Irina Wolf:
Das internationale Theaterfestival für junges Publikum feierte dieses
Jahr sein 10-jähriges Jubiläum. Warum haben Sie sich für das Thema
"Horizonte" entschieden?
Oltiţa Cîntec:
Das diesjährige Konzept beabsichtigte, die Offenheit von FITPT, den
interkulturellen Dialog zu fördern und ein möglichst breites Publikum zu
erreichen, hervorzuheben. Ich habe mich vor allem auf geografische Horizonte
konzentriert, sodass wir Gäste aus sechs Kontinenten und 29 Ländern in Iaşi
hatten. Aber Quantität war nicht mein einziges Ziel. Ich widmete mich
gleichfalls der Ästhetik. Somit umfasste das Programm die
unterschiedlichsten Darbietungsformen der darstellenden Kunst: Schauspiel-,
Tanz- und Puppentheater, Musical, Zirkus, Theater der Roma, Performances
sowie Lesungen, Buchpräsentationen, Ausstellungen, Workshops und vieles
mehr. Als Intendantin beachte ich auch unsere inneren Wünsche, was wir auf
der Bühne oder in unkonventionellen Spielstätten sehen möchten. Im
Allgemeinen versuche ich mich bei der Programmgestaltung in die Lage des
Zuschauers zu versetzen und mir vorzustellen, womit ich ihn überraschen
könnte, sodass emotionale Begegnungen zwischen Publikum und Künstler
entstehen.
Irina
Wolf:
Das Programm präsentierte sich so umfangreich wie noch nie. Welches
waren die Höhepunkte dieser Jubiläumsausgabe?
Oltiţa Cîntec:
Die 10. Auflage eines Festivals ist an sich ein besonderes Ereignis. Daher
habe ich auch einen Prolog am 30. September vorbereitet, um die
Aufmerksamkeit der nationalen Theatergemeinschaft und des Publikums zu
erregen. Es ist mir gelungen, Peter Schumanns weltbekannte Gruppe "Bread and
Puppet Theater" aus den USA zum ersten Mal nach Rumänien zu bringen. Diese
zeigten auf ihre bekannte Art und Weise die politische Show basic byebye
cantastoria, eine Suite von fünf Gesängen. Es war ein fabelhaftes
Erlebnis. Kollegen aus Bukarest und Temeswar wollten sich diese Chance nicht
entgehen lassen und sind speziell dafür nach Iaşi angereist. Die US-Künstler
haben ihre Tradition respektiert, ein paar Stunden vor der Show Roggenbrot,
das sie gleich nach der Aufführung mit dem Publikum teilen, selbst
vorzubereiten. Sie haben ihr eigenes Mehl mitgebracht und den Teig geknetet,
ihn dann ruhen lassen und das Brot gebacken. Dieses wurde zusammen mit einer
Knoblauch-Petersilie-Soße sofort nach Vorstellungsschluss serviert. Alles
wurde nach den traditionellen Rezepten von Schumanns Mutter vorbereitet.
Denn der Künstler stammt aus Schlesien, von wo er nach Übersee ausgewandert
ist.
Der zweite absolute Höhepunkt von FITPT 2017 war die Ausstellung
Selfie Automation, mit der Rumänien bei der Architekturbiennale
in Venedig 2016 vertreten war. Die Ausstellung wurde dann in Utrecht
gezeigt und anschließend "zu Hause" in Iaşi. Ich habe schon immer für
FITPT solche Exklusivitäten verfolgt, denn nur so können die Festspiele
in der überreichlichen Festivallandschaft ihre Attraktivität behalten.
2017 hatten wir über 500 Teilnehmer, unter anderem aus Vietnam, Kanada,
Senegal, Burkina Faso, Brasilien, Australien, Neuseeland, USA. Viele von
ihnen waren zum ersten Mal in Rumänien. Exklusives zu zeigen ist eines
unserer "Geheimnisse". Eben aus diesem Grund glaube ich, dass FITPT von
der Brüsseler European Festival Association den Titel "Bemerkenswertes
Festival" erhalten hat!
Irina
Wolf:
Zusätzlich zu Theateraufführungen wurden zahlreiche Bücher präsentiert.
Welche Position nimmt das Theaterbuch im kulturellen Leben Rumäniens
ein?
Oltiţa Cîntec:
Ich bin überglücklich, dass ich zusammen mit meinen Kolleginnen der AICT.Ro
(Internationalen Vereinigung der Theaterkritiker von Rumänien), dessen
Präsidentin ich bin, einen dritten zweisprachigen Band (Rumänisch-Englisch)
herausgebracht habe. Den Büchern "Der junge Theaterkünstler. Aktuelle
rumänische Geschichten" und "Die rumänische Regie, vom Theaterakt zum
Gemeinschaftsverfahren" folgte jetzt "Das rumänische Theater heute. Neue
ästhetische Horizonte". Es handelt sich um eine analytische Trilogie, die
ich koordiniert habe und die sehr gut im In- und Ausland aufgenommen wurde,
denn es gibt nicht genügend Werke über die lokale Szene, die in einer
Weltsprache geschrieben sind. Die ersten beiden Bände der Schriftenreihe
wurden sehr geschätzt. Sie wurden auch auf der AICT-Webseite in Paris
veröffentlicht.
Außerdem habe ich auch ein zweisprachiges Fotoalbum über FITPT
herausgegeben, das ein Jahrzehnt Festivalgeschichte in Bildern und
Pressemitteilungen widerspiegelt. Das Interesse an Theaterbüchern hat in
den letzten Jahren zugenommen. Es gibt Sammlungen von Facharbeiten bei
den rumänischen Verlagen Theater Heute (Teatrul Azi) oder Nemira.
Außerdem werden von anderen Festivals landesweit Fachbücher
herausgegeben. Jedoch gibt es noch viele offene Themen. Deshalb versuche
ich mich, soweit möglich, der Herausgabe von wissenschaftlichen
Publikationen zu widmen.
Irina
Wolf:
Ein Ausnahmeereignis dieser Festivalausgabe war der internationale
Workshop für Theaterkritik. Wie kam es dazu? Wie wichtig ist ein
Theaterkritiker?
Oltiţa Cîntec:
Das internationale Seminar der Theaterkritik wurde in Zusammenarbeit mit der
schon früher erwähnten AICT organisiert. Diese fördert nicht nur
Theaterpublikationen, sondern auch die Weiterbildung junger Kritiker. Und
dafür werden Seminare organisiert. So gab es in diesem Herbst weltweit drei
solche Seminare: in Iaşi, in China und in Indien. Diese Veranstaltungen
geben jungen Theaterkritikern die Möglichkeit, Produktionen zu besuchen,
neue Künstler und Kritiker kennenzulernen, viel zu schreiben und zu
veröffentlichen. Einzige Bedingung ist, dass die Jugendlichen nicht älter
als 35 sein sollten.
Der Theaterkritiker ist ein wichtiger Bestandteil des Theatergeschehens.
Ungeachtet der Liebe-Hass-Beziehung, die es schon immer zwischen
Künstlern und Kritikern gegeben hat, ist der Kritiker derjenige, der den
Kreis der Schöpfung schließt. Durch seine Expertenanalyse ist er das
Bindeglied zwischen Szene und Publikum. In der Publikation "Das
rumänische Theater heute. Neue ästhetische Horizonte" habe ich mich
genau diesem Thema gewidmet. Der Titel meines Beitrags war "Die
Theaterkritik von der Ära Gutenberg zur Zuckerberg-Etappe". Darin
bespreche ich, wie wichtig es ist, dass unsere Spezialisten im Zeitalter
zunehmender Technologie und dem ständigen Wegfall von Publikationen im
Druckformat anpassungsfähig bleiben sollen, damit sie weiterhin über die
Schöpfungen der Bühne berichten können.
Irina
Wolf:
In diesem Jahr ist FITPT insbesondere in quantitativer Hinsicht
gewachsen. Welche zukünftige Entwicklung wird das Festival nehmen?
Oltiţa Cîntec:
Das Thema für die nächste Auflage steht noch nicht fest, aber ich habe schon
ein paar Ideen. So viel ist sicher: Das Programm wird weiterhin so
abwechslungsreich und verlockend sein wie bisher.