Vom
Namen darf man sich nicht täuschen lassen: In Sartres Kurzgeschichte geht es
nicht um den altgriechischen Brandstifter Herostratos, der vor zweitausend
Jahren lebte und durch die Zerstörung des Artemis-Tempels von Ephesus, eines
der sieben Weltwunder der Antike, zu unsterblicher Berühmtheit gelangen
wollte. Bei Sartres Protagonisten handelt es sich vielmehr um einen gewissen
Paul Hilbert, einen Angestellten, der in einer Handelsfirma arbeitet und
allein im sechsten Stock eines Pariser Wohnhauses lebt. Wobei die Höhe hier
von Bedeutung ist: "Die Menschen muss man von oben sehen", mit diesem Satz
beginnt Hilbert seine Geschichte. Diese Höhe versetzt ihn in den Stand,
Menschen aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, was ihm ein Gefühl der
Überlegenheit vermittelt.
Die Erzählung ist 1939
geschrieben worden, doch ist sie aktueller denn je. Paris, Brüssel, London,
Halle, Maelbeek und vor ein paar Monaten Wien. Ein "Oaschloch", ein Mann,
fast immer ist es ein Mann, der das Bedürfnis hat, ein Massaker anzurichten.
Doch in Kai Krösches Dramatisierung von Sartres Kurzgeschichte, die Anfang
Februar im Werk X-Petersplatz gezeigt wurde, wird der Täter von einer Frau
verkörpert. Schauspielerin und Performerin Victoria Halpert ist Paul
Hilbert. Sie trägt einen weißen Overall. Es fehlt nur noch die Maske und man
könnte meinen, Victoria Halpert wäre ein im Kampf gegen das Coronavirus
engagiertes Sanitätspersonal. Eine geschickte Täuschung, die von Anfang an
für Aufmerksamkeit sorgt.
Bis
auf die weibliche Darstellerin bleibt Regisseur Kai Krösche der Erzählung
treu. Victoria Halper erzählt, wie Paul Hilbert eines Tages einen Revolver
erwirbt und diesen in seiner Hosentasche trägt, wenn er über die Pariser
Boulevards flaniert. Allmählich empfindet er den Zwang, von Zeit zu Zeit
nach dem "Gegenstand" zu tasten. Und eines Abends, als er sich aufmacht, um
wie gewöhnlich nach einer Prostituierten zu suchen, kommt ihm der Gedanke,
auf Menschen zu schießen. Seitdem Hilbert diesen Entschluss gefasst hat,
geht er nicht mehr ins Büro. Bald wird er entlassen. Seine freie Zeit nutzt
er, um einen Brief zu entwerfen, von dem er hundertzwei Kopien anfertigt,
die er an genauso viele Schriftsteller schickt, um sie darin über sein
Vorhaben zu informieren: "Sicher sind Sie neugierig, nehme ich an, zu
erfahren, wie ein Mensch aussieht, der die Menschen nicht liebt. Nun – so
einer bin ich, und ich liebe sie so wenig, dass ich sogleich ein halbes
Dutzend von ihnen töten werde. Vielleicht werden Sie sich fragen: warum nur
ein halbes Dutzend? Mein Revolver fasst nur sechs Patronen" – fünf davon
sind für Passanten, die ihm begegnen werden, die sechste Kugel wird er
vielleicht sich selbst verpassen, um einer Verhaftung zu entgehen. Ist die
Entlassung eines der möglichen Motive für das Verbrechen von Paul Hilbert?
Sartres Täter fühlt sich seiner Umgebung entfremdet. Er sucht etwas
Bestimmtes, um die Blicke auf sich zu lenken, womit er Stolz empfinden kann,
das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
Victoria Halper versteht
es hervorragend, Paul Hilberts geistige Verwirrung und gestörte
Persönlichkeit widerzuspiegeln. Sie entpuppt sich als Meisterin der
Verwandlung, vor allem in der Szene mit der Prostituierten, einer reglosen
Puppe. Paul Hilberts Verhältnis zu Frauen ist gestört. Er verlangt von
ihnen, vor ihm entkleidet im Zimmer auf und ab zu gehen, bis er in seine
Hose ejakuliert. Der intime Verkehr mit einer Frau lässt ihn befürchten,
"bestohlen worden zu sein". Es ist nicht nur das Make-Up, das verstörte
Gesicht, das Hilberts Neurose anschaulich macht. Halpers Stimme, ihre
gesamte Körperhaltung sind überzeugende Beweise von der Neigung des
Protagonisten zum Morden.
Dazu
kommen noch eine Reihe verstörender Visionen. Während sich im Hintergrund
eine diffuse Masse von nackten, gesichtslosen Frauen profiliert, werden
immer wieder Textteile und Videos von Bombenangriffen (Sartres Erzählung ist
kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erschienen, Anm.) auf die
durchsichtige Leinwand, welche das Publikum von der Bühne trennt,
projiziert. Verantwortlich für die Visuals zeichnen Matthias Krische und Kai
Krösche. Den beiden gelingt es, den schmalen Grat zwischen Gut und Böse
souverän darzustellen. Sorgfältig ausgewählte Musik unterstreicht die
Konfliktsituation und weckt Emotionen. Nicht zuletzt erinnert das nüchterne
Bühnenbild an die Wüste der Zerstörung, die der Zweite Weltkrieg
hinterlassen hat: Im starken Kontrast mit der umgebenden Dunkelheit stehen
mittig auf der Bühne ein gedeckter Esstisch, sechs Stühle und versteinerte
Menschen – alle leuchten in reinem Weiß. Es wirkt, als wären die Menschen im
letzten Moment ihres Lebens erstarrt (Raum: Matthias Krische).
Gegen Ende schreitet
Victoria Halper zum Wiener Graben hinaus. In einer Hand hält sie eine
Videokamera, in der anderen den Revolver. Welche Passanten sie auswählen
wird, sei hier nicht verraten. Es sei nur so viel gesagt, dass alle
unverletzt bleiben. Kai Krösche ist eine außergewöhnliche Bühnenumsetzung
von "Herostrat" gelungen!