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Hundert neue Welten entdecken

Impressionen vom Bukarester Nationaltheaterfestival.

Von Irina Wolf
(13. 12. 2018)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.





(c) Mihaela Marin

"Coriolanus"
(Regie:
Alexandru Darie)


 


(c) Horia Tudor

"Im Namen des Vaters"
(Regie:
Robert Bălan)


 


(c) Maria Stefanescu

"Alles ist äußerst normal"
(Regie:
Leta Popescu)


 


(c) Florin Biolan


"Krum"
(Regie:
Luminita Ţâcu)


 


(c) Mihaela Marin

"Über Menschen und
Kartoffeln
"
(Regie: Radu Afrim
)

 



(c) Danilo Moroni

"Mutter"
(Regie: Gabriela Carrizo
)

   Mit dem Bukarester Nationaltheaterfestival ist das so: Wenn es gut läuft, dann erlebt man innerhalb von zehn Tagen grandioses Theater in geballter Form – so wie in diesem Jahr. Tanzaufführungen, Bühnenstücke, Konferenzen, Buchpräsentationen, Filmvorführungen, Konzerte, eine Fotoausstellung Brigitte Lacombes, eine Meisterklasse Gabriela Carrizos. Das sind nur einige Beispiele aus dem Fundus jener insgesamt hundert Veranstaltungen, die vom 19. bis 29. Oktober zum Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des modernen rumänischen Staates dargeboten wurden. Das Motto der diesjährigen 28. Ausgabe "Wir eröffnen Ihnen hundert neue Welten!" war also durchaus wörtlich zu verstehen. Darüber hinaus stellte Intendantin Marina Constantinescu das Festival unter das Zeichen der Königskrone Rumäniens, um dem Jubiläum einen besonders würdigen Rahmen zu verleihen.

Gewidmet wurden die Festspiele der Regisseurin Cătălina Buzoianu, einer Legende der rumänischen Theaterszene – für mich besonders berührend, habe ich doch dank ihren Inszenierungen meine Liebe zum Theater entdeckt. Bewegend war auch die weitere Hommage an Regisseur Lucian Pintilie, einem wichtigen Vertreter des Neuaufbruchs im rumänischen Film nach 1968. Dass 2018 die Spielstätten der Bukarester freien Szene auf gleichem Fuß mit den großen Theaterhäusern stehen, verdeutlichte am besten das 2010 von Andreea und Andrei Grosu gegründete "Ein Theater" (unteatru). Starregisseur Andrei Şerban schuf im intimen Spielort eine eindrucksvolle Version von Tschechows Die Möwe. Hingegen durfte das Regisseurduo Grosu Der König stirbt von Eugène Ionesco im großen Saal des Bukarester Nationaltheaters zur Aufführung bringen. Überdies organisierte das Festival eine Reise nach Hermannstadt für Die scharlachrote Prinzessin von Tsuruya Nanboku IV, die Regisseur Silviu Purcărete zu einer eigenen Textversion inspirierte. Darüber hinaus wurde an zwei aufeinanderfolgenden Abenden in einer Liveübertragung Victor Ioan Frunzăs Inszenierung Engel in Amerika von Tony Kushner vom Ungarischen Staatstheater Klausenburg gezeigt. Zu den großen Regienamen im Festivalprogramm zählte auch Alexandru Darie. Der Direktor des traditionsreichen Bulandra-Theaters durfte die Premiere von Shakespeares Coriolanus zeigen. Eine ambitionierte, fast fünfstündige Mammutproduktion.

Religion, Kartoffeln und sexuelle Aufklärung

   Die junge Generation von Theatermachern stellte ihr Können im Programmschwerpunkt "Theater und Gesellschaft. Jetzt" unter Beweis. Sechs Produktionen konzentrierten sich auf gesellschaftlich relevante Fragen. Darunter auch Im Namen des Vaters, eine Art No-More-Produktion, die die Religion und ihren wechselhaften Einfluss auf die junge Generation thematisierte. Robert Bălans Inszenierung vermied dabei jede Einseitigkeit. Schon beim Eintreffen im blumenreichen Garten der Spielstätte Tranzit.ro war die Besonderheit dieser Arbeit zu spüren. Vorgetragen wurde der aus Interviews von Elena Vlădăreanu kreierte Text im Wohnzimmer des Hauses, wobei die dreißig Zuschauer rund um einen langen Tisch saßen. Anschließend durfte das Publikum bei Wein und Kuchen mit den drei Schauspielern und Schauspielerinnen ins Gespräch kommen. Dass Religion auch heute noch ein sehr wichtiges Thema sein kann, bestätigte ebenso die zweite Produktion Mein Vater, der Priester von Gabriel Sandu, gezeigt in dem erst vor zwei Jahren eröffneten Kellertheater Apollo 111 (siehe Aurora- Magazin vom 4. Mai 2017: "In revolutionärer Mission"). Kein Wunder, ist doch das von der orthodoxen Kirche unterstützte umstrittene Referendum zur Verfassungsänderung und Verschärfung des Verbots der gleichgeschlechtlichen Ehe erst vor Kurzem gescheitert.

Zur Anregung des Dialogs zwischen Eltern und Jugendlichen diente der Text von Alexa Băcanu Alles ist äußerst normal. Auf spielerische Art und Weise inszenierte Leta Popescu im Replika-Bildungstheater-Zentrum die Thematik der Sexualerziehung in Schulen. Denn obwohl die rumänische Gesetzgebung dies vorschreibt, bleibt sexuelle Aufklärung in der Praxis noch immer ein Tabu. Das durch einen halbdurchsichtigen Vorhang in zwei Gruppen geteilte Publikum – die Eltern saßen auf einer Seite und die Jugendlichen auf der anderen – wurde von zwei Schauspielern aufgefordert, Fragen zu beantworten. Solche interaktiven Momente wurden mit Monologen zu einem gelungenen und lehrreichen Abend zusammengeführt.

Ganz anders das Gastspiel des Nationaltheaters "Mihai Eminescu" aus Chişinău. Regisseurin Luminita Ţâcu beleuchtete mit Hannoch Levins Krum besonders kritische Aspekte wie unerfüllte Träume und Fehlentscheidungen. Diese betreffen aber nicht nur die Republik Moldau, sondern auch Rumänien, dessen Bevölkerung wegen der riesigen Zahl der im Ausland arbeitenden Menschen in den letzten Jahren sichtbar geschrumpft ist. Situationskomik, gut eingesetzte Videos und eine leichtfüßig-witzige Choreografie zeichnen die Arbeit Ţâcus aus. Die Inszenierung war modern, körperbetont und dennoch im Rollenverständnis ganz konservativ. Eine schauspielerische Glanzleistung des gesamten Ensembles!

Viermal Radu Afrim

   Besondere Aufmerksamkeit wurde Radu Afrim geschenkt. Der arrivierte Regisseur, bekannt für seine leuchtend-surrealen Inszenierungen, war mit nicht weniger als vier Inszenierungen im Programm vertreten: Rabenthal von Jörg Graser (eine Produktion des Ungarischen Staatstheaters "Csiky Gergely" Temeswar), Betrunkene von Iwan Wyrypajew ("Tompa Miklos"-Gruppe des Nationaltheaters Târgu Mureş), Wolfgang (Jugendtheater Piatra Neamţ – siehe Aurora Magazin vom  23. November 2017: "Zehn Jahre buntes Treiben: Junges Theater in Iaşi") und Über Menschen und Kartoffeln ("Andrei Mureşanu" Theater Sfântu Gheorghe). Für letzteres Stück zeichnet Afrim auch als Autor verantwortlich. Es handelt sich dabei um eine Performance aus dem Genre des Dokumentartheaters und dreht sich um eine Art "Arbeitsunfall", ein tragisches Ereignis, bei dem neun Personen, meist ungarische Roma, ihr Leben verloren. Die Arbeiter, die sich ihre Existenz mit einer warmen Mahlzeit, einem Eimer Kartoffeln und 25 Lei (weniger als sechs Euro, Anm.) pro Tag sicherten, wurden vom Zug auf einem unbeschrankten Bahnübergang erfasst. Schuld daran war der Fahrer ihres Traktors. Roma-Kinder und -Jugendliche aus Sfântu Gheorghe agierten zusammen mit professionellen Schauspielern. Dazu wurden mehrmals Filmprojektionen auf eine Leinwand eingespielt. Hinterbliebene erzählten darin auf Rumänisch oder Ungarisch ihre traurigen Geschichten. Angereichert mit den vom Spielleiter gewohnten typischen Musik- und Tanzeinlagen wurde das Stück so zu einem weiteren bemerkenswerten Teil des typischen Afrim-"Universums".

Abgerundet wurde die Auswahl rumänischer Werke durch überragende Produktionen der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz (Fräulein Julie), Complicitè aus London (eine Bühnenadaption von Stefan Zweigs Roman Ungeduld des Herzens), Dead Center aus Dublin (Chekov's First Play), Peeping Tom (Moeder/Mutter) und Nederlands Dans Theatre. Dass sich das Festival trotz seiner im Titel angeführten "nationalen" Ausrichtung immer auch um bedeutende Auslandskünstler als Gäste bemüht hat, ist allerdings nichts Neues. Seit 2007 gastierten in der rumänischen Hauptstadt unter anderem Thomas Ostermeier, Romeo Castellucci und Robert Lepage. Neben diesen weltweit bekannten Namen reihten sich 2018 diejenigen von Katie Mitchell und Simon McBurney.

   Das Programm bot auch Produktionen für Kinder und Jugendliche, wie Mama, ich habe meinen Arm verloren! von Maria Kontorovich (Jugendtheater Piatra Neamţ) und Rotkäppchen, eine Adaption von Regisseur Felix Alexa am Ţăndărică Puppen- und Marionettentheater Bukarest. Für erwähnenswert halte ich auch den neu gegründeten Festival-Hub, nicht zuletzt, weil er als wichtiger Treffpunkt und Veranstaltungsort im Stadtzentrum diente.

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