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achdem
die Aufführungen im Sommer 2021 aufgrund der Pandemie wenige Tage nach der
Premiere unterbrochen werden mussten, wurde Latellas Hamlet vom 1.
bis zum 30. Oktober 2022 in der Sala Melato des Piccolo Teatro in Mailand
wieder gezeigt. Schon beim Betreten des kreisförmigen Saales wird klar, dass
das Publikum auf Balkonen in verschiedenen Stockwerken 270 Grad um die Bühne
herumgesetzt ist. So kann die Inszenierung aus allen Perspektiven gleich
richtig betrachtet werden. Schauspieler nehmen die Zuschauer im Parkett wahr
und wenden sich oft interaktiv an sie. Dies ist in der Tat typisch für das
Shakespeare-Theater, in dem das Publikum als Vertreter der Bürgerschaft in
einem Amphitheater-ähnlichen Raum positioniert ist und häufig mit den
Schauspielern interagiert.
Eine Fülle von Regieeinfällen, mal ernst und nachdenklich
und dann wieder völlig überraschend komisch, lassen die sechseinhalb Stunden
wie im Fluge vergehen (die zwei Teile der Aufführung konnten entweder an
zwei aufeinanderfolgenden Abenden oder als Gesamtvorstellung am Wochenende
genossen werden). Das minimalistische Bühnenbild verweist auf ein
mittelarmes Theater, dessen wahrer Reichtum die Stimmen und Körper der
Schauspieler sind. Auf der fast nackten Bühne befindet sich im Vordergrund
ein Betstuhl, auf dem Hamlet kniend seinen vorgetäuschten Wahnsinn und seine
Qual zeigt. Die dahinter platzierten Holzbänke erinnern an das Innere einer
Kirche. Es ist ein heiliges Gegenteil zum religiösen Konformismus der Macht.
Darüber hinaus gibt es wenige spektakuläre Effekte. Dabei ist der Einsatz
von Farbe von zentraler Bedeutung. Die einzige Ausnahme ist die Szene, die
Hamlets langem Monolog gewidmet ist und in der er über die Arbeit des
Schauspielers spricht. Tatsächlich scheint Latella dieser Reflexion über das
Theater viel Bedeutung beigemessen zu haben, vielleicht gerade um sein
Engagement als Regisseur und seine Beteiligung an dem Text aus
professioneller Sicht zu unterstreichen.
Auch die Kostüme setzen in ihrer nur scheinbaren
Ernsthaftigkeit ein starkes Zeichen. Sie sind nüchtern und modern. Hamlets
Drama erscheint zeit- und raumlos. Schwarz und Weiß sind die dominierenden
Farben: Trauer und Schuld scheinen neben Unschuld und Reinheit der Seele
bestimmende Charakteristika von Shakespeares Meisterwerk zu sein. Damit
erweist sich Latellas Hamlet als Allround-Show. Vor allem zum
Anschauen, aber auch zum Fühlen und Wahrnehmen. Die Inszenierung ist um
einen Zeremonienmeister und zugleich Interpreten von Horatio herum
strukturiert. Er ist der Einzige, der einen blauen Anzug trägt. Alle anderen
sind am Anfang in Weiß gekleidet und befinden sich gleichzeitig auf der
Bühne, auch wenn sie nicht wirklich als Charaktere agieren. Einige von ihnen
besetzen den von den Zuschauern frei gelassenen Teil des Parketts und
betreten von dort aus die Bühne. "Wir wollten damit deutlich machen, dass
wir alle Hamlet sind, ich meine die Hamlet-Figur", sagt Latella. Die weißen
Kostüme sind nicht nur der Widerruf eines Geistes, sondern auch für viele
Schauspieler eine Nummer zu groß. "Die Erklärung liegt im 'Scheitern' eines
Kostüms, das nicht getragen werden kann, also eines Textes, dem wir niemals
nachkommen können", begründet der Regisseur seine Wahl. Im zweiten Teil der
Aufführung, nach dem Tod von Polonius, tragen alle schwarze Trauerkleidung
mit hohem Kragen, Mieder und weitem Rock im elisabethanischen Stil.
Frauen- und Männerrollen
Die
Inszenierung beruht auf dem intensiven körperlichen und emotionalen Einsatz
der Schauspieler. Bereichert wird das Ganze um eine Huldigung von Giorgio
Strehlers Theater, so etwa in der Szene, in welcher die Bühne mit den
Kostümen des Piccolo-Archivs in einer kreisförmigen Anordnung gefüllt wird.
Das wichtigste Merkmal der Inszenierung ist aber die Rollenvergabe. Während
in der viktorianischen Ära sogar weibliche Charaktere Männern anvertraut
wurden, werden hier einige männliche Figuren von Frauen gespielt.
Zunächst Hamlet, der von der jungen Schauspielerin
Federica Rosellini verkörpert wird. Eine charmante und mehrdeutige Frau
Hamlet, die es mit ihrer Energie und szenischen Stärke schafft, die
Zuschauer in ein neues Universum zu entführen, jenseits aller
Geschlechterstereotypen. Denn für Antonio Latella geht der Hamlet des 21.
Jahrhunderts über Sexualität und über den Geschlechterunterschied zwischen
Frauen und Männern hinaus. Nicht umsonst ist Rosellini Gewinnerin des
Ubu-Preises 2021: "Beste Schauspielerin unter 35 Jahren". Federica Rosellini
ist nicht die einzige spezielle Frauenfigur in dieser Inszenierung. Es gibt
auch die hervorragende Anna Coppola, die sowohl den Geist von Hamlets Vater
als auch den Totengräber-Clown darstellt. Der Geist wirkt respektlos
spöttisch, denn die Schauspielerin ist von einem Laken bedeckt, auf das ein
"Ghostbusters"-Gesicht gezeichnet ist; fast eine Blasphemie. Shakespeares
Klassiker wird mit der Gegenwart in Einklang gebracht.
Auch durch die Mehrrolleninterpretation der Schauspieler
wird die Komik der Inszenierung hervorgehoben. Dies ist der Fall bei Andrea
Sorrentino, der sowohl Rosencrantz als auch Guildenstern verkörpert, ein
Paar identischer Individuen; ein Element, das der Regisseur offenbar
unterstreichen wollte, indem er die lächerliche Seite ihrem unvermeidlichen
tragischen Ende gegenüberstellte.
Wasser und Erde
Latella
wählt den Tod des Polonius (entsprechend dem Ende des dritten Aktes) als
Element der Zäsur, um die beiden Teile des Abends zu trennen. Die Wahl ist
tatsächlich effektiv, denn im zweiten Teil erleben wir eine unglaubliche
Rhythmussteigerung. Durch den stärkeren Einsatz von Musik und Mikrofon fügt
der Regisseur viel mehr Pathos und Emotion in das Geschehen ein.
Was das Bühnenbild betrifft, so spielt eine Falltür in
der Mitte der Bühne eine wirkungsvolle Rolle. Es ist ein von Hamlet
enthülltes quadratisches Loch, das durch Heben jedes einzelnen Brettes
freigegeben wird. Diese Grube nimmt unterschiedliche Funktionen ein: Zuerst
ist es Aufführungsort für die Schauspieler, die Gonzagos Ermordung auf der
Bühne darstellen. Danach wird das Loch mit Wasser gefüllt. Denn Latella
entscheidet sich dafür, Ophelias Tod auf eine nüchterne und elegante Weise
darzustellen: Die Schauspielerin springt in das Wasser und beginnt wie eine
Tote zu treiben. Im letzten Akt ist die Grube jedoch mit Erde gefüllt: Es
ist ein Friedhof, der Ort, an dem die Selbstmörderin begraben wurde, und
Schauplatz der berühmten Totengräberszene. Wasser und Erde sind die
charakteristischen Elemente der beiden letzten Akte der Tragödie.
Die
Entscheidung, das Ende der Tragödie zu erzählen anstatt darzustellen, ist
besonders wirkungsvoll. Der finale Dialog zwischen Hamlet und Horatio ist
nur zu hören: Horatio rezitiert am Rednerpult die entsprechende Passage. Es
sind die Geister, die in der Luft schweben, die uns an die Anwesenheit der
Figuren erinnern; die Magie des Theaters erlaubt es, sie darzustellen.
Horatio erinnert sehr an einen Priester, der eine Messe feiert. Und die
Szene ähnelt einer Beerdigung. Latella inszeniert eine letzte Salbung.
Andererseits ist es auch Hamlets Massaker. So wandern die in Trauer
gekleideten Figuren durch den Raum auf der Suche nach ihrer Bühnenidentität.
Dem Gesang (sowohl Hamlet als auch Ophelia singen Lieder)
und der Musik wurde ebenfalls viel Gewicht beigemessen. Anfangs trägt
Laertes Ophelias Musik in sich. Er sitzt am Klavier, kann aber nicht
spielen: Er schlägt nur kurz auf die Tasten, die keine Töne erzeugen. Die
Melodie wird erst explodieren, wenn die Schauspieler am Hof ankommen und den
Wahnsinn mit sich bringen, der nicht nur Ophelia, sondern alle befällt.
Während sich der Wahnsinn ausbreitet, fallen die Noten wie Regentropfen.
Antonio
Latellas Hamlet – Gewinner des 2021 Ubu-Preises für "Beste
Produktion" – ist ein absolutes Theatererlebnis. Die höchst originelle,
texttreue und zugleich erhellend-visionäre Neuinterpretation von
Shakespeares Meisterwerk wird zu einer tiefgründigen kognitiven Erfahrung,
an die man sich lange und gerne zurückerinnert.