Irina Wolf:
Sie widmen sich hauptsächlich zeitgenössischen Stücken. Warum haben Sie
sich dafür entschieden?
Leta Popescu:
Kurz gesagt, ich habe Angst vor den Klassikern. Sie überwältigen mich.
Ich bevorzuge die zeitgenössischen Dramatiker, weil wir die Bewegungen
der heutigen Welt gemeinsam aufspüren. Ich lebe in der Gegenwart und
blicke in die Zukunft; ich spüre keine Nostalgie und denke, dass sich
die Geschichte wiederholt. Ich habe es vorgezogen, Produktionen mit
Autoren "zusammen zu schreiben", anstatt "umzuschreiben". Aber ich werde
mich bald dieser "Umschreibung" der Klassiker widmen, weil ich mich auch
in die menschliche Finsternis meiner Vorgänger zu vertiefen vermag.
Derzeit betrachte ich die Klassiker mit Respekt, Faszination und Angst.
Aber sind das nicht die nötigen Zutaten, die ich für meine Arbeit
brauche? Da kommt noch Freundschaft hinzu. Gleichzeitig fällt mir immer
wieder Folgendes ein: Kann meine Generation nicht einen Klassiker ins
Leben rufen, einen Dramatiker, der der Grundregel entspricht? Sind wir
nicht dafür verantwortlich, einen Kontext zu schaffen, damit dieser
Autor aufkommen kann?
Irina Wolf:
Warum haben Sie sich Zwei-Jahres-Projekte vorgenommen?
Leta Popescu:
Rigorosität ist eine große Hilfe. Mein erstes zweijähriges Projekt im
Rahmen meiner Masterarbeit war "Von der Prosa zur Inszenierung". Während
dieser Zeitspanne habe ich zeitgenössische rumänische Prosa
dramatisiert. Es sind drei Produktionen entstanden. Es schien mir
selbstverständlich, auf diese Weise über Projekte nachzudenken. Es wurde
zur Gewohnheit, denn so erreichte man damals die Zulassung zum
Masterstudium in Klausenburg. Das Regieprojekt "Collage" entstand aus
dem Wunsch, eine Kohärenz zur Vertiefung in ein Thema herzustellen, aber
auch aus der Neigung, einem gewissen Weg zu folgen. "Von der Prosa zur
Inszenierung" ist ein "offenes Projekt", das heißt, ich könnte immer
wieder zu Dramatisierungen zurückkehren. "Collage" ist ein
abgeschlossenes Projekt. Es war eine Trilogie. Ich mache keine
In-Produktionen mehr, aber etwas von diesem Collage-Weg ist in mir
zurückgeblieben.
Irina Wolf:
Was davon haben Sie behalten?
Leta Popescu:
Etwas Wesentliches: das Ineinanderfließen der Ebenen. Das fasziniert
mich. Die Welt scheint mir auf vielen Ebenen zu funktionieren. Die
Gefühle sind gemischt, nichts wird mit einer einzigen Absicht gesagt
oder getan: Hinter Güte steht Perversität, hinter Perversität vielleicht
Misstrauen, hinter Würde Eitelkeit und so weiter. Das sind
Binsenweisheiten. All diese Ebenen und Paradoxa zusammenzustellen –
nicht um die Wahrheit zu finden, sondern um eine multiple Semantik der
Welt zu schaffen – das ist einer der Gründe, warum ich diesen Beruf
ausübe.
Irina Wolf:
Wie haben Sie das Projekt "Collage" entwickelt? Wie wählen Sie Ihre
Themen aus?
Leta Popescu:
Nachdem ich Prosa dramatisiert hatte, kam mir der Gedanke, Lyrik als
Drama aufzuarbeiten. Darum geht es in "(In)visible", im ersten Teil der
Trilogie. Da ich zeitgenössische Texte bevorzuge und das persönliche
Leben meine Inszenierungen oft prägt, habe ich mich für Lyrik
entschieden, aber auch – um
ehrlich zu sein –, weil ich in einen Dichter verliebt war. Nun, dieser Dichter war
aber nicht in mich verliebt, und das war faszinierend und schmerzhaft.
Damals schien es mir, dass er eine "Verwundbarkeit des
Selbstbewusstseins" ausstrahlte. Diesen Gedanken habe ich auf ein Stück
Papier notiert in der Nacht, als mir endlich das Thema, das ich dem
Ungarischen Staatstheater Klausenburg vorschlagen wollte, "einfiel". Das
geschah in einem Hotelzimmer in Temeswar. Ich befand mich dort, um für
Ada Lupu (Anm. d. Ü. Ada Lupu-Hausvater ist Direktorin des
Nationaltheaters Temeswar) an der Produktion "(In)credible" zu arbeiten.
Darin geht es um das Versagen in der Liebe. Einer meiner Freunde sagt:
"Bei dir dreht sich alles um die Liebe."
Das Collage-Projekt
begann also mit "(In)visible", einer Inszenierung in sieben Folgen über
Verwundbarkeit. Ich erinnere mich, dass an dem Abend die Idee vom
Sichtbaren und Unsichtbaren in mir erwachte. Gleichzeitig überkam mich
der gewaltige Wunsch, das Verborgene zu untersuchen. Alle drei
Produktionen verkünden im Titel, dass es um Doppeldeutigkeiten geht:
sichtbar-unsichtbar, glaubwürdig-unglaubwürdig, richtig-falsch. Ich
beabsichtigte keine Antworten zu geben, nicht der Bescheidenheit wegen,
sondern weil ich keine Antworten habe.
Irina Wolf:
Handeln Ihre Inszenierungen über Ihr Leben?
Leta Popescu:
Nein, meine Inszenierungen sind nicht über mein Leben. Die künstlerische
und die persönliche Ebene ist bei vielen Künstlern miteinander
verknüpft, das ist nichts Neues. Eigentlich hatte ich immer ein
unauffälliges Leben. Ich bin eine konventionelle, manchmal konservative
Frau – jedoch nicht im Geist. Ich finde, dass die Gedanken unsere
einzigen Freiheitsräume darstellen. In meinem Fall bringt eine Mischung
widersprüchlicher Empfindungen in meiner Denkweise die Projekte und
Inszenierungen hervor.
Irina Wolf:
Abgesehen von Empfindungen, was sind Ihre Inspirationsquellen? Welche
Musik hören Sie, welche Bücher lesen Sie, welche Maler, Schriftsteller,
künstlerischen Strömungen inspirieren Sie und warum?
Leta Popescu:
Paradoxa inspirieren mich. Beträchtlich. Die Absurdität der Realität.
Die Qual, das Verborgene, das Fiktive. Ich bin eine aufmerksame
Beobachterin – das ist wahrscheinlich meine Hauptinspirationsquelle.
Bücher und Filme ergänzen mich; ich weiß nicht, ob sie mich
"inspirieren". Das Leben inspiriert mich. Die anderen Künste geben mir
Mut, mich inspirieren zu lassen, wenn Sie so wollen. Ich höre nur sehr
selten Musik. Ich habe es versucht, kann es aber nicht. Ich bevorzuge
die Stille, auch wenn ich durchgehend sieben Stunden lang von Bukarest
nach Klausenburg Auto fahren muss. Wenn ich Musik höre, dann Klavier
ohne Unterbrechung. Es ist ein Instrument, das auf möglichst konkrete
und bedrückende Weise an meiner Seele hängen bleibt.
Hingegen verbindet
mich eine besondere Beziehung mit der bildenden Kunst. Diese inspiriert
mich zweifellos. Von ihr ausgehend gebe ich mir selbst Hausaufgaben oder
nehme Bilder mit. Die bildende Kunst ist für mich Arbeitsmaterial. Den
Kubismus zum Beispiel konnte ich nicht so sehr liebgewinnen wie den
deutschen Expressionismus. Trotzdem hat der Kubismus meine Denkweise
über die Bühne stark beeinflusst. Ich habe sogar versucht, die
Prinzipien dieser Kunstströmung in meine Proben zu übernehmen. Was
bedeutet zum Beispiel Mehrfachperspektive? Das kann sich in der
Dramaturgie, im Agieren des Schauspielers, in der Beziehung zum Publikum
und in der Bühnenumsetzung widerspiegeln. Bot ein kubistisches Gemälde
eine Erforschungsmöglichkeit, die nach der realistischen Malerei kam,
was würde dann "reines Theater" heute bedeuten? Wenn man bei der
Betrachtung eines kubistischen Werks den Genuss einer Entdeckung fühlt,
könnte dann nicht auch die Regiekunst zum Publikumsgenuss jenseits der
Aufführung oder der Geschichte beitragen?
Irina Wolf:
Bleiben wir bei der bildenden Kunst. Sie haben auch ein Regielabor zum
Thema "Umsetzung der Realität durch szenischen Kubismus in Werken mit
kleiner Besetzung für ein beschränktes Publikum" geleitet. Woraus
bestand dieses Labor? Wer waren die Teilnehmer?
Leta Popescu:
Das Labor fand mit den Schauspielern, mit denen ich sehr gut
zusammenarbeite, statt: mit Emőke Pál, einer ungarischen Schauspielerin
(wir sind hundertprozentig kompatibel), mit Doru Taloş,
Oana Mardare und Alexandra Caras (mit ihnen arbeite ich seit sieben
Jahren zusammen; mit Alexandra sogar seit zehn Jahren, denn wir haben
gemeinsam studiert). Es gibt Menschen, die mir vertrauen. Das ist alles,
was ich von den Schauspielern brauche. Wenn sie mir misstrauen, ist der
Spaß vorbei. In Bukarest habe ich mit George Albert Costea vor ungefähr
sechs Jahren "Open", eine Ein-Mann-Performance, gemacht. Auch mit ihm
stimmt die künstlerische und intellektuelle Chemie. Neuerlich versuche
ich mich Denisa Nicolae anzunähern. Sie leitet die Theatergruppe Vanner
Collective und hat mich eingeladen, einen Text für die Bühne umzusetzen.
Während des Labors gab es einen regen Ideenaustausch dazu.
Kurz gesagt, wir haben
Bewegungsmodule und Bilder erforscht, die zu mehreren Geschichten
dazupassen. Die Schlüsselwörter waren "multiple Semantik", "multiple
Perspektive". Wir haben Texte über Glück geschrieben. Das hat sich
während der Pandemiekrise abgespielt. Wir wollten unbedingt an
Kontrasten arbeiten und versuchten nach kubistischen Prinzipien zu
inszenieren. Wir haben es sogar ausprobiert, "Hamlet" auf diese Weise zu
machen – das sprach mich an. Es gab keine Vertiefung in die Materie, nur
Tests im Kreations- und Versuchsreaktor Klausenburg. Das ist eine
Spielstätte, die die Möglichkeit für solche Experimente bietet, und das
ist großartig.
Irina Wolf:
Wie setzen Sie "Empfindungen" bzw. "Ideen" auf der Bühne um?
Leta Popescu:
Ich werde zurückgreifen und etwas über Schauspieler sagen. Der
Bühnenbildner möge mir verzeihen, aber die Schauspieler sind die
kreativsten Hauptpartner des Regisseurs. Nicht weil das Bühnenbild
unwichtig wäre, sondern weil es nicht lebendig ist. Letztendlich ist das
Theater abhängig von den Schauspielern. Das Universum des Regisseurs
oder besser gesagt, mein Universum – wir wollen nicht verallgemeinern –
ist der Ausgangspunkt einer Arbeit. Ich bin nicht die offenste Person
für Debatten, ich frage die Schauspieler nicht, wie sie die Umsetzung
durchführen wollen usw. Ich glaube sehr stark an die Regiekunst, führe
Regiebücher, habe Regeln, Suchstrategien, Theorien. Trotzdem bin ich
ohne Schauspieler eine Null. Im Grunde beschränkt sich alles darauf, die
Schauspieler zu erobern. Zumindest um die Atmosphäre, die ich mir für
eine Inszenierung wünsche, zu erreichen.
Irina Wolf:
2020 war ein äußerst schwieriges Jahr für alle, vor allem aber für die
Kulturszene. Wie hat die durch die Pandemie verursachte Krise das
rumänische Theater Ihrer Meinung nach beeinflusst? Wie hat Sie diese
außergewöhnliche Situation verändert, als Künstlerin und als Mensch?
Leta Popescu:
Es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen, was sich geändert hat. Wir
werden das viel später zu spüren bekommen. Die Pandemie ist noch immer
da. Vielleicht werden wir in drei Jahren feststellen können, wie sie
unseren Werdegang beeinflusst hat. Aus meiner Sicht ist derzeit der
Konservierungsinstinkt sehr prägnant. Von diesem ausgehend möchte ich
Theater machen, um die klassische, analoge, Form dieser Kunst zu
verteidigen. Es war sehr schwierig für mich, für das Online-Medium zu
arbeiten. Dafür habe ich "Eingesperrt" von Maria Manolescu Borşa
bei Replika (Anm. d. Ü. Replika ist eine Spielstätte der unabhängigen
Szene in Bukarest) inszeniert. Es ist eine gefilmte Performance, die auf
der Maske in der Theaterkunst basiert.
Irina Wolf:
Was ist Ihr nächstes Projekt?
Leta Popescu:
Ich arbeite gerade an einer komplexen Inszenierung. Sie heißt "Raus aus
der Sonne". Es ist die Geschichte des Kreations- und Versuchsreaktors
Klausenburg, der den Regisseur Alexandru Dabija eingeladen hatte, etwas
für die Bühne umzusetzen. Aus verschiedenen Gründen konnte Dabija nicht
mehr den Auftrag entgegennehmen. Die Dramatikerin Alexa Băcanu hat die
Geschichte dieses gescheiterten Treffens niedergeschrieben. In diese
Erzählung baue ich weitere Ebenen ein, denn, wie gesagt, es ist mir eine
Freude, unterschiedliche Ebenen ineinander übergehen zu lassen. Derzeit
stecke ich in den Proben und möchte keine weiteren Details verraten. Ich
kann es aber kaum erwarten, von Ihnen im Sommer wieder zu hören!
(Aus dem Rumänischen von
Irina Wolf.)