Das
für 2021 geplante Paradies – im 700. Todesjahr des bedeutendsten
italienischen Dichters – musste aufgrund der Pandemie verschoben werden.
Doch Glück im Unglück: Mit der diesjährigen 33. Ausgabe des
Ravenna-Festivals zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini ergab sich ein
ideales Umfeld, um die Verse über den verklärten Körper "zwischen Fleisch
und Geist" darzustellen – um Pasolini zu zitieren. Denn Martinelli und
Montanari fügen Pasolinis "Transhumanismus" (trasumanar) in Dantes
Meisterwerk ein.
Ursprung der Pilgerfahrt zum Himmelreich
Pasolinis
Worte geben nur eine jener zahlreichen Neuerungen wieder, die die Arbeit der
beiden Künstler aus Ravenna prägen. Die Fragen etwa, die das Mädchen stellt,
gehören Emily Dickinson, eine von Ermanna Montanari bestaunte Dichterin.
Hinzu kommen noch Bezüge zu zeitgenössischen Tragödien, Strophen zum
Gedenken an große Künstler wie dem Architekten Francesco Borromini, und
Verse des deutschen Dichters Angelus Silesius.
Die Anpassung von Dantes
Werk an die gesellschaftspolitische Aktualität ist nur eines der Merkmale
der von Martinelli und Montanari konzipierten Trilogie. Ein weiterer Aspekt
ist die Rolle des Zuschauers. Jeder Einzelne ist Dante selbst, der Pilger,
welcher 2017 aus den Tiefen des dunklen Waldes in die Eingeweide der Erde
hinabgestiegen ist, der 2019 den Läuterungsberg bestiegen hat und der dieses
Jahr im Himmelreich ankommen wird. Ausgehend von der Idee des amerikanischen
Dichters Ezra Pound, wonach Dante ein "Jedermann" ist, sind wir eingeladen,
uns mit den neun aufeinanderfolgenden Sphären, die die Erde umgeben, zu
identifizieren. Dazu gehören die sieben klassischen Planeten – Mond, Merkur,
Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn –, zusammen mit dem Fixstern- und dem
Kristallhimmel. Schließlich können wir dann das Empyreum betreten, die
Wohnstätte Gottes.
Eine
weitere Besonderheit der Trilogie ist die Beteiligung der Bürger. Ähnlich
der Hölle und dem Fegefeuer ist Montanaris und Martinellis Paradies aus
einem "öffentlichen Aufruf" hervorgegangen, dem sechshundert (!) Bewohner
der Stadt und der Region Ravenna gefolgt sind – ein Drittel davon nimmt an
einer Aufführung teil. Eine verblüffende Leistung, wenn man bedenkt, dass
die Proben während der Pandemie stattgefunden haben. Als begeisterter
Verehrer von Wladimir Majakowskis "Massentheater" baut Marco Martinelli die
Inszenierung auf der Idee eines mittelalterlichen Spektakels auf. Es
entsteht ein soziales, partizipatives, engagiertes Theater. Dantes Text wird
nicht nur auf der Bühne, sondern im Leben umgesetzt.
Wie also sieht das Paradies nun wirklich aus?
Gewohntermaßen versammeln sich Hunderte von Menschen jeden Alters bei
Sonnenuntergang vor Dantes Gedenkstätte in der Innenstadt. Einige halten
eine Weizenähre in der Hand. Der von Ermanna Montanari aufgesagte erste
Gesang wird vom Bürgerchor wiederholt. Nach diesem Prolog beginnt die
Prozession durch die Straßen von Ravenna. Montanaris und Martinellis
Paradies ist ein Wandertheater. Papierboote hängen von den Fenstern einiger
Gebäude. Vor diesen machen wir Halt, um weiteren Gesängen von Dantes Werk
zuzuhören, die von Jugendlichen vorgetragen werden. Mit einem Megafon
fordert Martinelli uns alle auf, Verse aus der Göttlichen Komödie zu
rezitieren. Schlussendlich hält die Prozession vor dem Tor des Volksgartens.
"Drei Kreise, an Farben
dreifach, doch nur eines Umfangs"
Mit
diesen Worten aus dem letzten Gesang, die jedem Zuschauer zugeflüstert
werden, gewähren uns die beiden Künstler Zugang zum Garten. Gleichzeitig
"zeichnen" sie drei Kreise in die Luft. Insgesamt 150 Zuschauer nehmen auf
dem großen Platz vor der prächtigen Lombardischen Loggia Platz. Dort oben in
den fünf Nischen befinden sich fünf weiße Statuen. Allmählich stellen wir
fest, dass es sich tatsächlich um fünf symbolische Figuren aus Dantes
Paradies handelt, die von Künstlern des Teatro delle Albe verkörpert werden:
Piccarda Donati, Kaiser Justinian – seine Worte verschmelzen mit der Rede
aus dem 21. Jahrhundert von Papst Franziskus über das Streben nach
Gerechtigkeit, über das Denken und Handeln als friedliche Gemeinschaft,
Cunizza da Romana – eine Frau, deren Leben Gegenstand vieler Gerüchte war,
Peter Damian und der Heilige Petrus. In ihrer Ansprache über Glauben und
Dreifaltigkeit wechseln sich Dantes Verse mit Gilbert Keith Chestertons
Worten ab.
Zuerst aber bewundern wir das zugleich schlichte und doch
raffiniert gestaltete "Bühnenbild": Zu beiden Seiten der Zuschauertribüne
steht der Bürgerchor. Vor uns queren Mädchen und Burschen auf Fahrrädern den
Garten. Sie sind auch diejenigen, die die Soldaten (aus der Marssphäre)
vertreiben werden, nachdem diese zuvor ihre Maschinengewehre auf Dantes
Vorfahren Cacciaguida und auf uns, das Publikum, gerichtet haben. Denn im
Himmelreich ist für Krieg kein Platz. Ein Zeichen der Hoffnung auf eine
bessere Zukunft. Besonders bewegend sind die Momente, in denen ein Mädchen
Cacciaguida (und vor ihm den Heiligen Franziskus von Assisi, der von Thomas
von Aquin heraufbeschworen wurde) an der Hand vom Boden aufhebt. Kinder
waren immer schon die großen Protagonisten der Aufführungen des Teatro delle
Albe: In der Hölle sprach ein Mädchen die Worte von Beatrice, im Fegefeuer
beschwor ein weibliches Teenager-Quartett Greta Thunberg herauf.
Nicht
zuletzt tragen die von den Studenten der Akademie der Schönen Künste in
Brera entworfenen Kostüme sowie die mitreißende (astrale) Musik von Luigi
Ceccarelli maßgeblich zum Erfolg der Aufführung bei. Die magische Atmosphäre
des Abends wird durch das Orchester im Erdgeschoss der Loggia zusätzlich
verdichtet. Mit ihrer charismatisch klaren Stimme markiert die Sängerin
Mirella Mastronardi den spirituellen Aufstieg des verlorenen Mannes. Ein
Aufruf zur Harmonie der himmlischen Sphären, wo Licht und Ton ein Ganzes
bilden. Dante, und mit ihm jeder von uns, betritt die Rotation des
Universums, symbolisch dargestellt von Ermanna Montanari durch einen kurzen
Sufi-Tanz.
Nachdem wir auch einen Teil von Gott "gekostet" haben –
Brotstücke werden behutsam unter den Zuschauern verteilt
–, folgt der Schlussgesang. Geleitet von seiner geliebten Beatrice –
gegen Ende des Stücks ersetzt vom Heiligen Bernhard – erreicht der Reisende
sein Ziel. Nur kann er uns dieses nicht mehr beschreiben: "Hier schwand die
Kraft der hohen Phantasie; Doch schon bewegte Willen und Verlangen Mir, wie
ein gleichbewegtes Rad, die Liebe, die kreisen macht die Sonne wie die
Sterne". Martinelli, der sich in letzter Zeit mit Architektur befasst,
erzählt nun die Geschichte der stürmischen Beziehung zwischen Gian Lorenzo
Bernini und Francesco Borromini. Dabei hebt er hervor, wie Letzterer
diejenigen, die seine Kirchen betraten, dazu brachte, sich in einen
besonderen Zustand der Kontemplation zu versetzen. Demzufolge sind wir
eingeladen, uns auf den Boden "auf Borrominis Mantel" zu legen, um dem von
Ermanna Montanari rezitierten 33. Gesang zuzuhören, während wir auf den
Himmel und die Sterne blicken.
Nach
dem Drama der Hölle voller düsterer Farben, das vor allem im Inneren des
Rasi-Theaters – dem historischen Hauptsitz des Teatro delle Albe –
stattfand, nach der akademischen Art des Fegefeuers, in der
Hoffnungserwartungen auf eine Welt in Harmonie mit Mutter Erde geweckt
wurden, haben wir nun das lyrische Paradies erreicht. Lichterspiel,
poetische Stimmungen, Musikalität spielen hier eine wichtige Rolle. Vor
allem aber das Licht (Light Design: Fabio Sajiz).
Wie gewohnt hat das Teatro delle Albe ein verführerisches
Erlebnis mit einer großen Ladung Authentizität und Emotion geboten. Eine
originelle Schönheitslehre von visueller und akustischer Harmonie. Im
Mittelpunkt dieser monumentalen Neuproduktion des Ravenna Festival / Teatro
Alighieri, in Zusammenarbeit mit dem Teatro delle Albe / Ravenna Teatro und
mit dem außergewöhnlichen Beitrag der Gemeinde Ravenna steht das Wort
"Freude", denn das Himmelreich ist ein Lied der Freude: Das ultimative
Gefühl der Erfüllung, dass wir unsere Individualität abgelegt haben und Teil
einer spirituellen Gemeinschaft geworden sind.