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Don Quijote in Flammen setzen

Als wichtiges Zentrum für den Kulturtourismus in Italien ist Ravenna bekannt für
seine einzigartigen Mosaiken, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Doch ich verbinde
das Städtchen im Osten der italienischen Provinz Emilia-Romagna mit unvergesslichen
Momenten und besonderen Menschen. Ermanna Montanari und Marco Martinelli, die zwei
Mitbegründer und künstlerischen Leiter des Teatro delle Albe/Ravenna Teatro, schaffen es
immer wieder, sensationelle Theaterprojekte ins Leben zu rufen. Besonders bemerkenswert
dabei ist, dass Hunderte von Bürgern der Stadt, ja sogar experimentierfreudige
Theaterliebhaber aus anderen Regionen Italiens, an dem Unterfangen der
beiden charismatischen Künstler mitwirken.

Von Irina Wolf
(08. 09. 2023)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.


 




(c) Marco Caselli

 

 




(c) Marco Caselli

 




(c) Marco Caselli

 

 

 


(c) Marco Caselli

 

 


(c) Marco Caselli

 

 

 


(c) Marco Caselli

 

 

 


(c) Marco Caselli

 

 

 


(c) Marco Caselli

"Don Chisciotte ad ardere"
(Regie:
Ermanna Montanari /
Marco Martinelli)

 

   Chiamata Pubblica (öffentlicher Aufruf / public call) heißt die Einladung des Ravenna Teatro, die allen gilt, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Sprache oder Ausbildung. Unter der Anleitung von Martinelli und Montanari werden die Mitwirkenden im Rahmen eines großen Labors, dem sogenannten Cantiere (Baustelle), mit unterschiedlichen Aufgaben betraut. Gesang, Tanz, Chorrezitation, Bühnenbild, Kostüme. Für all dies setzen sich begeisterte Menschengruppen mit Hingabe ein. Sie bilden das, was Martinelli als "Chöre" bezeichnet, homogene Gemeinschaften. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, ist erstaunlich und ansteckend zugleich.

So ist es nicht verwunderlich, dass genau diese Laiendarsteller eine Fortsetzung des Dante-Projektes, das von 2017 bis 2022 stattfand und sich mit der Göttlichen Komödie befasste, anstrebten. "Und was machen wir jetzt? Wie geht es weiter?", fragten die Bürger Ravennas begierig. Ermanna Montanari und Marco Martinelli kamen dem Wunsch ihrer "Mitschauspieler" nach und starteten in diesem Jahr ein neues dreijähriges Projekt, das Cantiere Malagola, dessen erster Teil im Rahmen des Ravenna Festivals 2023 gezeigt wurde und in dessen Mittelpunkt ein nicht weniger berühmtes Werk der Weltliteratur steht: Don Quijote von Miguel Cervantes. Wer kennt nicht den abenteuerlichen "Ritter von der traurigen Gestalt", der in Begleitung seines treuen Knappen Sancho Panza Abenteuer besteht, wo es nichts zu bestehen gibt? Opfer seiner Literatursucht und seiner übersteigerten Lesefreude an Ritterromanen, hält Don Quijote Windmühlen für Giganten, Hammelherden für feindliche Armeen, Weinschläuche für Riesen, Herbergen für Schlösser und ein einfaches Bauernmädchen für seine vornehme Herrin.

Vom Palast zum Wirtshaus

   Don Quijote in Flammen setzen (Don Chisciotte ad ardere) – so der Titel des neuen Werkes von Montanari und Martinelli. "Denn alles, was wir erschaffen, ähnelt dem Roman, der zwischen sprachlichen Mitteln (Farce, Schelmenroman, Romanzen, Lyrik) ständig hin und her springt", erklärt Ermanna Montanari die Wahl des überraschenden Titels. "Das hat mit Asche zu tun, die verpufft und nicht aufzufangen ist, als ob alles einem kontinuierlichen, ewigen und nahezu unfehlbaren Feuer ausgesetzt wäre."

So schön Cervantes' Roman auch zu lesen sein mag, ist es ein äußerst schwieriges Unterfangen die mehr als 1000 Seiten auf die Bühne zu bringen. Umso lobenswerter ist die Initiative der beiden Künstler. Schon von Anfang an spielen Montanari und Martinelli mit dem zentralen Thema des Schriftwerks, und zwar mit der Frage, was in unserer Umwelt Wirklichkeit oder Traum ist, Realität oder Ideal. Da ist als allererstes der Veranstaltungsort, der Palazzo Malagola, ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert in der Via di Roma 118 im Zentrum Ravennas, dessen Name sich auf eine wohlhabende bürgerliche Familie aus Modena bezieht, der der Palast gehörte bis er in den Besitz der Stadt überging. Von Außen unauffällig, beherbergt das Gebäude seit 2021 ein internationales Zentrum für Gesangstudien. Nur eine Tafel neben dem Eingangstor gibt Auskunft über die Gesangschule, geleitet von Ermanna Montanari und Enrico Pitozzi, einem Wissenschaftler und Professor an der Universität Alma Mater Studiorum in Bologna.

Schon beim Betreten des Gebäudes fällt mir die stimmige, stilvolle und einzigartige Einrichtung auf. In der Eingangshalle sitzen mehrere Frauen an Nähmaschinen und nähenBroschüren. Auf den Papierblättern sind ihre Träume aufgezeichnet, die ganz persönlichen Träume dieser Frauen Ravennas, die an dem Projekt teilnehmen. Es handelt sich um kleine Kunsthandwerke, die vom "Chor der Träumerinnen" letztendlich an jeden Zuschauer verschenkt werden. Damit ausgerüstet, führt der Weg durch den "verzauberten Palast". In kleinen Gruppen von sieben (aus den insgesamt 50 Zuschauern) bewegen wir uns lautlos durch die verschiedenen Räume und Etagen.

Was für eine Abfolge beeindruckender Bilder! Surreale Szenen, mit viel Liebe zum Detail von Montanari zusammen mit den Bühnenbildnerinnen Elisa Gelmi, Ludovica Diomedi und Matilde Grossi entworfen. Alle Sinne werden angesprochen. Da ist zuerst einmal der penetrante Geruch des Weizenfeldes, das wir im ersten Raum durchqueren. Eine Familie, die am Tisch sitzt, isst Suppe mit Messern; daneben stolzieren drei Hühner in einem Hühnerstall herum. Auf dem Dachboden liegt eine Meerjungfrau am Boden; in einem anderen Raum schneidet sich eine nackte Frau die Haare. Ob auf Treppen oder in den Zimmern, Stefano Riccis vielsagende Zeichnungen in Schwarz-Weiß schmücken die Wände. Träume und Albträume wechseln sich ab in diesem Labyrinth und verwandeln unsere Welt in ein intensives Erlebnis, in dem Lichter (von Luca Pagliano und Marcello Maggiori) und Klänge (von Marco Olivieri) starke Emotionen vermitteln. Ein Militärlager folgt unmittelbar dem Zimmer, in dem ein "Handwerker" die Gliedmaßen von Schaufensterpuppen zusammenzusetzen versucht. Eine Metzgerin, umgeben von stinkendem Fleisch, schwingt das Fleischerbeil. Diese siebenminütige Reise durch den Palast beginnt damit, dass Kinder Sandburgen bauen und endet mit einem älteren nackten Paar, einem Mann und einer Frau, die sich zärtlich umarmen. Ein ganzer Lebensweg! Die schmale Grenze zwischen Realität und Unwirklichkeit ist überschritten.

Magier als Wegweiser für Wanderer

   Von Don Quijote ist hier zunächst weit und breit keine Spur. Entlassen in den Garten des Palastes mit seinen schattenspendenden Bäumen, finden wir heraus, dass der "verzauberte" Ort nur ein Gasthaus ist (dasjenige, in dem Don Quijote vom Wirt zum Ritter geschlagen wird). "Locanda" (Wirtshaus) steht auf einem der oberen Fenster der Innenfassade. "Trash room" (Müllraum) verrät die Schrift auf einer Tür im Erdgeschoss. Aus diesem Raum werden die drei Hauptfiguren aus Cervantes' Roman von zwei Magiern heraufbeschworen.

Hermanita und Marcus sind arme, fast mittellose Zauberer. Wir hatten sie schon im Prolog kennengelernt: Hermanita (Ermanna Montanari), die Magierin, "die Fäden verwickelt". Sie sprach uns, die auf der Straße vor dem Palast versammelten Zuschauer, vom Balkon des Palazzo Malagola an. In einer hypnotisierenden, gemischten Sprache aus Italienisch, Spanisch, Romagnol, Arabisch und Grammelot hieß sie uns "Wanderer" willkommen. Denn in Martinellis gewohnter dramaturgischer Manier ist jeder von uns ein Umherziehender, ein potenzieller Don Quijote. Schier verblüffend war Montanaris Sprach- und Stimmenvielfalt. Als sich dann das Palasttor öffnete, kam der zweite Zauberer zum Vorschein. Marcus (Marco Martinelli), der Magier "der den Fäden nachjagt" war derjenige, der uns einlud, in den verzauberten Palast einzutreten.

Und nun, nach dem kurzen Rundgang durch die Räumlichkeiten des Gebäudes, beschwören die beiden im Garten des Palastes die Geister herauf. Dementsprechend treten aus dem "Müllraum" Cervantes' archetypische Figuren ins Rampenlicht: Don Quijote, Sancho Panza und Dulcinea de Toboso. Doch es stellt sich bald heraus, dass es sich beim Trio letztendlich um Schauspieler handelt. Denn Don Quijote (interpretiert von Roberto Magnani) heißt Roberto del Castillo, Sancho Panza (gespielt von Alessandro Argnani) ist Aleandro Argnàn de Puerto Foras und Dulcinea ist Laura Ross de la Briansa (in Wahrheit Laura Redaelli). Durch die vorgeführte Sinnestäuschung sind wir, die Betrachter, in ein neues Spiel von Realität und Illusion, Geschichte und Gegenwart, eingebunden.

Packende teilnehmende Bürgerchöre

   Weit mehr als die drei Hauptdarsteller fällt nun der Einsatz der in Weiß gekleideten Bürger auf. Sei es der Chor der Jugendlichen, der Chor der Belagerung, der Chor der Gefangenen (die Don Quijote freilässt) oder der Chor von angeblich Vernünftigen, die Bücher verbrennen werden, um Don Quijote zu retten. Es wird getanzt zu gewaltiger live Musik aus dem 17. Jahrhundert oder zu sephardisch-andalusischen und kalabresischen Liedern, hervorragend interpretiert von der Rockband LEDA und ihrer charismatischen Sängerin Serena Abrami. Verschiedene Sprachen werden gesprochen, denn die Mitwirkenden sind Iraner, Tunesier oder Italiener, die ausschließlich das Romagnol (den Dialekt der Romagna-Gegend) sprechen.

Auch in diesem Teil ist jeder der zum Einsatz kommenden Gegenstände gut durchdacht: An der Innenfassade des Gebäudes lehnt eine hohe rote Holzleiter. In der Mitte des Gartens befindet sich eine rote Holzplattform in Form eines Kreuzes. Gereinigt zunächst von "der Frau, der das Wirtshaus gehört", wird es zum Schauplatz der Geschichte. Episoden aus Cervantes‘ Roman werden durch zeitgenössische Bezüge unterbrochen. Wir sehen uns veranlasst, das eigene Fühlen und Denken zu hinterfragen und unsere Aufmerksamkeit auf unsere brennenden Wünsche zu richten, nach dem Vorbild des Ritters von La Mancha, Symbol des Träumers, der sich nicht mit Ungerechtigkeiten abfindet in einer Welt, die von Heuchelei und Missbrauch regiert wird.

   Von den zahlreichen Szenen sticht der "Chor der Glossolalien" hervor, ein einzigartiger Moment, entwickelt von Ermanna Montanari, die durch ihre beeindruckenden stimmtechnischen Fähigkeiten die Masse von mal wütenden, mal gesprächigen Frauen auf atemberaubende Weise steuert. Und dann der Abschluss: die Bücherverbrennung durch den "Chor der Vernünftigen". Die von den Bürgern gesprochenen Sätze sind von diesen selbst ausgedacht, als Antwort auf die Fragen, die Montanari und Martinelli ihnen gestellt haben: Welche Bücher haben "euer Leben verändert"? Welche haben euch zu der Vorstellung gebracht, dass diese Welt und ihre Ungerechtigkeiten verändert werden können? So wirft die wild gewordene "vernünftige" Menschenmenge zum Beispiel "Die Brüder Karamasow" (weil der Autor ein Russe ist), "Kraft zum Lieben" von Martin Luther King (wegen dem veralteten und banalen Titel) oder "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez (weil der Lehrer im Gymnasium die Lektüre erzwungen hatte) "auf den Scheiterhaufen". Martinelli und Montanari vermischen auch in diesem Werk auf beachtliche Weise Politisches und Poetisches. Don Quijote in Flammen setzen, mit dem Untertittel "Opera in fieri 2023" des Teatro delle Albe (koproduziert vom Ravenna Festival) ist so erregend wie ein Liebesakt, in dem Stadt und Publikum, Theater und Leben, aufeinandertreffen.

"es fängt immer so an, mit dem Verbrennen des Papiers
am Ende brennt das Fleisch!
es beginnt mit einer Bücherverbrennung
es endet mit einer Verbrennung von Frauen, Männern, Kindern!
Entkommet! Entkommet!"

Dazu fordert uns "Wanderer" Hermanita auf. 2024 werden wir mit Sicherheit nach Ravenna zurückkommen, um den zweiten Teil mitzuerleben!

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