Irina Wolf
irinawolf10 [at]
gmail.com
Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und
Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.
(c) Deutsches Staatsth. Temeswar
Carmen Lidia Vidu
(c) Irina Wolf
Tagebuch Rumänien.
Temeswar.
(Regie:
Carmen Lidia Vidu)
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Ende
Oktober 2015 bricht nach einer Pyro-Show im Bukarester Nachtklub Colectiv
ein Feuer aus. Durch die entstehende Massenpanik werden mehr als sechzig
Menschen getötet. Es gibt über hundert Schwerverletzte. Wie sich im Zuge der
Ermittlungen Monate später herausstellt, waren zahlreiche Opfer nicht
infolge des Brandes, sondern an Keimen im Krankenhaus gestorben, da der
führende rumänische Pharmahersteller die eingesetzten Desinfektionsmittel
bis zur Wirkungslosigkeit verdünnt hatte. Bis heute, mehr als drei Jahre
danach, ist der Fall nicht aufgeklärt. Korruption im Gesundheits- und
Bauwesen ist in Rumänien nichts Neues.
Die für ihre gewagten gesellschaftskritischen
experimentellen Arbeiten bekannte Regisseurin Carmen Lidia Vidu nimmt die
Brandkatastrophe zum Anlass, um das weniger touristische Rumänien zu
erforschen. Das von Vidu 2016 ins Leben gerufene Dokumentartheaterprojekt
unter dem Titel Tagebuch Rumänien bringt ihre Sicht über ein "Land,
getrübt von zahlreichen Spannungen und Machtkämpfen, und einen Alltag, geprägt
von sozialen, politischen und kulturellen Problemen", zum Ausdruck.
Lebensgeschichten von live auftretenden Schauspielern, geschickt verknüpft
mit Erzählungen über die von ihnen bewohnten Ortschaften, lassen umfassende
Stadtbilder entstehen. Zwei spannende Produktionen wurden Mitte November
2017 im Wiener Schauspielhaus viel bejubelt: Tagebuch Rumänien. Sankt
Georgen, entwickelt in der hauptsächlich von Ungarn bewohnten Stadt des
Szeklerlandes, und Tagebuch Rumänien. Constanţa, entstanden in
Rumäniens größter Hafenstadt am Schwarzen Meer, die eine beträchtliche
tatarische Minderheit aufweist. Die von der Regisseurin gestalteten
Produktionen werfen bewusst Fragen auf, um einen Dialog möglich zu machen
und einen positiven Wandel in den Gemeinschaften zu bewirken.
Im
Jahr 2018 ist nun Temeswar, das wirtschaftliche und kulturelle
Zentrum des Banats, an der Reihe. Die ehemalige Hauptstadt der Kron- und
Kammerdomäne der Habsburgermonarchie glänzt durch zahlreiche historische
Gebäude. Heute befinden sich in der
im Westen des Landes gelegen
drittgrößten Stadt Rumäniens unter einem vereinten Dach gleich vier
der zentralen kulturellen Institutionen des Ortes: das rumänische
Nationaltheater "Mihai Eminescu", die rumänische Nationaloper, das Deutsche
Staatstheater Temeswar und das Ungarische Staatstheater "Csiky Gergely". Vom
Balkon des von den Wiener Architekten Fellner und Helmer erbauten Gebäudes
begann 1989 die rumänische Revolution. Kein Wunder, dass die
Schauspielerinnen des Deutschen Staatstheaters, mit denen Carmen Lidia Vidu
die Produktion Tagebuch Rumänien. Temeswar erarbeitete, mehrmals
dieses Thema erwähnen. "Nach dreißig Jahren sind viele Sachen noch unklar",
sagt die gebürtige Temeswarerin Ioana Iacob. Sie war damals neun Jahre alt.
Für sie liegt "die ganze Sache mit der Revolution noch im Dunkeln". Daniela
Török hingegen ist "stolz darauf, dass die Revolution in Temeswar begann".
Stolz ist man in Temeswar außerdem auf die Interkulturalität. Zu Recht,
liegt die Stadt doch im Länderdreieck Rumänien-Serbien-Ungarn. Jedoch
scheint Temeswar auch ein guter Nährboden für Hassgefühle gegenüber der
Roma-Minderheit oder Oltenien- und Moldaustämmigen zu sein. Solch intime
Einblicke in die Seelen der Schauspielerinnen zeugen von Erwartungen und
Enttäuschungen, ergeben aber auch ein umfangreiches Stadtbild.
Die sechs Protagonistinnen – neben den bereits genannten
Ioana Iacob und Daniela Török gehören dem Künstlerteam noch Ida
Jarcsek-Gaza, Tatiana Sessler-Toami, Olga Török und Silvia Török an – treten
in der von Carmen Lidia Vidu erstklassig zusammengestellten Collage eine
nach der anderen auf. Sie spielen nicht, sondern erzählen über ihre
Leidenschaften und Schwächen, Ängste und Depressionen. Es ist verblüffend
und zugleich berührend, wie die Schaupielerinnen ihre Träume, Gedanken und
Gefühle schonungslos offenlegen. Durch die breite Auswahl an
unterschiedlichen Altersgruppen – die Palette reicht von 31 bis 71 Jahren –
ist es möglich, eine große Zeitspanne abzudecken: das Leben während der
kommunistischen Ceauşescu-Diktatur, die massive Auswanderung der Schwaben,
die zeitgenössischen prekären Arbeitsverhältnisse. Hinterfragt
werden das mangelhafte rumänische Schulsystem ebenso wie die fehlenden
Tierschutzgesetze. Auch das Theater- und Kulturleben wird beleuchtet, vor
allem, dass Temeswar als Kulturhauptstadt Europas 2021 ein umstrittenes
Projekt ist.
Mit höchst prägnanten Mitteln der visuellen Anthropologie
ergründet die Regisseurin sechs Einzelschicksale sowie ihre Beziehung zur
Stadt und Gemeinschaft. Dazu kommen einige verbindende, bewegende Passagen
wie die Tatsache, dass mehrere der Väter abwesend bzw. Alkoholiker waren.
Humorvoll geht es zu, als offenbart wird, dass Olga Török sich während des
Entstehungsprozesses der Produktion vorgenommen hatte, Gitarre zu lernen, es
letztendlich doch nicht geschafft hat. Die nach umfangreichen Interviews im
Kollektiv erarbeiteten Texte werden mit prägnanten Hintergrundprojektionen
ergänzt. Familien- und Stadtfotos, Dokumente, Zeitungsartikel, Statistiken,
Videomaterial aus dem Familienarchiv verdichten sich zu einem
atemberaubenden Theatererlebnis. Begleitet werden die Schauspielerinnen von
perfekt abgestimmter Musik, die von Operette über Jazz bis hin zu Hardcoremusik reicht. Vor allem aber besticht die kraftvolle Multimedia-Inszenierung
durch die Ehrlichkeit der Darstellerinnen, braucht es doch viel Mut, um über
den sexuellen Missbrauch im Kindesalter frei reden zu können. Umso
unerlässlicher ist es, das Geschehene nie zu vergessen und auch den
nachfolgenden Generationen das Bewusstsein zu vermitteln, dass Theater noch
als Stütze der Gesellschaft gilt.
Zwar müssen Frauen in Rumänien weiterhin mit den
kulturellen Vorstellungen einer patriarchalischen Gesellschaft kämpfen, es
sticht aber hervor, dass zwei der Schauspielerinnen Intendantinnen und die
Mutter einer dritten Gründungsmitglied des Deutschen Staatstheaters Temeswar
sind. Dass keine Männer in Vidus Inszenierung auftreten, hat nichts mit
Feminismus zu tun. Wie im anschließenden Publikumsgespräch bekannt wurde,
lehnten die Schauspieler des Theaterensembles eine Zusammenarbeit mit der
Regisseurin ab. So blieb es den Frauen überlassen zu beweisen, dass Theater
doch etwas bewirken kann. Das haben sie schlichtweg großartig gemacht! |
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