
Irina Wolf
irinawolf10 [at]
gmail.com
Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und
Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli

(c) Marco Caselli
"Don Chisciotte ad ardere"
(Regie:
Ermanna Montanari /
Marco Martinelli)
|
Chiamata
Pubblica (öffentlicher Aufruf / public call) heißt die Einladung des
Ravenna Teatro, die allen gilt, unabhängig von Alter, Geschlecht,
Nationalität, Sprache oder Ausbildung. Unter der Anleitung von Martinelli
und Montanari werden die Mitwirkenden im Rahmen eines großen Labors, dem
sogenannten Cantiere (Baustelle), mit unterschiedlichen Aufgaben
betraut. Gesang, Tanz, Chorrezitation, Bühnenbild, Kostüme. Für all dies
setzen sich begeisterte Menschengruppen mit Hingabe ein. Sie bilden das, was
Martinelli als "Chöre" bezeichnet, homogene Gemeinschaften. Die Energie, die
dabei freigesetzt wird, ist erstaunlich und ansteckend zugleich.
So ist es nicht verwunderlich, dass genau diese
Laiendarsteller eine Fortsetzung des Dante-Projektes, das von 2017 bis 2022
stattfand und sich mit der Göttlichen Komödie befasste, anstrebten.
"Und was machen wir jetzt? Wie geht es weiter?", fragten die Bürger Ravennas
begierig. Ermanna Montanari und Marco Martinelli kamen dem Wunsch ihrer
"Mitschauspieler" nach und starteten in diesem Jahr ein neues dreijähriges
Projekt, das Cantiere Malagola, dessen erster Teil im Rahmen des
Ravenna Festivals 2023 gezeigt wurde und in dessen Mittelpunkt ein nicht
weniger berühmtes Werk der Weltliteratur steht: Don Quijote von
Miguel Cervantes. Wer kennt nicht den abenteuerlichen "Ritter von der
traurigen Gestalt", der in Begleitung seines treuen Knappen Sancho Panza
Abenteuer besteht, wo es nichts zu bestehen gibt? Opfer seiner
Literatursucht und seiner übersteigerten Lesefreude an Ritterromanen, hält
Don Quijote Windmühlen für Giganten, Hammelherden für feindliche Armeen,
Weinschläuche für Riesen, Herbergen für Schlösser und ein einfaches
Bauernmädchen für seine vornehme Herrin.
Vom Palast zum Wirtshaus
Don Quijote in
Flammen setzen (Don Chisciotte ad ardere) – so der Titel des neuen
Werkes von Montanari und Martinelli. "Denn alles, was wir erschaffen, ähnelt
dem Roman, der zwischen sprachlichen Mitteln (Farce, Schelmenroman,
Romanzen, Lyrik) ständig hin und her springt", erklärt Ermanna Montanari die
Wahl des überraschenden Titels. "Das hat mit Asche zu tun, die verpufft und
nicht aufzufangen ist, als ob alles einem kontinuierlichen, ewigen und
nahezu unfehlbaren Feuer ausgesetzt wäre."
So schön Cervantes' Roman auch zu lesen sein mag, ist es
ein äußerst schwieriges Unterfangen die mehr als 1000 Seiten auf die Bühne
zu bringen. Umso lobenswerter ist die Initiative der beiden Künstler. Schon
von Anfang an spielen Montanari und Martinelli mit dem zentralen Thema des
Schriftwerks, und zwar mit der Frage, was in unserer Umwelt Wirklichkeit
oder Traum ist, Realität oder Ideal. Da ist als allererstes der
Veranstaltungsort, der Palazzo Malagola, ein Gebäude aus dem 18.
Jahrhundert in der Via di Roma 118 im Zentrum Ravennas, dessen Name sich auf
eine wohlhabende bürgerliche Familie aus Modena bezieht, der der Palast
gehörte bis er in den Besitz der Stadt überging. Von Außen unauffällig,
beherbergt das Gebäude seit 2021 ein internationales Zentrum für
Gesangstudien. Nur eine Tafel neben dem Eingangstor gibt Auskunft über die
Gesangschule, geleitet von Ermanna Montanari und Enrico Pitozzi, einem
Wissenschaftler und Professor an der Universität Alma Mater Studiorum in
Bologna.
Schon beim Betreten des Gebäudes fällt mir die stimmige,
stilvolle und einzigartige Einrichtung auf. In der Eingangshalle sitzen
mehrere Frauen an Nähmaschinen und nähen
– Broschüren. Auf den
Papierblättern sind ihre Träume aufgezeichnet, die ganz persönlichen Träume
dieser Frauen Ravennas, die an dem Projekt teilnehmen. Es handelt sich um
kleine Kunsthandwerke, die vom "Chor der Träumerinnen" letztendlich an jeden
Zuschauer verschenkt werden. Damit ausgerüstet, führt der Weg durch den
"verzauberten Palast". In kleinen Gruppen von sieben (aus den insgesamt 50
Zuschauern) bewegen wir uns lautlos durch die verschiedenen Räume und
Etagen.
Was für eine Abfolge beeindruckender Bilder! Surreale
Szenen, mit viel Liebe zum Detail von Montanari zusammen mit den
Bühnenbildnerinnen Elisa Gelmi, Ludovica Diomedi und Matilde Grossi
entworfen. Alle Sinne werden angesprochen. Da ist zuerst einmal der
penetrante Geruch des Weizenfeldes, das wir im ersten Raum durchqueren. Eine
Familie, die am Tisch sitzt, isst Suppe
– mit Messern; daneben stolzieren
drei Hühner in einem Hühnerstall herum. Auf dem Dachboden liegt eine
Meerjungfrau am Boden; in einem anderen Raum schneidet sich eine nackte Frau
die Haare. Ob auf Treppen oder in den Zimmern, Stefano Riccis vielsagende
Zeichnungen in Schwarz-Weiß schmücken die Wände. Träume und Albträume
wechseln sich ab in diesem Labyrinth und verwandeln unsere Welt in ein
intensives Erlebnis, in dem Lichter (von Luca Pagliano und Marcello
Maggiori) und Klänge (von Marco Olivieri) starke Emotionen vermitteln. Ein
Militärlager folgt unmittelbar dem Zimmer, in dem ein "Handwerker" die
Gliedmaßen von Schaufensterpuppen zusammenzusetzen versucht. Eine Metzgerin,
umgeben von stinkendem Fleisch, schwingt das Fleischerbeil. Diese
siebenminütige Reise durch den Palast beginnt damit, dass Kinder Sandburgen
bauen und endet mit einem älteren nackten Paar, einem Mann und einer Frau,
die sich zärtlich umarmen. Ein ganzer Lebensweg! Die schmale Grenze zwischen
Realität und Unwirklichkeit ist überschritten.
Magier als Wegweiser für
Wanderer
Von Don Quijote
ist hier zunächst weit und breit keine Spur. Entlassen in den Garten des
Palastes mit seinen schattenspendenden Bäumen, finden wir heraus, dass der
"verzauberte" Ort nur ein Gasthaus ist (dasjenige, in dem Don Quijote vom
Wirt zum Ritter geschlagen wird). "Locanda" (Wirtshaus) steht auf einem der
oberen Fenster der Innenfassade. "Trash room" (Müllraum) verrät die Schrift
auf einer Tür im Erdgeschoss. Aus diesem Raum werden die drei Hauptfiguren
aus Cervantes' Roman von zwei Magiern heraufbeschworen.
Hermanita und Marcus sind arme, fast mittellose Zauberer.
Wir hatten sie schon im Prolog kennengelernt: Hermanita (Ermanna Montanari),
die Magierin, "die Fäden verwickelt". Sie sprach uns, die auf der Straße vor
dem Palast versammelten Zuschauer, vom Balkon des Palazzo Malagola an. In
einer hypnotisierenden, gemischten Sprache aus Italienisch, Spanisch,
Romagnol, Arabisch und Grammelot hieß sie uns "Wanderer" willkommen. Denn in
Martinellis gewohnter dramaturgischer Manier ist jeder von uns ein
Umherziehender, ein potenzieller Don Quijote. Schier verblüffend war
Montanaris Sprach- und Stimmenvielfalt. Als sich dann das Palasttor öffnete,
kam der zweite Zauberer zum Vorschein. Marcus (Marco Martinelli), der Magier
"der den Fäden nachjagt" war derjenige, der uns einlud, in den verzauberten
Palast einzutreten.
Und nun, nach dem kurzen Rundgang durch die
Räumlichkeiten des Gebäudes, beschwören die beiden im Garten des Palastes
die Geister herauf. Dementsprechend treten aus dem "Müllraum" Cervantes'
archetypische Figuren ins Rampenlicht: Don Quijote, Sancho Panza und
Dulcinea de Toboso. Doch es stellt sich bald heraus, dass es sich beim Trio
letztendlich um Schauspieler handelt. Denn Don Quijote (interpretiert von
Roberto Magnani) heißt Roberto del Castillo, Sancho Panza (gespielt von
Alessandro Argnani) ist Aleandro Argnàn de Puerto Foras und Dulcinea ist
Laura Ross de la Briansa (in Wahrheit Laura Redaelli). Durch die vorgeführte
Sinnestäuschung sind wir, die Betrachter, in ein neues Spiel von Realität
und Illusion, Geschichte und Gegenwart, eingebunden.
Packende teilnehmende
Bürgerchöre
Weit mehr als
die drei Hauptdarsteller fällt nun der Einsatz der in Weiß gekleideten
Bürger auf. Sei es der Chor der Jugendlichen, der Chor der Belagerung, der
Chor der Gefangenen (die Don Quijote freilässt) oder der Chor von angeblich
Vernünftigen, die Bücher verbrennen werden, um Don Quijote zu retten. Es
wird getanzt zu gewaltiger live Musik aus dem 17. Jahrhundert oder zu
sephardisch-andalusischen und kalabresischen Liedern, hervorragend
interpretiert von der Rockband LEDA und ihrer charismatischen Sängerin
Serena Abrami. Verschiedene Sprachen werden gesprochen, denn die
Mitwirkenden sind Iraner, Tunesier oder Italiener, die ausschließlich das
Romagnol (den Dialekt der Romagna-Gegend) sprechen.
Auch in diesem Teil ist jeder der zum Einsatz kommenden
Gegenstände gut durchdacht: An der Innenfassade des Gebäudes lehnt eine hohe
rote Holzleiter. In der Mitte des Gartens befindet sich eine rote
Holzplattform in Form eines Kreuzes. Gereinigt zunächst von "der Frau, der
das Wirtshaus gehört", wird es zum Schauplatz der Geschichte. Episoden aus
Cervantes‘ Roman werden durch zeitgenössische Bezüge unterbrochen. Wir sehen
uns veranlasst, das eigene Fühlen und Denken zu hinterfragen und unsere
Aufmerksamkeit auf unsere brennenden Wünsche zu richten, nach dem Vorbild
des Ritters von La Mancha, Symbol des Träumers, der sich nicht mit
Ungerechtigkeiten abfindet in einer Welt, die von Heuchelei und Missbrauch
regiert wird.
Von den zahlreichen Szenen sticht der
"Chor der
Glossolalien" hervor, ein einzigartiger Moment, entwickelt von Ermanna
Montanari, die durch ihre beeindruckenden stimmtechnischen Fähigkeiten die
Masse von mal wütenden, mal gesprächigen Frauen auf atemberaubende Weise
steuert. Und dann der Abschluss: die Bücherverbrennung durch den "Chor der
Vernünftigen". Die von den Bürgern gesprochenen Sätze sind von diesen selbst
ausgedacht, als Antwort auf die Fragen, die Montanari und Martinelli ihnen
gestellt haben: Welche Bücher haben "euer Leben verändert"? Welche haben
euch zu der Vorstellung gebracht, dass diese Welt und ihre Ungerechtigkeiten
verändert werden können? So wirft die wild gewordene "vernünftige"
Menschenmenge zum Beispiel "Die Brüder Karamasow" (weil der Autor ein Russe
ist), "Kraft zum Lieben" von Martin Luther King (wegen dem veralteten und
banalen Titel) oder "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez
(weil der Lehrer im Gymnasium die Lektüre erzwungen hatte) "auf den
Scheiterhaufen". Martinelli und Montanari vermischen auch in diesem Werk auf
beachtliche Weise Politisches und Poetisches. Don Quijote in Flammen
setzen, mit dem Untertittel "Opera in fieri 2023" des Teatro delle Albe
(koproduziert vom Ravenna Festival) ist so erregend wie ein Liebesakt, in
dem Stadt und Publikum, Theater und Leben, aufeinandertreffen.
"es fängt immer so an, mit dem Verbrennen des Papiers
am Ende brennt das Fleisch!
es beginnt mit einer Bücherverbrennung
es endet mit einer Verbrennung von Frauen, Männern, Kindern!
Entkommet! Entkommet!"
Dazu fordert uns "Wanderer" Hermanita auf. 2024 werden wir mit
Sicherheit nach Ravenna zurückkommen, um den zweiten Teil mitzuerleben! |
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