Irina Wolf:
Herr Habjan, wie kam es zur
"Puppenliebe"?
Nikolaus Habjan: Mein erstes Theatererlebnis war
mit vier Jahren, als ich in der Grazer Oper Mozarts Zauberflöte
gesehen habe. Von da an war für mich klar, dass ich diese Oper
wiedersehen muss. Als wir dann eine Reise nach Salzburg gemacht haben
und ich auf dem Spielplan des dortigen Marionettentheaters Die
Zauberflöte am Programm gesehen habe, war ganz klar: Ich muss das
sehen! Diese Verbindung von Oper und Puppentheater, das war’s dann für
mich! Ich hab’ das gesehen und wusste: Das ist meins!
Irina Wolf: In Ihren Inszenierungen verwenden
Sie eine ganz besondere Art von Puppen: die Klappmaulpuppe. Was hat Ihr
Interesse an dieser Puppenart geweckt?
Nikolaus Habjan:
In Graz gibt es das Sommertheaterfestival La Strada, das, wie der Name
schon sagt, in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt stattfindet.
Als ich ein Kind war, lag der Schwerpunkt dieses Festivals noch auf dem
Puppenspiel. Und so war die ganze Stadt voll mit Puppen und lebensgroßen
Figuren. Ich hatte seit meinem Zauberflöten-Besuch in Salzburg
begonnen, Marionetten zu sammeln, um mein eigenes Puppenensemble
aufzubauen und meine ersten eigenen Inszenierungen zu realisieren. Ich
war dreizehn Jahre alt, als dann auf dem La-Strada-Festival eine
englischsprachige Produktion von Hamlet zu Gast war, die mich
wahnsinnig beeindruckt hat. Und als dann im nächsten Jahr ein Workshop
mit Neville Tranter angeboten wurde, habe ich mich angemeldet. Diese
Begegnung war für uns beide prägend. Ich habe in den folgenden Jahren
mehrere Workshops bei ihm absolviert und das Handwerk des
Klappmaulpuppenbaus und -spiels erlernt. Da die Klappmaulpuppen
lebensgroß sind, kann man auch sehr große Bühnen bespielen. Und sie
ermöglichen es einem, unglaublich spontan zu sein und auf das Publikum
in einem Maße zu reagieren, wie es etwa mit Marionetten nicht möglich
ist.
Irina Wolf: Sie entwerfen und bauen die Puppen
selbst. Worauf achten Sie da besonders? Aus welchem Material sind die
Puppen? Und was sind die Inspirationsquellen für Ihre Puppen?
Nikolaus Habjan:
Die Puppen sind aus den verschiedensten Materialien. Manche sind genäht,
so wie die Zawrel-Kinderpuppe, manche aus einem Damenstrumpf mit Watte
gefüllt und mit Latex modelliert. Manchmal schnitze ich einen Kopf aus
Schaumstoff, überziehe ihn mit Latex, schnitze die großen Furchen und
die Nase und verpasse ihm Glasaugen oder Kunstkristalle. Manche Puppen
modelliere ich in Ton, dann mache ich einen Silikon-Negativabdruck,
gieße das anschließend mit einem ganz leichten Kunststoff aus und
schäume den Kopf aus. Ich versuche immer zu experimentieren, ich habe
keine spezielle Methode. Gute Gesichter findet man überall, aber die
U-Bahn in Wien ist schon ein Highlight. Das Gesicht allein ist es aber
nicht. Es geht auch um die Träger und ihre Ticks. Manchmal springt’s mir
direkt aus dem Kopf, manchmal gärt das so. Ich sehe eine Frisur, eine
Nase oder irgendeine Eigenheit und das formt sich dann immer mehr. Ich
habe immer ein Notizbüchlein bei mir, um Skizzen anzufertigen. Manchmal
muss ich sofort ins Atelier, um diese Puppe zu bauen, manchmal liegen
diese Skizzen auch Monate. In der Regel verbinde ich mit dem Aussehen
bereits den Charakter.
Irina Wolf: Die von Ihnen inszenierten Werke im
Theaterbereich sind, unter anderem, Das Missverständnis, Faust.
Der Tragödie erster Teil, Nathan der Weise, Am
Königsweg, Der Leichenverbrenner, Die Blendung. Wie
entscheiden Sie sich für einen Text bzw. wie wählen Sie die Texte aus?
Die meisten der oben erwähnten Werke bringen das Böse im Menschen
heraus. Wieso dieses Interesse für die "böse Seite"?
Nikolaus Habjan:
Es geht nicht um das Böse schlechthin, sondern um Menschen, die sich
über andere stellen, und um die Unterdrückten, denen ich eine Plattform
geben möchte. Ich beschäftige mich mit dem Menschen an sich und seiner
Umwelt und verarbeite in meinen Stücken das, was einen umgibt. Es ist
meine politische Haltung. Ich bin stets am Tagesgeschehen interessiert.
Denken Sie an die Probleme im Nahen Osten und nehmen Sie das Stück
Nathan der Weise als Beispiel, das noch genauso aktuell wie zu
seiner Entstehungszeit vor 200 Jahren ist. Das gilt für alle meine
Stücke, sie sind hochpolitisch und trotz ihrer frühen Entstehungszeit
aktuell.
Wenn Sie unter der bösen Seite den bösen Humor
verstehen, so bin ich seit meiner Kindheit damit versorgt worden. Meine
Eltern waren große Fans von Helmut Qualtinger und Georg Kreisler. Das
hat sichtbare Spuren in meiner Psyche hinterlassen. Aber es ist mir auch
wichtig, dass man als Zuschauer lachen kann. Theater muss verführen!
Egal, ob es um Unterhaltung geht, oder darum, dem Publikum einen
kritischen Spiegel vorzuhalten, am Anfang muss eine Verführung
stattfinden.
Irina Wolf: In Die Blendung, Ihre
Inszenierung, die ich vor Kurzem im Landestheater NÖ sehen durfte, sind
nur die Nebenfiguren durch Puppen gestaltet. Wie fällt die Entscheidung,
welche Figuren von Schauspielern gespielt und welche von Puppen
dargestellt werden?
Nikolaus
Habjan
: Das
ergibt sich bei mir ganz intuitiv. Wenn ich ein Stück lese oder mich ein
Stoff "anspringt", weiß ich, das muss ich machen. Ich sage immer "wenn
das Kopfkino losgeht". Es muss mich bewegen, ärgern oder amüsieren. Und
es stellt sich immer die Frage, ob ich mit oder ohne Puppen arbeite.
Puppen sind mein Markenzeichen geworden, aber ich setze sie nur ein,
wenn ich davon überzeugt bin, dass sich dadurch ein Mehrwert oder neue
Ebenen ergeben.
Irina Wolf: Eines Ihrer Hauptprojekte ist F.
Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig. Wieso war es Ihnen
wichtig, sich mit dem Leben von Friedrich Zawrel zu beschäftigen?
Erzählen Sie uns bitte mehr über dieses dokumentarische Figurentheater,
von dem auch eine DVD erhältlich ist.
Nikolaus Habjan:
Ja, das ist mein wichtigstes Stück, weil ich mit Friedrich Zawrel einen
unglaublichen Menschen kennenlernen durfte, der mir sehr viel an
Lebensphilosophie mitgegeben hat. Er hat mir sein Leben erzählt und
gemeint: "Mach was G'scheits draus". So entstand dieses Stück, das eines
der schwärzesten Kapitel der österreichischen Geschichte behandelt:
Friedrich Zawrel kam als Kind in die Fachabteilung Spiegelgrund für
Kinderpsychiatrie in Wien, er wurde verhaltenstechnischen und
medizinischen Versuchen ausgesetzt. Er konnte 1944 fliehen. Dreißig
Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus begegnete er dem
damaligen Oberarzt Heinrich Gross wieder, der nun als Gerichtsgutachter
aktiv war und ihn als schweren Psychopathen diagnostizierte. In der
Folge wurde Zawrel für sechs Jahre inhaftiert. Erst 2004 wurde er
rehabilitiert. Sein Schicksal ist symptomatisch für das
NS-Unrechtsregime, dessen Opfer er war, und für die Probleme der
Vergangenheitsbewältigung auch im Justizbereich. Die Geschichte hat mich
so gepackt, dass es gar nicht möglich gewesen wäre, das Stück nicht zu
machen. Am Anfang dachte ich, es würde ein Flop werden, in den ersten
Vorstellungen hatten wir im Schubert-Theater, das 72 Plätze zählt, nur
vierzehn Besucher. Ich war trotzdem froh, es gemacht zu haben, für mich
und für Friedrich Zawrel, der das Stück auch noch gesehen hat. Nach
einem Monat wurde es ein totaler Erfolg; ich spiele es nach elf Jahren
noch regelmäßig und das in der Regel bei ausverkaufter Vorstellung im
In- und Ausland. Es hat den Nestroypreis 2012 in der Kategorie "Beste
Off-Produktion", den Schweizer Kulturpreis "Grünschnabel" 2014 und 2016
den Wolfgang Swoboda-Preis für "Menschlichkeit im Strafverfahren"
bekommen.
Irina Wolf: Noch während Ihres Studiums haben Sie
zusammen mit Regisseur Simon Meusburger das Schubert-Theater in Wien
gegründet, ein "Figurentheater für Erwachsene". Wie kam es dazu? Und was
ist das Besondere an diesem Theater?
Nikolaus Habjan:
Ich habe 2008 begonnen, im Schubert-Theater zu arbeiten. Simon
Meusburger hat meine "Herr Berni"-Puppe gesehen und gemeint, dass man da
etwas machen solle. So entstand das Stück Schlag sie tot. Das war
der Beginn des Figurentheaterschwerpunkts. In Österreich gibt es bis
heute keine Ausbildungsstätte für Puppentheater. Vielmehr verstand und
versteht man darunter Kasperl für Kinder.
Die ersten Produktionen wie Michael Jackson,
Freaks, Der Herr Karl, F. Zawrel – alle mit meinen
Puppen waren erfolgreich und machten das Publikum neugierig auf dieses
Genre. Einladungen zu Gastspielen, Festivals und auf große Bühnen
folgten. So entwickelte sich das Schubert-Theater zu dem einzigen
Figurentheater für Erwachsene in Wien. Heute organisiert Lisa Zingerle,
die mit Simon Meusburger das Haus leitet, ein eigenes Festival. Das
Theater ist zur Heimat von jungen Puppenspielern geworden und gastiert
mit seinen Produktionen regelmäßig im In- und Ausland.
Irina Wolf: Sie sind auch Opernregisseur und
Kunstpfeifer. Wie unterscheidet sich der Einsatz der Puppen in einer
Theateraufführung gegenüber einer Opernvorstellung? Wie "spielen"
Opernsänger mit Puppen bzw. Puppenspieler zusammen?
Nikolaus Habjan:
Inzwischen inszeniere ich mehr in der Oper als im Schauspielhaus.
Puppenspiel ist an sich schon sehr musikalisch. Es hat viel mit Technik
und Timing zu tun. In der Oper können sich die Opernsänger am Rhythmus
festhalten. Im Theater gebe ich daher bei den Proben Musik vor, die ich
dann weglasse, wenn der Rhythmus sitzt. Das ursprüngliche Hobby
"Kunstpfeifen" hat mich bereits in viele Konzertsäle, darunter auch in
die Elbphilharmonie in Hamburg geführt.
Irina Wolf: Sie bereiten soeben die Premiere von
L'Orfeo, der Oper von Claudio Monteverdi, an der Semperoper in
Dresden vor. Was ist Ihnen besonders wichtig an diesem Werk? Was wird
die Zuschauer da erwarten?
Nikolaus Habjan:
Orfeo ist die älteste Oper. Mich fasziniert, die Bedeutung des
Lebens und Todes in diesem Werk. Puppentheater ist die Theaterform, die
am nächsten an diese Darstellungsform kommt. Die Puppe ist ein lebloses
Objekt, das nur durch die Spieler zum Leben erweckt wird, sie wird
animiert. In diesem Wort steckt "Anima", die Seele. Meine Philosophie:
Realität auf der Bühne ist unmöglich; ich will Wahrhaftigkeit auf der
Bühne erzeugen.
Irina Wolf: Und welches sind Ihre zukünftigen
Projekte?
Nikolaus
Habjan: Mein
nächstes Projekt ist Die schöne Müllerin in der Staatsoper Berlin
gemeinsam mit Florian Boesch und der Musikbanda Franui. Es gibt
Gastspiele im Schauspielhaus Graz (Der Herr Karl am 13. Juni und
Ich pfeife auf die Oper am 14. Juni), F. Zawrel in der
Josefstadt Wien am 15. Juni und am 20. Juni in Hartheim. Auf meiner
Homepage finden Sie alle meine Termine.
Irina Wolf:
Vielen Dank!