Das
Kuratorenteam um Mihaela Michailov, Oana Cristea Grigorescu und Călin
Ciobotari brachte frischen Wind ins Programm
–
zum einen mit der Sektion "Fragile Grenzen", in deren Fokus die Thematisierung hybrider Ästhetiken
stand: Vermischung verschiedener
Genres, Integration von Technologien, Verschneidung ästhetischer
Territorien sowie die Realisierung einer dynamischen und mutigen Poetik. Hingegen
umfasste die Sektion "Fließende Übergänge" Veranstaltungen, die die
Beziehung zur Vergangenheit neu beleuchteten und die Gegenwart in Frage
stellten. Dabei wurden kollektive und familiäre Geschichten aus subjektiven Blickwinkeln
betrachtet und kontroverse Episoden der offiziellen Geschichte
hinterfragt. Performative Installationen, Online- und
Virtual-Reality-Kreationen wurden verstehbar als Reaktion auf den Wandel des
künstlerischen Sprachausdrucks während der Pandemie.
Mikro- und
Makrogeschichten
Mit
zwei Großproduktionen überzeugte das Ungarische Staatstheater Cluj in der
Untersektion "Makrogeschichten. Fragmentierte Gesellschaften". Beide Stücke
hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Tompa Gábors moderne
Inszenierung von Hamlet (seine vierte in seiner Karriere als
Regisseur) zeigte ein ausuferndes Angebot an Regieeinfällen. Als Spiegel
unserer heutigen Welt ist Hamlet nicht nur ein Rebell, sondern ein stoischer
Mensch, der in einer Bibliothek lebt. Kultur dient jedoch nicht mehr der
Wiederherstellung der moralischen Ordnung. Aus der Neuinterpretation des
Regisseurs gibt es scheinbar für keine Figur ein Entkommen. Die einst
attraktiven Barkeeperinnen Rosencrantz und Guildenstern verwandeln sich
später in Eliteschützinnen. Und am Ende wird Ophelia ermordet. Dagegen
präsentierte sich Silviu Purcăretes klassische Inszenierung von Ionescos
Macbett als hochkarätiges Theater. Das während des Kalten Krieges
geschriebene Stück verwandelt Shakespeares "Macbeth" in eine tragikomische
Geschichte über Ehrgeiz, Korruption und Feigheit. Das insgesamt
hervorragende Ensemble spielte vor einem begeisterten, ausverkauften Haus.
Währenddessen wurden in
den "Mikrogeschichten" persönliche Konflikte untersucht. In Florian Zellers
Familiengeschichte Der Vater wird die Welt mit den Augen eines
Demenzkranken betrachtet. Cristi Juncus Inszenierung war hochemotional, umso
mehr, als sie dem 90-jährigen Hauptdarsteller Victor Rebengiuc in seiner
letzten Rolle huldigte. Familienthemen fanden sich auch in anderen
Produktionen wieder. Das Bilderbuch für brave Kinder, eine Adaption
von Máté Hegymegi des Musicals von Phelim McDermott und Julian Crouch
(basierend auf Geschichten von Heinrich Hoffmann und vertont von The Tiger
Lillies) entpuppte sich als eine bissige und bitterböse Junk-Oper voll
schwarzen Humors. Das Groteske erwies sich als ideale Formel, um die
Klischees eines Bildungssystems, das Persönlichkeiten standardisiert und
Kreativität unterdrückt, ad absurdum zu führen.
In der Kategorie "Fragile
Grenzen. Hybride Bereiche" tat sich besonders Die Möwe hervor. Eugen
Jebeleanus Filmtheater-Interpretation von Tschechows Meisterwerk am
Nationaltheater Bukarest thematisiert Probleme der rumänischen Theaterszene
und den Generationenkonflikt. Ein frischer Ansatz, der darauf abzielt,
Stereotypen zu durchbrechen.
Rumänische
Künstler in Europa
Einige
der aufregendsten Aufführungen des Festivals lieferte die neue Generation
angehender rumänischer Künstler. Wie nie zuvor inszenierten zahlreiche
Regisseure in der letzten Saison im Ausland. Das ist der Fall bei
Millennial History in der Regie von Catinca Drăgănescu (produziert von
Resonate Productions Niederlande). Was als Podcast begann, für den Andrea
Voets und der Komponist Luke Deane Hunderte von Musikstücken und Interviews
kombinierten, wurde zu einem spannenden Live-Dokumentarkonzert, in dem
mehrere Geschichten zu einer überzeugenden Einheit verschmelzen. Das
musikalisch-filmische Konzept behandelt den Konflikt in Nordirland, die
sizilianische Mafia, Ostdeutschlands Wandel nach der Wiedervereinigung und
Ceauşescus berüchtigte
"Kinder des Dekrets".
Gianina Cărbunarius
Waste!, produziert am Schauspiel Stuttgart, ist ein dokumentarisches
Märchen, in dem sich Realität und Fiktion ständig vermischen. Basierend auf
der echten Geschichte eines rumänischen Dorfs, in dem der aus dem Westen
nach Osteuropa ausgelagerte Müll in Zementfabriken verbrannt wird, verknüpft
Cărbunariu Menschen mit Fischen, Bären und Pfauen, um zu zeigen, dass die
europäische Solidarität angesichts der wirtschaftlichen Ungleichheiten
schwer vertretbar ist.
Die Ausbeutung durch das kapitalistische System wurde
auch von der aus der Republik Moldau stammenden Nicoleta Esinencu und ihrem
Kollektiv "teatru spalatorie" in Sinfonie des Fortschritts dem
Publikum schmerzlich vor Augen geführt. Ein Sprachkonzert, das die
westeuropäische Selbstgewissheit, eine demokratische und fortschrittliche
Gesellschaft zu sein, auf bissig-humorvolle Weise demontiert. Drei
Performer, ausgestattet mit Bohrmaschinen, Straßenbauarbeiter-Klamotten,
einem Mischpult und Mikrofonen, erzählten – konsequenterweise in
moldawisch-rumänischer und russischer Sprache – die Geschichten von Saison-
und Wanderarbeitern. Die Produktion des Hebbel-am-Ufer-Theaters wurde zum
diesjährigen Berliner Theatertreffen nominiert. Nicht zuletzt soll hier ein
weiteres Gastspiel Erwähnung finden. Für Der blinde Fleck, produziert
vom Serbischen Nationaltheater in Novi Sad, schrieben die Autoren Ionuţ
Sociu und Cosmin Stănilă die Geschichte der Antigone in eine Seifenoper um,
die während der Pandemie spielt. Regie führte Andrei Măjeri.
Doch
auch Produktionen aus Rumänien überraschten durch mutige Themenwahl und
starke Bühnenumsetzung. Geschrieben von Alexandra Felseghi und inszeniert
von Adina Lazăr ist Leg auf, Anrufe warten (eine Produktion des
Nationaltheaters Cluj) eine Anklage gegen den rumänischen Staat und seine
Unfähigkeit, Frauen zu schützen. Der Titel erlangte eine finstere
Berühmtheit: Er steht für den Satz, mit dem ein Polizist die entführte
Teenagerin Alexandra Măceşanu 2019 von der europäischen Notrufnummer 112
abwies, bevor sie ermordet aufgefunden wurde. Bekannt für ihr Interesse an
der Aufarbeitung der Geschichte zeigte Carmen Lidia Vidu im
Dokumentartheater Menschen. Zu verkaufen (eine Produktion des
Deutschen Staatstheaters Temeswar) auf, wie das kommunistische Rumänien
seine deutsche Minderheit – insbesondere in den Jahren von 1969 bis 1989 –
der Bundesrepublik Deutschland verkaufte.
Neben Theater bot das NTF
auch Tanzproduktionen. Hinzu kam ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm
bestehend aus szenischen Lesungen, Debatten, Ausstellungseröffnungen und
eine Theaterbuchmesse, auf der nicht weniger als 23 Neuerscheinungen
vorgestellt und Begegnungen mit ihren Autoren möglich wurden. Zum ersten Mal
widmete das NTF der Präsenz der darstellenden Künste in Schulen und
Gymnasien besondere Aufmerksamkeit, einschließlich Workshops und Treffen für
Studenten von Universitäten und Kunstschulen.
Zum
Abschluss gab es eine zweite Inszenierung von Silviu Purcărete. Die Cenci
Familie ist ein poetisches Stück nach P.B. Shelley und Stendhal, das
Artauds Theorie mit der Grausamkeit des Grafen Francesco Cenci gegenüber
seiner Familie und insbesondere seiner Tochter Beatrice verbindet. Die
Produktion des Nationaltheaters Iaşi entpuppte sich als ästhetisches
"Markenzeichen" von Purcărete. Ein prächtiger Abschluss des Festivals!