Für
das Konzept "Kreation. Entspannung. Neuschöpfung" (Creation. Recreation.
Re-Creation) zeichneten die Theaterkritiker Oana Cristea Grigorescu,
Cristina Rusiecki und Claudiu Groza verantwortlich. "Dieser
Strukturvorschlag spiegelt am besten den Status quo der rumänischen
Theaterszene wider", meint Claudiu Groza. Das Kreationsmodul deckte den
Bereich der Originalproduktionen ab, die die verschiedenen ästhetischen
Formen und ideologischen Standpunkte der Szene fortführen; die
Entspannungskomponente unternahm den Versuch, eine aktuelle Aufnahme der
Welt in parodistisch-komischen Zügen zu skizzieren; das Neuschöpfungsmodul
zeigte die von den Künstlern unterbreiteten Vorschläge zur Überwindung der
Lockdowns. Eine eigene Komponente wies auf moderne Klassikerinszenierungen
hin. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Schaffen der Regisseurinnen.
Traditionsgemäß gehörten zum Programm auch einige Tanz- und ausländische
Produktionen.
Die Magie des
Radu-Afrim-Universums
Den
Auftakt machte Herz- und andere Fleischgerichte
(Gewinner des UNITER-Preises 2021 in der Kategorie "Beste Aufführung"). Wie
in einem Puzzle kommen Annäherungsversuche, Liebkosungen und Ablehnungen
zwischen verschiedenen Personen zu einer fesselnden Inszenierung zusammen.
Die auf den Texten des Schriftstellers Dan Coman basierende Produktion des
Nationaltheaters aus Craiova ist ein mutiger Ansatz zur Beleuchtung der
emotionalen und sozialen Nebenwirkungen der aktuellen Gesundheitskrise. Radu
Afrims atemberaubendes Inszenierungskonzept ist am Puls unseres hektischen
Zeitgeschehens. Ergänzt wird die unterhaltsame und zugleich poetische
Aufführung durch eine fulminant musikalische Untermalung. Und über allem
schwebt ein riesiger Schmetterling als Symbol des gesamten Diskurses.
Der arrivierte Regisseur, bekannt für seine
leuchtend-surrealen Inszenierungen, war mit einer weiteren Produktion im
Programm vertreten. Die Frau und ihr Körper sind die Leitmotive im Stück
Stadt der armen Mädchen, die Afrim ausgehend von Radu Tudorans
Kurzgeschichten kreierte. Prostitution ist nur ein Vorwand für eine lyrische
Reise durch die Prosa des rumänischen Schriftstellers. Volkslieder und
Live-Klavier-Akkorde erzeugen zusätzliche Emotionen. Im Allgemeinen üben
Musik und Choreografie einen magischen Sog aus.
Frauenseele und -körper im Fokus
Über
den Zustand der Frau spricht auch Cassandra, eine Produktion des
unabhängigen Theaters Apollo111 in Bukarest. Auf humorvoll-ironische Weise
untersucht das Stück des Kanadier-Duos Norah Sadava und Amu Nostbakken
(Originaltitel "Mouthpiece") die Dualität des Frauengehirns und die
Mutter-Tochter-Beziehung. Leta Popescus Inszenierung überzeugt durch eine
körperlich herausfordernde Choreografie. Zum Erfolg der Aufführung tragen
auch die zwei hervorragenden Schauspielerinnen und nicht zuletzt ein
bemerkenswertes Bühnenbild bei.
Im Allgemeinen behandelten zahlreiche Produktionen
unterschiedliche Frauenaspekte: Misshandlung, Schwangerschaft bei
Minderjährigen oder die Art, wie sich der gesellschaftliche Druck auf Frauen
auswirkt. Auffallend waren dabei die von jungen rumänischen Dramatikerinnen
verfassten, inhaltlich sehr guten Texte. Tiadora von Maria Manolescu
Borşa (preisgekrönter Text
des Bacău Monodrama Wettbewerbs 2019) blickt auf das Leben einer
misshandelten Frau zurück, während sie sich aus dem achten Stockwerk ihrer
Wohnung stürzt. Demütigungszustände, Schuld, Scham, Angst, Revolte bilden
ein emotionales Ineinander. Es sind acht ungewöhnliche Geschichten, je eine
für jedes Stockwerk, für die die Erzählerin ihren Freifall unterbricht.
Sorin Militarus Inszenierung hebt die Schauspielerin Eliza Noemi Judeu
hervor (für ihre Leistung für den UNITER-Preis 2021 nominiert) und
beeindruckt zugleich durch die begleitende Livemusik und den heiteren
Animationsfilm. Eine One-Woman-Show ist auch Komm, lass uns über das
Leben reden!. Ana Sorina Corneanus Stück (Gewinner des UNITER-Preises
2019) ist ein Monolog über die existenziellen Fragen einer jungen Tänzerin,
die sich weigert, sich dem Leben ihrer Freundinnen anzupassen. Zum einen ist
da die großartige schauspielerische Leistung von Florentina Ţilea, zum
anderen die raffinierte Inszenierung von Zsuzsánna Kovács, die vor allem
durch Schattenspiele, Musik und Choreografie besticht.
Zu
98% die richtige Entscheidung
stellt das Dilemma eines 17-jährigen schwangeren Mädchens in den
Vordergrund. Andreea Tănases Stück beleuchtet die Reaktionen der Menschen
aus dem Familien- und Freundeskreis. Verzweiflung, Gleichgültigkeit,
Verwunderung oder Verachtung werden wie in einem Gefühlskarussell zum
Ausdruck gebracht. Regisseurin Elena Morar gelingt eine spannende
Inszenierung dieses wichtigen Themas, denn Rumänien nimmt einen Spitzenplatz
ein in der jährlichen Statistik der Europäischen Union über die Anzahl der
Schwangerschaften bei Minderjährigen. Die kurze, aber heftige Debatte über
diese Produktion des Jugendtheaters in Piatra Neamţ,
welcher sowohl von der Politik als auch von der Kirche Pornografie
vorgeworfen wurde, zeugt von der Relevanz des Themas.
Mit All die Dinge,
die Alois mir weggenommen hat gibt Cosmin Stănilă, ein junger
Schauspieler am Nationaltheater Klausenburg, sein Dramatikerdebüt. Sein
Stück verfolgt einerseits den zunehmend schmerzhaften Verlauf der
Alzheimerkrankheit bei einer großen Schauspielerin. Andererseits wird die
Mutter-Sohn-Beziehung untersucht: Der junge Mann opfert Karriere und
Privatleben, um seine leidende Mutter zu beschützen und zu betreuen. In der
Rolle der Mutter glänzt Emöke Kató, Gewinnerin des UNITER-Preises 2021 für
"Beste Schauspielerin". Für die szenische Umsetzung zeichnet Andrei Măjeri
verantwortlich.
Die junge männliche Regiegeneration
Neben
einem "Gastspielˮ-Modul, gewidmet Regiestars wie Silviu Purcărete,
Gábor Tompa oder Alexandru Dabija, zeigte das Festival hauptsächlich Werke
von Regisseuren unter vierzig und beinhaltete sogar einige Regiedebüts. Eine
starke Herangehensweise an Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher. Wenn
das mit der Liebe nicht wär liefert Regisseur Eugen Jebeleanu. Film und
Theater fließen ineinander in der Auslotung des Fremdenhasses und der
schlechten Lebensbedingungen der rumänischen Erntehelfer in Deutschland.
Bewundernswert ist die Leistung des sehr jungen Schauspielers Niko Becker,
einem Neuzugang des Deutschen Staatstheaters in Temeswar, in der äußerst
anspruchsvollen Hauptrolle. Becker ist auch Protagonist der Produktion
Après Ski. In dem von ihm selbst entwickelten Konzept nach einem Text
von Klaus Eckel spielt Becker einen durchschnittlichen Mann, der zum
jährlichen Ärztekongress in ein Skigebiet fährt. Als er eine Minute nach der
letzten offiziellen Bergfahrt in einem Sessellift festsitzt und die Nacht
darin verbringen muss, ändert sich seine Lebenseinstellung.
Die größte Sensation lieferte Nebenwirkungen, das
Regiedebüt des Schauspielers Vlad Bălan. Beleuchtet wird die
Pharmaindustrie, denn die Protagonisten des Stücks der Britin Lucy Prebble
(Originaltitel "Wirkungskraft") sind zwei junge Menschen, die ihre Körper
einem großen Pharmakonzern anbieten, das Experimente für ein neues
Antidepressivum durchführt. Zwar kommen die beiden jungen Testpersonen
freiwillig und gegen Bezahlung in den für das Experiment vorgesehenen Raum,
aber die räumliche Umgebung schaut einer psychiatrischen Anstalt ähnlich.
Vlad Bălans Inszenierung zieht das Publikum in einen Sog, nimmt es mit auf
eine rauschhafte Reise um die Liebe.
Höhepunkte – musikalisch, klassisch, brandaktuell
Zu
den Höhepunkten des Festivals gehörte Chiriţa in Quarantäne, eine
Konzert-Show von Ada Milea nach Matei Milo. Mit viel schwarzem Humor
analysiert die Produktion des Nationaltheaters in Klausenburg die
Quarantänegewohnheiten der Rumänen. Der Robotertechnologie wortwörtlich
gegenübergestellt, ist die emblematische Figur der rumänischen Literatur die
Quintessenz der rumänischen Gesellschaft. Ein anderes Festivalhighlight war
die von Euripides "Die Bakchen" inspirierte Produktion des Nordtheaters
Satu Mare Die Bakchen (ohne Maske). Maria Manolescu Borşas
freie Neufassung und Dragoş-Alexandru
Muşoius
Inszenierung im Freien, im Innenhof des Theaters, schlagen ein
sozial-politisches Theater vor.
Mit viel Spannung wurde die hochgelobte Produktion
Zerschnittenes Grün erwartet. Einerseits handelt es sich um ein Werk von
unabhängigen Künstlern in der Stadt Zalău, die kein Theater besitzt.
Andererseits wird darin zum ersten Mal die Holzmafia angesprochen. Das Stück
der jungen Dramatikerin Alexandra Felseghi befindet sich an der
Schnittstelle zwischen Sozial-und Dokumentartheater. Die Geschichte basiert
auf einer wahren Begebenheit: Die Ermordung eines Försters, der einen
illegalen Holzeinschlag unterbinden wollte. Trotz aller Bemühungen um
Gerechtigkeit scheint die Korruption allgegenwärtig und allmächtig zu sein.
Adina Lazărs Inszenierung besteht aus einer Abfolge von realistischen
Szenen, die ab und zu durch Videos unterbrochen werden. Vor allem das
minimalistische Bühnenbild ist symbolisch: Baumstümpfe bestimmen den
Bühnenraum.
Medienkunstperformances
Obwohl
die Theater in der letzten Saison oft pandemiebedingt geschlossen wurden
oder in der unangenehmen Lage waren, nur dreißig bis fünzig Prozent der
Sitzplätze zu nützen, ist der Premierenreigen sowie die Themen- und
Formenvielfalt beeindruckend. Auch in Rumänien experimentierten Künstler
während der Lockdowns mit der Technologie. Zu den erwähnenswerten
Digital-Ergebnissen gehören die immersive Show im VR-Format
Einer flog über das Kuckucksnest nach Ken Kesey (Drehbuch und Regie
Eugen Geymant; eine Produktion des "Andrei Mureşanu" Theaters aus Sfântu
Gheorghe) und VIP – Very Isolated Person, eine Performance über die
Entfremdung des Künstlers während der Quarantäne (Konzept und Regie Paula
Lynn Breuer und Olga Török, Schauspielerin des Deutschen Staatstheaters
Temeswar). Ein beeindruckendes Großprojekt war Der Hektomeron-Tag.
Die 25-stündige Performance des Nationaltheaters aus Craiova, in der 100
Regisseure aus der ganzen Welt Geschichten aus Boccacios "Das Dekameron" in
die Gegenwart übertragen, entstand in diesem Frühjahr als Reaktion auf die
durch die Pandemie verursachte soziale Distanz. Auch drei Werke der
Online-Aufführungsplattform des Nationaltheaters aus Hermannstadt waren Teil
des Festivalprogramms.
Zu guter Letzt wurde der vor zwei Monaten unerwartet
verstorbene Ion Caramitru gesondert gewürdigt. Durch seine visionäre
Persönlichkeit und nicht zuletzt durch seine künstlerischen Fähigkeiten übte
Caramitru eine besondere Wirkungskraft aus. Er war Schauspieler, Regisseur,
sechzehn Jahre lang Direktor des Nationaltheaters Bukarest, seit 1990
Gründer und Präsident des Vereins der rumänischen Theater (UNITER). Das
Modul "In memoriam Ion Caramitru" verknüpfte Interviews, Talkshows, Radio-
und Fernsehsendungen, deren Protagonist der einflussreiche Künstler ein
halbes Jahrhundert lang gewesen war.
Fazit:
Das Nationaltheaterfestival bleibt eine Plattform zur Unterstützung und
Förderung der rumänischen Theaterszene. Die vom künstlerischen Leiter-Trio
Oana Cristea Grigorescu, Cristina Rusiecki und Claudiu Groza ausgewählten
Produktionen haben es geschafft, aktuelle Fragen und Empfindungen
anzusprechen sowie lustvoll zum Nachdenken anzuregen in einer Zeit, die aus
den Fugen geraten ist.