Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Zwischen Beständigkeit und Neuschöpfung

Vielfalt, Kreativität, Innovationskraft: Das spiegelt sich in den aktuellen Performance-
und Theaterproduktionen wider, die beim rumänischen Nationaltheaterfestival zu sehen
waren. Pandemiebedingt mussten die Festspiele zum zweiten Mal in Folge ins Internet
ausweichen, generierten dort aber eine bemerkenswerte Präsenz. Der Zugang zu den
knapp vierzig Inszenierungen war bei allen Streams kostenlos, die meisten
Aufzeichnungen für 48 Stunden mit englischen Untertiteln verfügbar.

Von Irina Wolf
(18. 12. 2021)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.
 


(c) TNC


"Herz- und andere
Fleischgerichte
"
(Regie: Radu Afrim)


(c) Iulian Ursachi

"Stadt der armen
Mädchen
"
(Regie: Radu Afrim)


(c) Ovidiu Ungureanu

"Tiadora"
(
Regie: Maria Mano-
lescu Bor
şa)




(c) Florin Ghioca


"Komm, lass uns über
das Leben reden!
"
(
Regie: Zsuzsánna Kovács)


(c) Marius Sumlea


"Zu 98% die richtige
Entscheidung
"
(
Regie: Elena Morar)


(c) Bogdan Botas

"All die Dinge, die Alois
mir weggenommen hat
"
(
Regie: Cosmin Stănilă)


(c) Sabina Reus

"Katzelmacher. Wenn das
mit der Liebe nicht wär
"
(
Regie: Eugen Jebeleanu)


(c) Vlad Catana

"Nebenwirkungen"
(
Regie: Vlad Bălan)


(c) Nicu Cherciu


"
Chiriţa in Quarantäne"
(Regie: Ada Milea)


(c) Suveg Karoly


"Die Bakchen
"
(Regie: Dragoş-Alexan-
dru Muşoiu
)


(c) Volker Vornehm


"Einer flog über das
Kuckucksnest
"
(Regie: Eugen Geymant)

 

   Für das Konzept "Kreation. Entspannung. Neuschöpfung" (Creation. Recreation. Re-Creation) zeichneten die Theaterkritiker Oana Cristea Grigorescu, Cristina Rusiecki und Claudiu Groza verantwortlich. "Dieser Strukturvorschlag spiegelt am besten den Status quo der rumänischen Theaterszene wider", meint Claudiu Groza. Das Kreationsmodul deckte den Bereich der Originalproduktionen ab, die die verschiedenen ästhetischen Formen und ideologischen Standpunkte der Szene fortführen; die Entspannungskomponente unternahm den Versuch, eine aktuelle Aufnahme der Welt in parodistisch-komischen Zügen zu skizzieren; das Neuschöpfungsmodul zeigte die von den Künstlern unterbreiteten Vorschläge zur Überwindung der Lockdowns. Eine eigene Komponente wies auf moderne Klassikerinszenierungen hin. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Schaffen der Regisseurinnen. Traditionsgemäß gehörten zum Programm auch einige Tanz- und ausländische Produktionen.

Die Magie des Radu-Afrim-Universums

   Den Auftakt machte Herz- und andere Fleischgerichte (Gewinner des UNITER-Preises 2021 in der Kategorie "Beste Aufführung"). Wie in einem Puzzle kommen Annäherungsversuche, Liebkosungen und Ablehnungen zwischen verschiedenen Personen zu einer fesselnden Inszenierung zusammen. Die auf den Texten des Schriftstellers Dan Coman basierende Produktion des Nationaltheaters aus Craiova ist ein mutiger Ansatz zur Beleuchtung der emotionalen und sozialen Nebenwirkungen der aktuellen Gesundheitskrise. Radu Afrims atemberaubendes Inszenierungskonzept ist am Puls unseres hektischen Zeitgeschehens. Ergänzt wird die unterhaltsame und zugleich poetische Aufführung durch eine fulminant musikalische Untermalung. Und über allem schwebt ein riesiger Schmetterling als Symbol des gesamten Diskurses.

Der arrivierte Regisseur, bekannt für seine leuchtend-surrealen Inszenierungen, war mit einer weiteren Produktion im Programm vertreten. Die Frau und ihr Körper sind die Leitmotive im Stück Stadt der armen Mädchen, die Afrim ausgehend von Radu Tudorans Kurzgeschichten kreierte. Prostitution ist nur ein Vorwand für eine lyrische Reise durch die Prosa des rumänischen Schriftstellers. Volkslieder und Live-Klavier-Akkorde erzeugen zusätzliche Emotionen. Im Allgemeinen üben Musik und Choreografie einen magischen Sog aus.

Frauenseele und -körper im Fokus

   Über den Zustand der Frau spricht auch Cassandra, eine Produktion des unabhängigen Theaters Apollo111 in Bukarest. Auf humorvoll-ironische Weise untersucht das Stück des Kanadier-Duos Norah Sadava und Amu Nostbakken (Originaltitel "Mouthpiece") die Dualität des Frauengehirns und die Mutter-Tochter-Beziehung. Leta Popescus Inszenierung überzeugt durch eine körperlich herausfordernde Choreografie. Zum Erfolg der Aufführung tragen auch die zwei hervorragenden Schauspielerinnen und nicht zuletzt ein bemerkenswertes Bühnenbild bei.

Im Allgemeinen behandelten zahlreiche Produktionen unterschiedliche Frauenaspekte: Misshandlung, Schwangerschaft bei Minderjährigen oder die Art, wie sich der gesellschaftliche Druck auf Frauen auswirkt. Auffallend waren dabei die von jungen rumänischen Dramatikerinnen verfassten, inhaltlich sehr guten Texte. Tiadora von Maria Manolescu Borşa (preisgekrönter Text des Bacău Monodrama Wettbewerbs 2019) blickt auf das Leben einer misshandelten Frau zurück, während sie sich aus dem achten Stockwerk ihrer Wohnung stürzt. Demütigungszustände, Schuld, Scham, Angst, Revolte bilden ein emotionales Ineinander. Es sind acht ungewöhnliche Geschichten, je eine für jedes Stockwerk, für die die Erzählerin ihren Freifall unterbricht. Sorin Militarus Inszenierung hebt die Schauspielerin Eliza Noemi Judeu hervor (für ihre Leistung für den UNITER-Preis 2021 nominiert) und beeindruckt zugleich durch die begleitende Livemusik und den heiteren Animationsfilm. Eine One-Woman-Show ist auch Komm, lass uns über das Leben reden!. Ana Sorina Corneanus Stück (Gewinner des UNITER-Preises 2019) ist ein Monolog über die existenziellen Fragen einer jungen Tänzerin, die sich weigert, sich dem Leben ihrer Freundinnen anzupassen. Zum einen ist da die großartige schauspielerische Leistung von Florentina Ţilea, zum anderen die raffinierte Inszenierung von Zsuzsánna Kovács, die vor allem durch Schattenspiele, Musik und Choreografie besticht.

   Zu 98% die richtige Entscheidung stellt das Dilemma eines 17-jährigen schwangeren Mädchens in den Vordergrund. Andreea Tănases Stück beleuchtet die Reaktionen der Menschen aus dem Familien- und Freundeskreis. Verzweiflung, Gleichgültigkeit, Verwunderung oder Verachtung werden wie in einem Gefühlskarussell zum Ausdruck gebracht. Regisseurin Elena Morar gelingt eine spannende Inszenierung dieses wichtigen Themas, denn Rumänien nimmt einen Spitzenplatz ein in der jährlichen Statistik der Europäischen Union über die Anzahl der Schwangerschaften bei Minderjährigen. Die kurze, aber heftige Debatte über diese Produktion des Jugendtheaters in Piatra Neamţ, welcher sowohl von der Politik als auch von der Kirche Pornografie vorgeworfen wurde, zeugt von der Relevanz des Themas.

Mit All die Dinge, die Alois mir weggenommen hat gibt Cosmin Stănilă, ein junger Schauspieler am Nationaltheater Klausenburg, sein Dramatikerdebüt. Sein Stück verfolgt einerseits den zunehmend schmerzhaften Verlauf der Alzheimerkrankheit bei einer großen Schauspielerin. Andererseits wird die Mutter-Sohn-Beziehung untersucht: Der junge Mann opfert Karriere und Privatleben, um seine leidende Mutter zu beschützen und zu betreuen. In der Rolle der Mutter glänzt Emöke Kató, Gewinnerin des UNITER-Preises 2021 für "Beste Schauspielerin". Für die szenische Umsetzung zeichnet Andrei Măjeri verantwortlich.

Die junge männliche Regiegeneration

   Neben einem "Gastspielˮ-Modul, gewidmet Regiestars wie Silviu Purcărete, Gábor Tompa oder Alexandru Dabija, zeigte das Festival hauptsächlich Werke von Regisseuren unter vierzig und beinhaltete sogar einige Regiedebüts. Eine starke Herangehensweise an Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher. Wenn das mit der Liebe nicht wär liefert Regisseur Eugen Jebeleanu. Film und Theater fließen ineinander in der Auslotung des Fremdenhasses und der schlechten Lebensbedingungen der rumänischen Erntehelfer in Deutschland. Bewundernswert ist die Leistung des sehr jungen Schauspielers Niko Becker, einem Neuzugang des Deutschen Staatstheaters in Temeswar, in der äußerst anspruchsvollen Hauptrolle. Becker ist auch Protagonist der Produktion Après Ski. In dem von ihm selbst entwickelten Konzept nach einem Text von Klaus Eckel spielt Becker einen durchschnittlichen Mann, der zum jährlichen Ärztekongress in ein Skigebiet fährt. Als er eine Minute nach der letzten offiziellen Bergfahrt in einem Sessellift festsitzt und die Nacht darin verbringen muss, ändert sich seine Lebenseinstellung.

Die größte Sensation lieferte Nebenwirkungen, das Regiedebüt des Schauspielers Vlad Bălan. Beleuchtet wird die Pharmaindustrie, denn die Protagonisten des Stücks der Britin Lucy Prebble (Originaltitel "Wirkungskraft") sind zwei junge Menschen, die ihre Körper einem großen Pharmakonzern anbieten, das Experimente für ein neues Antidepressivum durchführt. Zwar kommen die beiden jungen Testpersonen freiwillig und gegen Bezahlung in den für das Experiment vorgesehenen Raum, aber die räumliche Umgebung schaut einer psychiatrischen Anstalt ähnlich. Vlad Bălans Inszenierung zieht das Publikum in einen Sog, nimmt es mit auf eine rauschhafte Reise um die Liebe.

Höhepunkte – musikalisch, klassisch, brandaktuell

   Zu den Höhepunkten des Festivals gehörte Chiriţa in Quarantäne, eine Konzert-Show von Ada Milea nach Matei Milo. Mit viel schwarzem Humor analysiert die Produktion des Nationaltheaters in Klausenburg die Quarantänegewohnheiten der Rumänen. Der Robotertechnologie wortwörtlich gegenübergestellt, ist die emblematische Figur der rumänischen Literatur die Quintessenz der rumänischen Gesellschaft. Ein anderes Festivalhighlight war die von Euripides "Die Bakchen" inspirierte Produktion des Nordtheaters Satu Mare Die Bakchen (ohne Maske). Maria Manolescu Borşas freie Neufassung und Dragoş-Alexandru Muşoius Inszenierung im Freien, im Innenhof des Theaters, schlagen ein sozial-politisches Theater vor.

Mit viel Spannung wurde die hochgelobte Produktion Zerschnittenes Grün erwartet. Einerseits handelt es sich um ein Werk von unabhängigen Künstlern in der Stadt Zalău, die kein Theater besitzt. Andererseits wird darin zum ersten Mal die Holzmafia angesprochen. Das Stück der jungen Dramatikerin Alexandra Felseghi befindet sich an der Schnittstelle zwischen Sozial-und Dokumentartheater. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit: Die Ermordung eines Försters, der einen illegalen Holzeinschlag unterbinden wollte. Trotz aller Bemühungen um Gerechtigkeit scheint die Korruption allgegenwärtig und allmächtig zu sein. Adina Lazărs Inszenierung besteht aus einer Abfolge von realistischen Szenen, die ab und zu durch Videos unterbrochen werden. Vor allem das minimalistische Bühnenbild ist symbolisch: Baumstümpfe bestimmen den Bühnenraum.

Medienkunstperformances

   Obwohl die Theater in der letzten Saison oft pandemiebedingt geschlossen wurden oder in der unangenehmen Lage waren, nur dreißig bis fünzig Prozent der Sitzplätze zu nützen, ist der Premierenreigen sowie die Themen- und Formenvielfalt beeindruckend. Auch in Rumänien experimentierten Künstler während der Lockdowns mit der Technologie. Zu den erwähnenswerten Digital-Ergebnissen gehören die immersive Show im VR-Format Einer flog über das Kuckucksnest nach Ken Kesey (Drehbuch und Regie Eugen Geymant; eine Produktion des "Andrei Mureşanu" Theaters aus Sfântu Gheorghe) und VIP – Very Isolated Person, eine Performance über die Entfremdung des Künstlers während der Quarantäne (Konzept und Regie Paula Lynn Breuer und Olga Török, Schauspielerin des Deutschen Staatstheaters Temeswar). Ein beeindruckendes Großprojekt war Der Hektomeron-Tag. Die 25-stündige Performance des Nationaltheaters aus Craiova, in der 100 Regisseure aus der ganzen Welt Geschichten aus Boccacios "Das Dekameron" in die Gegenwart übertragen, entstand in diesem Frühjahr als Reaktion auf die durch die Pandemie verursachte soziale Distanz. Auch drei Werke der Online-Aufführungsplattform des Nationaltheaters aus Hermannstadt waren Teil des Festivalprogramms.

Zu guter Letzt wurde der vor zwei Monaten unerwartet verstorbene Ion Caramitru gesondert gewürdigt. Durch seine visionäre Persönlichkeit und nicht zuletzt durch seine künstlerischen Fähigkeiten übte Caramitru eine besondere Wirkungskraft aus. Er war Schauspieler, Regisseur, sechzehn Jahre lang Direktor des Nationaltheaters Bukarest, seit 1990 Gründer und Präsident des Vereins der rumänischen Theater (UNITER). Das Modul "In memoriam Ion Caramitru" verknüpfte Interviews, Talkshows, Radio- und Fernsehsendungen, deren Protagonist der einflussreiche Künstler ein halbes Jahrhundert lang gewesen war.

Fazit: Das Nationaltheaterfestival bleibt eine Plattform zur Unterstützung und Förderung der rumänischen Theaterszene. Die vom künstlerischen Leiter-Trio Oana Cristea Grigorescu, Cristina Rusiecki und Claudiu Groza ausgewählten Produktionen haben es geschafft, aktuelle Fragen und Empfindungen anzusprechen sowie lustvoll zum Nachdenken anzuregen in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist.

Ausdrucken?

....

Zurück zur Übersicht