Mit
dem Bukarester Nationaltheaterfestival ist das so: Wenn es gut läuft, dann
erlebt man innerhalb von zehn Tagen grandioses Theater in geballter Form –
so wie in diesem Jahr. Tanzaufführungen, Bühnenstücke, Konferenzen,
Buchpräsentationen, Filmvorführungen, Konzerte, eine Fotoausstellung
Brigitte Lacombes, eine Meisterklasse Gabriela Carrizos. Das sind nur einige
Beispiele aus dem Fundus jener insgesamt hundert Veranstaltungen, die vom
19. bis 29. Oktober zum Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des
modernen rumänischen Staates dargeboten wurden. Das Motto der diesjährigen
28. Ausgabe –
"Wir eröffnen Ihnen hundert neue Welten!"
–
war also durchaus wörtlich zu verstehen. Darüber hinaus stellte Intendantin
Marina Constantinescu das Festival unter das Zeichen der Königskrone
Rumäniens, um dem Jubiläum einen besonders würdigen Rahmen zu verleihen.
Gewidmet wurden die Festspiele der Regisseurin Cătălina
Buzoianu, einer Legende der rumänischen Theaterszene – für mich besonders
berührend, habe ich doch dank ihren Inszenierungen meine Liebe zum Theater
entdeckt. Bewegend war auch die weitere Hommage an Regisseur Lucian
Pintilie, einem wichtigen Vertreter des Neuaufbruchs im rumänischen Film
nach 1968. Dass 2018 die Spielstätten der Bukarester freien Szene auf
gleichem Fuß mit den großen Theaterhäusern stehen, verdeutlichte am besten
das 2010 von Andreea und Andrei Grosu gegründete "Ein Theater" (unteatru).
Starregisseur Andrei Şerban schuf im intimen Spielort eine eindrucksvolle
Version von Tschechows Die Möwe. Hingegen durfte das Regisseurduo
Grosu Der König stirbt von Eugène Ionesco im großen Saal des
Bukarester Nationaltheaters zur Aufführung bringen. Überdies organisierte
das Festival eine Reise nach Hermannstadt für Die scharlachrote
Prinzessin von Tsuruya Nanboku IV, die Regisseur Silviu Purcărete zu
einer eigenen Textversion inspirierte. Darüber hinaus wurde an zwei
aufeinanderfolgenden Abenden in einer Liveübertragung Victor Ioan Frunzăs
Inszenierung Engel in Amerika von Tony Kushner vom Ungarischen
Staatstheater Klausenburg gezeigt. Zu den großen Regienamen im
Festivalprogramm zählte auch Alexandru Darie. Der Direktor des
traditionsreichen Bulandra-Theaters durfte die Premiere von Shakespeares
Coriolanus zeigen. Eine ambitionierte, fast fünfstündige
Mammutproduktion.
Religion, Kartoffeln und sexuelle Aufklärung
Die
junge Generation von Theatermachern stellte ihr Können im
Programmschwerpunkt "Theater und Gesellschaft. Jetzt" unter Beweis. Sechs
Produktionen konzentrierten sich auf gesellschaftlich relevante Fragen.
Darunter auch Im Namen des Vaters, eine Art No-More-Produktion, die
die Religion und ihren wechselhaften Einfluss auf die junge Generation
thematisierte. Robert Bălans Inszenierung vermied dabei jede Einseitigkeit. Schon beim
Eintreffen im blumenreichen Garten der Spielstätte Tranzit.ro war die
Besonderheit dieser Arbeit zu spüren. Vorgetragen wurde der aus Interviews
von Elena Vlădăreanu kreierte Text im Wohnzimmer des Hauses, wobei die
dreißig Zuschauer rund um einen langen Tisch saßen. Anschließend durfte das
Publikum bei Wein und Kuchen mit den drei Schauspielern
und Schauspielerinnen ins Gespräch kommen. Dass Religion auch heute noch ein sehr wichtiges
Thema sein kann, bestätigte ebenso die zweite Produktion Mein Vater, der Priester
von Gabriel Sandu, gezeigt in dem erst vor zwei Jahren eröffneten
Kellertheater Apollo 111 (siehe Aurora- Magazin vom 4. Mai 2017: "In
revolutionärer Mission"). Kein Wunder, ist doch das von der orthodoxen
Kirche unterstützte umstrittene Referendum zur Verfassungsänderung und
Verschärfung des Verbots der gleichgeschlechtlichen Ehe erst vor Kurzem
gescheitert.
Zur Anregung des Dialogs zwischen Eltern und Jugendlichen
diente der Text von Alexa Băcanu Alles ist äußerst normal. Auf
spielerische Art und Weise inszenierte Leta Popescu im
Replika-Bildungstheater-Zentrum die Thematik der Sexualerziehung in Schulen.
Denn obwohl die rumänische Gesetzgebung dies vorschreibt, bleibt sexuelle
Aufklärung in der Praxis noch immer ein Tabu. Das durch einen halbdurchsichtigen Vorhang in
zwei Gruppen geteilte Publikum – die Eltern saßen auf einer Seite und die
Jugendlichen auf der anderen – wurde von zwei Schauspielern aufgefordert,
Fragen zu beantworten. Solche interaktiven Momente wurden mit Monologen zu
einem gelungenen und lehrreichen Abend zusammengeführt.
Ganz anders das Gastspiel des Nationaltheaters "Mihai
Eminescu" aus Chişinău. Regisseurin Luminita Ţâcu beleuchtete mit Hannoch
Levins Krum besonders kritische Aspekte wie unerfüllte Träume und
Fehlentscheidungen. Diese betreffen aber nicht nur die Republik Moldau,
sondern auch Rumänien, dessen Bevölkerung wegen der riesigen Zahl der im
Ausland arbeitenden Menschen in den letzten Jahren sichtbar geschrumpft ist.
Situationskomik, gut eingesetzte Videos und eine leichtfüßig-witzige
Choreografie zeichnen die Arbeit Ţâcus aus. Die Inszenierung war modern,
körperbetont und dennoch im Rollenverständnis ganz konservativ. Eine
schauspielerische Glanzleistung des gesamten Ensembles!
Viermal Radu Afrim
Besondere
Aufmerksamkeit wurde Radu Afrim geschenkt. Der
arrivierte Regisseur, bekannt für seine leuchtend-surrealen Inszenierungen, war mit nicht weniger als
vier Inszenierungen im Programm vertreten: Rabenthal von Jörg Graser
(eine Produktion des Ungarischen Staatstheaters "Csiky Gergely" Temeswar),
Betrunkene von Iwan Wyrypajew ("Tompa Miklos"-Gruppe des
Nationaltheaters Târgu Mureş), Wolfgang (Jugendtheater Piatra Neamţ –
siehe Aurora Magazin vom 23. November 2017: "Zehn Jahre buntes Treiben: Junges
Theater in Iaşi") und Über Menschen und Kartoffeln ("Andrei Mureşanu"
Theater Sfântu Gheorghe). Für letzteres Stück zeichnet Afrim auch als Autor
verantwortlich. Es handelt sich dabei um eine
Performance
aus dem Genre des Dokumentartheaters und dreht sich um eine Art "Arbeitsunfall",
ein tragisches Ereignis, bei dem neun Personen, meist ungarische Roma, ihr
Leben verloren. Die Arbeiter, die sich ihre Existenz mit einer warmen
Mahlzeit, einem Eimer Kartoffeln und 25 Lei (weniger als sechs Euro, Anm.)
pro Tag sicherten, wurden vom Zug auf einem unbeschrankten Bahnübergang
erfasst. Schuld daran war der Fahrer ihres Traktors. Roma-Kinder und
-Jugendliche aus Sfântu Gheorghe agierten zusammen mit professionellen
Schauspielern. Dazu wurden mehrmals Filmprojektionen auf eine Leinwand
eingespielt. Hinterbliebene erzählten darin auf Rumänisch oder Ungarisch
ihre traurigen Geschichten. Angereichert mit den vom Spielleiter gewohnten
typischen Musik- und Tanzeinlagen wurde das Stück so zu einem weiteren
bemerkenswerten Teil des
typischen Afrim-"Universums".
Abgerundet wurde die Auswahl rumänischer Werke durch
überragende Produktionen der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz (Fräulein
Julie), Complicitè aus London (eine Bühnenadaption von Stefan Zweigs
Roman Ungeduld des Herzens), Dead Center aus Dublin (Chekov's
First Play), Peeping Tom (Moeder/Mutter) und Nederlands Dans
Theatre. Dass sich das Festival trotz seiner im Titel angeführten
"nationalen" Ausrichtung immer auch um bedeutende Auslandskünstler als Gäste
bemüht hat, ist allerdings nichts Neues. Seit 2007 gastierten
in der rumänischen Hauptstadt unter anderem Thomas
Ostermeier, Romeo Castellucci und Robert Lepage. Neben diesen weltweit
bekannten Namen reihten sich 2018 diejenigen von Katie Mitchell und Simon
McBurney.
Das Programm bot auch Produktionen für Kinder und
Jugendliche, wie Mama, ich habe meinen Arm verloren! von Maria
Kontorovich (Jugendtheater Piatra Neamţ) und Rotkäppchen, eine
Adaption von Regisseur Felix Alexa am Ţăndărică Puppen- und
Marionettentheater Bukarest. Für erwähnenswert halte ich auch den neu
gegründeten Festival-Hub, nicht zuletzt, weil er als wichtiger Treffpunkt
und Veranstaltungsort im Stadtzentrum diente.