul Tineretului – CO-Creative Laboratory" hatte klare Zielformulierungen: die Latte hochlegen, ein Theater fernab des Zentrums und ausgestattet mit wenigen Ressourcen auf die internationale Landkarte bringen, die Loyalität des lokalen, meist jungem Publikums in einem wirtschaftlich benachteiligten Gebiet mit äußerst prekärem kulturellen Angebot gewinnen.

Irina Wolf: Vielen Dank für das Interview!

Ausdrucken?

.
Zurück zur Übersicht