Theaterregisseurin
und Dramatikerin Catinca Drăgănescu, in deren Händen die künstlerische
Gesamtleitung des Showcases liegt,
beschreibt die Absicht hinter INDEPENDENT EXTERIOR so: "Wir wollen eine
Präsentationsplattform sein, die auf internationaler Ebene Künstler,
Produktionen und Institutionen der rumänischen unabhängigen
Performancebranche fördert." Dass sich die erste Auflage nur auf die
rumänische Hauptstadt konzentrierte, hat finanzielle Gründe, man sei aber
bestrebt, in den nächsten Ausgaben das ganze Land abzudecken.
Austragungsorte, NGOs,
Vereine, Festivals – eine Vielfalt von Produzenten
Ausgewählt wurden die
Beiträge von der Theaterjournalistin, Übersetzerin und Kuratorin Raluca
Rădulescu. "Die rumänische unabhängige Theaterszene hat eine fast 25-jährige
Geschichte", erläutert Rădulescu und meint, dass in Bukarest die Zahl der
Freien Theater fast so hoch sei wie die der staatlich geförderten. Unter der
Auswahl der Veranstaltungsorte finden sich unter anderem zentral gelegene
private Theater wie das LUNI-Theater@Green Hours (Anm. d. A.: das
"Montag-Theater"), Apollo111 und unteatru, aber auch solche,
die sich außerhalb der Stadtmitte befinden, zum Beispiel das
Replika-Zentrum für Bildungstheater oder das Apropo-Theater.
Letzteres ist seit 2018 der einzige Austragungsort im wichtigen Industrie-
und Geschäftsviertel Pipera.
INDEPENDENT EXTERIOR hat
sich nicht nur dem Theater verschrieben. "In den letzten Jahren erlebte der
zeitgenössische Tanz in der Bukarester Freien Szene einen regelrechten
Boom", sagt Rădulescu. Tanzaufführungen werden in Theatern produziert (z. B.
im unteatru und Apropo-Theater) oder in tanzspezifischen Räumlichkeiten wie
Linotip. Performative Kunst wird im Allgemeinen auch von NGOs wie
Dialectic Center und Tangaj Collective oder Festivals (z. B.
Caleido) gefördert. Einen gesonderten Platz nimmt der Verein der
Großzügigkeitsoffensive ein, der seit 2013 die "Saison des Politischen
Theaters" an verschiedenen Orten austrägt.
All die unabhängigen
Theaterunternehmen und -gruppen setzen wichtige Impulse für Innovationen und
Experimente in Kunst und Kultur. Besonders auffallend ist dabei, dass
sämtliche Vereine und Spielstätten erst im letzten Jahrzehnt gegründet
wurden. Eine Ausnahme bildet das LUNI-Theater, das 1997 als erster privater
Austragungs- und Produktionsort in der Jazz-Bar "Green Hours" ins Leben
gerufen wurde. Viele der ästhetischen Neuerer und jungen Talente, die in
diesem Jahrhundert das rumänische Theater belebt haben, wurden im intimen
Kellertheater von der Presse entdeckt.
Frausein im Wandel der Zeit
Migration,
Feminismus, Mängel im Gesundheitswesen sind nur einige der Themen, die die
Aufmerksamkeit der Regisseure weckten. So setzte sich unter dem Titel
Cassandra Leta Popescu mit dem Zustand der Frau auseinander. Auf
humorvoll-ironische Weise untersucht das Stück des kanadischen Duos Norah
Sadava und Amu Nostbakken (Originaltitel "Mouthpiece")
Mutter-Tochter-Beziehungen
und die Dualität des
Frauengehirns. Leta Popescus Inszenierung im
Apollo111-Theater überzeugt durch eine körperlich herausfordernde
Choreografie. Zum Erfolg der Aufführung tragen auch die zwei hervorragenden
Schauspielerinnen und nicht zuletzt ein bemerkenswertes Bühnenbild bei.
Mit der Komplexität des
Frauseins beschäftigt sich auch Bildungswoman. Die Produktion des
Caleido-Festivals verwebt zwei Texte – den der mexikanischen Dramatikerin
Ximena Escalante ("Ich schreie von ganzem Herzen auf zum Himmel") und den
der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie ("Liebes
ljeawele: ein weibliches Manifest in 15 Vorschlägen") – mit den persönlichen
Geschichten der Regisseurin Elena Morar sowie der zwei Schauspielerinnen, um
Frauenbeziehungen zu untersuchen. Die effektvolle Performance erkundet in
Form einer aufsehenerregenden Collage von Theater- und Filmszenen die
weibliche Identität. Mihaela Michailov und Radu Apostol, Gründer des
Replika-Zentrums für Bildungstheater, nähern sich dem Thema Muttersein aus
ganz unterschiedlichen Perspektiven an. Die One-Woman-Performance Die
ganze Stille der Welt in Radu Apostols Regie, der auch für das
Lichtdesign verantwortlich zeichnet, dokumentiert ein paar Stunden im Leben
einer alleinerziehenden Mutter.
Krisen und
ihre gesellschaftlichen Folgen
Mutter
lautet auch der Titel der
Produktion des Dialectic Centers. Doch geht es im Text von Mihai Lukacs mehr
um das Leben in einer nach einer Katastrophe neu erfundenen Welt. Nach
US-amerikanischem Muster lassen sich die Ursprünge dieses neuen Lebensraums
auf Verschwörungen und Geldgier zurückführen. Mihai Lukacs setzt seinen
eigenen Text in eine Musiktheater-Performance mit leicht komischen Akzenten
um. Die gospelähnlich vorgetragene Musik von Maria Sgârcitu verstärkt auf
subtile Weise die Tücken dieser vom spirituellen Kapitalismus geprägten
Welt.
Als Gründer des Vereins
der Großzügigkeitsoffensive widmet sich Regisseur David Schwartz bereits
seit über einem Jahrzehnt wahren Begebenheiten der rumänischen Geschichte.
Das zusammen mit Mihaela Michailov geschriebene Stück Erhitzte Köpfe 2020
untersucht die Zerbrechlichkeit des Gesundheitssystems in unserer
pandemischen Gegenwart. Dagegen verhandelt Catinca Drăgănescu in Das
Kampffeld die Geschichte eines jungen Asiaten, der in Europa ein
besseres Leben sucht. Nach "Rovegan" und "Good for Export" ist die
Produktion von unteatru der letzte Teil von Drăgănescus Migrationstrilogie.
Catinca Drăgănescu
beeindruckt mit zwei weiteren außergewöhnlichen Inszenierungen. Zwischen
familiärer Bindung und politischem Gewissen wirft Moskau ruft an
einen Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Julia Pospelowas Stück
untersucht Swetlana Allilujewas Beziehung zu ihrem Vater Josef Stalin, vor
dessen Macht sie in die Vereinigten Staaten geflohen war. Drăgănescus
szenische Umsetzung im unteatru bietet dem Publikum ein intensives
theatralisches Kinoerlebnis, in dem die Kamera zur Hauptfigur und die
Rekonstruktion der Wahrheit ein individuell zu lösendes Rätsel werden.
Ausgehend von Interviews und dokumentarischem Material präsentiert
DISCO '89 – Mihaela Runceanus 7 Todesarten
die letzten Tage der bekannten rumänischen Sängerin aus verschiedenen
Blickwinkeln, bevor sie zwei Monate vor dem Sturz des Ceauşescu-Regimes in
ihrer Wohnung brutal ermordet wurde. Auch diese Produktion des
Apollo111-Theaters führt das Publikum in das 20. Jahrhundert zurück und
konfrontiert die Zuschauer mit dem perfiden rumänischen Überwachungssystem.
Theaterdebüts, Tanz, Aspekte des Mannseins
Zu
den (noch) unbekannten Regisseurinnen gehören Andreea Lucaci und Alina
Tofan, die im Rahmen des Showcases ihre Debüts vorstellten. Versucht Alina
Tofan in Was ist Liebe? Baby, tu mir nicht weh die Liebe zu
definieren, widmet sich Andreea Lucaci der Zerstörung unseres Planeten.
Letzteres ist eine musikalisch-komische Performance einer Gruppe von frisch
gebackenen Absolventen, ausgetragen im LUNI-Theater@Green Hours. Besonders
beachtlich ist die Leistung von Alina Tofan, die für Text, Regie und
Bühnenbild verantwortlich zeichnet, und zugleich auch in "Was ist Liebe?
Baby, tu mir nicht weh" mitspielt.
Vier aktuelle
Tanzproduktionen waren ebenfalls Teil des Showcases, darunter zwei
One-Woman-Tanzshows: Katastrophe von und mit Andreea Gavriliu und
Umgekehrter Diskurs von und mit Ioana Marchidan. Die kollektive Kreation
Jenseits des Spiegels erforscht mit poetisch-musikalischen
Ausdrucksformen das Körperbild in unserer Gesellschaft. Radu Popescu,
Gründer und Leiter des Apropo-Theaters, zeichnet für Dramaturgie und Regie
verantwortlich. Koproduktionen des zeitgenössischen Tanzes entstehen in
Bukarest auch mit Unterstützung des staatlich finanzierten Nationalen
Tanzzentrums. Töchter von Simona Deaconescu ist so eine
Zusammenarbeit mit Tangaj Collective. In dieser spartenübergreifenden
Tanz-Theater-Produktion auf Rollschuhen geht es um das wiederkehrende Thema
Frausein und auch um den Generationenkonflikt.
Einen
Kontrapunkt zum Feminismus bildet Medea's Boys. Ausgehend von
Euripides' Stück, verhandelt Autor Ionuţ Sociu in seiner Dekonstruktion der
Argonauten-Legende und der Geschichte des Goldenen Vlieses Männerthemen wie
Verletzlichkeit, Machismo und Frauenfeindlichkeit. Andrei Măjeris
hochgelobte Inszenierung im Apollo111-Theater ist die einzige der im Rahmen
des Showcases gezeigten Produktionen, die vor dem Ausbruch der Pandemie
entstanden ist.
Die erste Ausgabe von
INDEPENDENT EXTERIOR, eine von Idea77 ins Leben gerufene
Präsentationsplattform, zeigte herausragende Arbeiten, die jenseits des
klassischen Stadttheaterapparates produziert wurden und dabei vor allem
durch ästhetische Alternativen und Ansätze das Theater als Medium getestet,
erweitert und befragt haben. Tägliche auf Zoom ausgestrahlte Diskussionen
ergänzten das Programm.