Irina Wolf
irinawolf10 [at]
gmail.com
Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und
Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.
Anspruchsvolle Monologe
regen zum Nachdenken
an, lebendige Dialoge
beleben die Figuren und
machen etliche Texte so
spannend, dass man das
Buch nicht aus der
Hand legen möchte.
Franziska Muche /
Carola Heinrich (Hrsg.)
Mauern fliegen in die
Luft. Theatertexte aus Ar-
gentinien, Chile, Kolum-
bien, Kuba, Mexiko,
Spanien und Uruguay.
Neofelis, 2021. 436 S.
ISBN: 9783958083424
Es bleibt die Frage offen,
ob das blutige Rot letzt-
endlich Überhand gewin-
nen oder ob sich die tür-
kise Meeresfarbe als Sym-
bol einer besseren und
friedlicheren Welt durch-
setzen wird.
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Die
Zusammenstellung von je zwei Texten aus Chile und aus Uruguay sowie von je
einem Stück aus Argentinien, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Spanien – insgesamt
sind es sieben Länder und drei Kontinente – schafft es auf eindrucksvolle
Weise, Realitäten sichtbar zu machen und einen Einblick in den Status quo
zeitgenössischer Dramatik des spanischsprachigen Kulturraums zu bieten.
Der Stückauswahl liegt
eine breit angelegte Recherche zugrunde, wie in der Einleitung dargelegt
wird. Tatsächlich vermittelt Mauern fliegen in die Luft einen
poetisch-realistischen Querschnitt des Besten, was die iberoamerikanische
Dramatik der letzten zehn Jahre zu bieten hat. Gleich das erste Stück des
kolumbianischen Dramatikers Fabio Rubiano Orjuela bestimmt den Titel des
Buches. Im Land an der Nordspitze Südamerikas ist der Alltag der Bevölkerung
vom Terror geprägt. Gewalt ist an der Tagesordnung. Dieses Anliegen ist auch
in weiteren Texten der Anthologie zu erkennen. Machtspiele, Gewalt und
Korruption, Krieg und Ausbeutung als Begleiter der Mächtigen erinnern an
Grenzverletzungen, Übergriffe und Missbrauch. Beste Beispiele dafür sind
Itzel Laras Bis zur Unkenntlichkeit und Santiago Sanguinettis Die
ewige Wiederkehr der Revolution in der Karibik. Letzteres ist Teil II
einer "Trilogie der Revolution". Die Lektüre macht Lust, die beiden anderen
Teile zu lesen. Beide Beispiele greifen sehr individuell die weitreichenden
gesellschaftlichen Veränderungen in Mexiko und Uruguay auf und zeigen ein
Spektrum an gegenwärtigen sowie vergangenen sozialen und politischen
Diskursen.
Im
Mittelpunkt eines jeden Stückes steht, wen wundert's, eine Mauer. Jedoch
beziehen sich die "Mauern" aus dem Titel nicht nur auf die Kluft zwischen
Arm und Reich, sondern auch auf Kontraste zwischen Mensch und Natur (Gegen
den Baum von Manuela Infante/Chile) sowie auf Gegensätze in unseren
Köpfen bzw. auf Genderfragen (Entfesselt von Marie
Alvarez/Argentinien) oder auf Grenzen der Kommunikation und
jenen von zwischenmenschlichen Beziehungen (Barbarei von Sergio
Blanco/Uruguay). Schließlich reflektiert der chilenische Autor Guillermo
Calderón in Dragón über die Rolle der Kunst. Wird im ersten Teil des
Buches der Eindruck erweckt, dass im iberoamerikanischen Raum Gewalt und
Aggression überwiegen, so ist der zweite Teil von Poetik geprägt, ungeachtet
dessen, dass sich düstere Bilder der Migrationsbewegungen und
Umweltzerstörungen zeigen. Die Reihenfolge
der Texte scheint demnach nicht dem Zufall zu entspringen. Überhaupt lässt das letzte Stück
Meine Zeit, mein Tier von Lola Blasco (Spanien) Raum für Hoffnung.
Die Anthologie besticht
nicht nur durch die breite Palette an unterschiedlichsten Themen,
sondern darüber hinaus durch die Vielfalt der Formen und Stilmittel: absurd,
expressiv, fantastisch, grotesk-komisch, irreal und surreal. Anspruchsvolle
Monologe regen zum Nachdenken an, lebendige Dialoge beleben die Figuren und
machen etliche Texte so spannend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen
möchte. Dies zeugt zudem von der hervorragenden Arbeit der Übersetzerinnen.
Überraschenderweise agieren die Herausgeberinnen auch als Übersetzerinnen,
vor allem Franziska Muche, die nicht weniger als fünf Stücke ins Deutsche
übertragen hat (eines davon zusammen mit Hedda Kage). Bemerkenswert ist
außerdem, dass Miriam Denger, die vierte Übersetzerin im Bunde, für das
Vorwort verantwortlich zeichnet. "Übersetzer*innen übersetzen nicht nur
Inhalte und Form, sondern sehen sich auch mit Fragen der Übertragbarkeit
kultureller Kontexte konfrontiert", macht sie in ihrem Vorwort deutlich.
Beeindruckendes Beispiel hierfür ist das sechsseitige "Glossarˮ, das Rogelio
Orizondos Stück Antigonón abschließt und in dem Miriam Denger über
sieben Jahre (!) ihre Anmerkungen zusammengetragen hat, um die historischen
Persönlichkeiten aus der Zeit der kubanischen Unabhängigkeitskriege sowie
Begriffe und Zitate, in der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Stück, zu
veranschaulichen.
Visuelles
Material – neun Farbabbildungen – sowie Informationen zu Uraufführungen der
abgedruckten Stücke vermitteln einen lebendigen Eindruck von der
iberoamerikanischen Theaterszene. Auffallend ist ebenfalls, dass mehr als
die Hälfte der Autoren auch Regisseure sind bzw. ihr Stück selbst auf
die Bühne gebracht haben. Ferner ist zu erwähnen, dass die Genderquote
ausgeglichen ist: Die Herausgeberinnen Franziska Muche und Carola Heinrich
schaffen es, ein Gleichgewicht im Anteil der Autorinnen und Autoren
herzustellen. Schließlich kreiert die Grafikdesignerin Marija Skara mit
ihrer türkis-roten Umschlaggestaltung ein Softcover, das genau den Kern der
Anthologie erfasst: Wie schafft man es, sich im Meer aus Katastrophen nicht
zu verlieren? Denn die Stücke behandeln ein breites Spektrum an Mauern und
zugleich unterschiedliche Strategien, um die Grenzen zu überwinden. Also
bleibt die Frage offen, ob das blutige Rot letztendlich Überhand gewinnen
oder ob sich die türkise Meeresfarbe als Symbol einer besseren und
friedlicheren Welt durchsetzen wird. Neben der literarischen Qualität der
Stücke eine grafische Einladung, sich auf das Buch einzulassen, um einen
eingehenden Blick über die vielschichtige spanischsprachige Dramatik zu
erhalten. |
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