Es sind insgesamt fünfzehn
Jugendliche, die sich im Praxisraum des Malagola-Palastes aufhalten. Jeder
trägt ein kleines spiralenförmiges Blasinstrument. Einige
Teilnehmer lehnen sich an die Wände, andere sitzen im Schneidersitz, das
Gesicht zur Zimmermitte gewandt. Dort befinden sich ein Polster und ein paar
Papierblätter. Es sind die Aufzeichnungen des US-amerikanischen Komponisten
Alvin Curran, der seit den Sechzigerjahren in Italien lebt. Er ist auch
anwesend und wird die 45-minütige Aufführung betreuen. Es herrscht Stille.
Ich traue mich kaum zu atmen. Zusammen mit anderen vier Zuschauern bin ich
Zeugin der ersten Präsentation des Malagola-Projektes.
Austragungsort der Schule
ist der gleichnamige Malagola-Palast aus dem 18. Jahrhundert. Gelegen auf
der anderen Straßenseite der Basilika Sant’Apollinare in Ravenna, umfasst
das prächtige Gebäude Theorie- und Praxisraum – letzterer ist bereits mit
speziellen schallabsorbierenden Platten ausgestattet
–,
sowie Tagungs- und
Leseräume, einen Erfrischungsraum und mehrere Meditationsräume, die für die
individuelle Arbeit der Kursteilnehmer bestimmt sind. Wurde die
technologische Neugestaltung der Räume dem Sounddesigner und Musiker Marco
Olivieri anvertraut, ist die visuelle Identität von Malagola vom Künstler
Stefano Ricci signiert. Schon im Hauseingang ragt an der rechten Wand das
Logo der Schule hervor: Das Klangsystem an der Decke des Raumes wird von
einem Esel, dem Symbol des Teatro delle Albe, begleitet. Auch in
anderen Zimmern verzierte Stefano Ricci die Steinmauern mit Holzkohle,
belebte die kahlen Wände durch zauberhafte Figuren.
Ziel der Schule ist es,
neue professionelle Persönlichkeiten im Bereich Live-Entertainment und
Multimedia-Produktion zu schaffen, ein Vorhaben, das auch im kurzen
poetischen Manifest von Ermanna Montanari bekräftigt wird. Die für 2021
zugelassenen fünfzehn Teilnehmer wurden aus 131 Bewerbungen ausgewählt.
Unter den Lehrern sind unter anderem neben Montanari und Pitozzi berühmte
Künstler wie Bonnie Maranca, Mariangela Gualtieri, Meredith Monk, Chiara
Guidi, Mirella Mastronardi, Roberto Latini, Luigi Ceccarelli, Daniele
Roccato, Francesca Proia zu finden. Ein Studiengang besteht aus kostenlosen
Kursen, die von Oktober bis April stattfinden. Das Programm umfasst eine
technisch-praktische Ausbildung, begleitet von einem vertiefenden
theoretischen Teil. Die fünf angebotenen Module reichen von Ästhetikumrissen
der zeitgenössischen Theaterszene über Praktiken der Stimm- und
Klanggestaltung bis hin zu Physiologielektionen über den Stimmapparat und
wirtschaftlichen sowie projektbezogenen Aspekten.
Der Malagola-Palast wird
gleichzeitig die audiovisuellen Dokumente des Teatro delle Albe in einem
Medienarchiv verwalten. Durch seinen zauberhaften Garten eignet sich das Haus wie kaum ein anderes,
zum
vibrierenden Resonanzraum für Klang und Stimme zu werden.
Manifest der
Stimmtrainingsschule (School of Vocality)
"Die Stimmtrainingsschule
ist ein Ort zur Ausübung einer freud- und anspruchsvollen Disziplin,
eine Einrichtung, in der man sich auf das Abenteuer der eigenen Stimme
und des eigenen Körpers einlässt. Man wird Teil einer Erfahrung, bei der die
Stimme der Körper und jede Person ein Klangplanet ist. Jeder
Teilnehmer tritt als Keimling in die Schule ein und nimmt im Lauf der Zeit
Gestalt an. Die Schule ist ein Ort der Mehrbestimmung, bevölkert und
betrieben von der Stadt und zugleich von dieser sich unterscheidend, ein
Bereich kollektiver Mitverantwortung, abgeleitet aus dem Bewusstsein, dass
jede unserer Zellen ein sinnlicher, zugleich aber auch ein
fantasievoller und poetischer Geschichtsträger und Erinnerungsspeicher ist.
Schule als Schweigen,
lärmendes Schweigen, unerträgliche Wortquelle. Ein Ort, an dem die
Wort-Sicht in ihrer mysteriösen, herrlichen, vierfachen Form verwurzelt
ist: Bedeutung, Klang, Kraft und Schweigen, das Schweigen, das sie
beschützt. Ein Ort, an dem alle lernen (sowohl Lernende als auch Lehrende),
an dem es keine vorgeschriebenen Techniken gibt, eher eine disziplinäre
Praxis, die sich der einzigartigen Form jedes Einzelnen und jedes Kollektivs
anpasst. Diese Methode erfordert Zeit, Geduld und Gehorsamkeit, denn sie
erlaubt dem Planeten eines jeden Individuums seinen Atem zu entdecken; dies
ist weder leicht noch geschieht es auf unmittelbare Weise. Es wird für jeden Teilnehmer nützlich
sein, sich auf das süße Gefühl einzulassen, auf dem Weg des menschlichen
Daseins vorwärtsgezogen zu werden, auf die Torheit hin, weiterzumachen und zu
akzeptieren, was auch immer passiert. In diesem Sinne erinnern wir uns an
die Verse von Antonio Machado: "Reisender, es gibt keine Wege, Wege
entstehen im Gehenˮ.
Schule als Ort des
Loslassens ohne Eile, des Vertreibens der Angst, sich zu zeigen, der
Krankheit sich selbst darzustellen, der Plage sich selbst zu verkaufen. Ein
Lernort, um von den Wolken herabzublicken, um die Grenzen unserer Grenzen
auszuloten.
Schule als Ort der
Auseinandersetzung mit der nördlichen Felswand unserer Stimme, der Wand, an
der wir stolpern und fallen, "dunkler Wald" bitterer Einsamkeit. Ein Ort des
Wartens. Ein Ort, um sich für den Aufstieg auszurüsten.
Schule als Ort des
Experimentierens mit dem Unmöglichen, um seinen eigenen verzerrten
Mechanismus zu ehren. Die Qual der Stimme ohne Körper, ihr Versagen und das
Aufkommen des Staunens. Ringen wir nicht immer mit einem unsichtbaren Etwas,
fest und unverrückbar wie eine Wand oder ein Felsen ohne Halt? Aber was ist
schöner als ein Rippstrom zu sein, sich mit den Wasserwellen treiben zu
lassen, bis Klang und Rhythmus unsere Augen und Ohren hypnotisieren; der
Augenblick, in dem wir mit dem Widerspruch, den uns die Natur präsentiert,
konfrontiert werden? Und der sich manchmal in unseren Poren versteckt?
Schule als Rätsel, ein Ort
des Anderen, der uns manchmal liebkost, ein anderes Mal abstößt, uns
manchmal umhaut. Ort der Maske und ihrer Verbergungskraft als
Wissensinstrument, eine andere, gefährliche Art, Zeichen zu sehen und zu
lesen. Der Schauspieler ist derjenige, der dem Chor antwortet und sich
dessen Urteil unterwirft. Die Bühne wird zum Schafott: Die Überquerung der
Bühne beschwört ein stimmliches Abenteuer herauf; sie verlangt, aus
demselben Stoff gemacht zu sein wie die schon dort seit Jahrtausenden
bestehende, unbewegliche. An Ort und Stelle genagelt.
Schule als Archiv des
Zuhörens, denn ohne Zuhören gibt es keine Stimme. Ein Ort der Farben und
Spuren derer, die uns vorausgegangen sind: Antonin Artaud, Laurie Anderson,
Meredith Monk, Carmelo Bene, Maria Callas, der Wind, die Rosen, das Wasser,
die Gebete, die Menschen, Demetrio Stratos, Leo de Berardinis, Perla
Peragallo, Janis Joplin, und andere ihrer Gefährten und Reisegefährten.
Schule als Garten, ein
Ort, an dem niemand Trends hinterherläuft, keinem Geist der Mode, an dem
sich niemand für das Neueste interessiert; vielmehr sehnt sich jeder zuerst
danach, um das Lernen zu lernen, das selbst zu wählen, was es zu lernen
gibt.
Schließlich, Schule als
freudiger Samen, der sich unter der Erde verbirgt und nachts aufkeimt."
(Ermanna Montanari, Ravenna, 22. Februar
2020)