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Diese Frauen setzen ein Zeichen!

Gesellschaftskritische experimentelle Arbeiten sind das Spezialgebiet von Carmen
Lidia Vidu. Die bekannte rumänische Regisseurin hat 2016 ein Dokumentartheaterprojekt
namens Tagebuch Rumänien ins Leben gerufen, in dem sie mit viel Engagement und
Wahrheitsliebe über ihre Heimat berichtet, einem Land, das noch immer geprägt ist
von ethnischen Spannungen, Korruption, politischen Machtkämpfen
und vielfältigen sozialen Problemen.

Von Irina Wolf
(07. 02. 2019)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 


(c) Deutsches Staatsth. Temeswar

Carmen Lidia Vidu
 

 


(c) Irina Wolf

Tagebuch Rumänien.
Temeswar.

(Regie:
Carmen Lidia Vidu)
 

   Ende Oktober 2015 bricht nach einer Pyro-Show im Bukarester Nachtklub Colectiv ein Feuer aus. Durch die entstehende Massenpanik werden mehr als sechzig Menschen getötet. Es gibt über hundert Schwerverletzte. Wie sich im Zuge der Ermittlungen Monate später herausstellt, waren zahlreiche Opfer nicht infolge des Brandes, sondern an Keimen im Krankenhaus gestorben, da der führende rumänische Pharmahersteller die eingesetzten Desinfektionsmittel bis zur Wirkungslosigkeit verdünnt hatte. Bis heute, mehr als drei Jahre danach, ist der Fall nicht aufgeklärt. Korruption im Gesundheits- und Bauwesen ist in Rumänien nichts Neues.

Die für ihre gewagten gesellschaftskritischen experimentellen Arbeiten bekannte Regisseurin Carmen Lidia Vidu nimmt die Brandkatastrophe zum Anlass, um das weniger touristische Rumänien zu erforschen. Das von Vidu 2016 ins Leben gerufene Dokumentartheaterprojekt unter dem Titel Tagebuch Rumänien bringt ihre Sicht über ein "Land, getrübt von zahlreichen Spannungen und Machtkämpfen, und einen Alltag, geprägt von sozialen, politischen und kulturellen Problemen", zum Ausdruck. Lebensgeschichten von live auftretenden Schauspielern, geschickt verknüpft mit Erzählungen über die von ihnen bewohnten Ortschaften, lassen umfassende Stadtbilder entstehen. Zwei spannende Produktionen wurden Mitte November 2017 im Wiener Schauspielhaus viel bejubelt: Tagebuch Rumänien. Sankt Georgen, entwickelt in der hauptsächlich von Ungarn bewohnten Stadt des Szeklerlandes, und Tagebuch Rumänien. Constanţa, entstanden in Rumäniens größter Hafenstadt am Schwarzen Meer, die eine beträchtliche tatarische Minderheit aufweist. Die von der Regisseurin gestalteten Produktionen werfen bewusst Fragen auf, um einen Dialog möglich zu machen und einen positiven Wandel in den Gemeinschaften zu bewirken.

   Im Jahr 2018 ist nun Temeswar, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Banats, an der Reihe. Die ehemalige Hauptstadt der Kron- und Kammerdomäne der Habsburgermonarchie glänzt durch zahlreiche historische Gebäude. Heute befinden sich in der im Westen des Landes gelegen drittgrößten Stadt Rumäniens unter einem vereinten Dach gleich vier der zentralen kulturellen Institutionen des Ortes: das rumänische Nationaltheater "Mihai Eminescu", die rumänische Nationaloper, das Deutsche Staatstheater Temeswar und das Ungarische Staatstheater "Csiky Gergely". Vom Balkon des von den Wiener Architekten Fellner und Helmer erbauten Gebäudes begann 1989 die rumänische Revolution. Kein Wunder, dass die Schauspielerinnen des Deutschen Staatstheaters, mit denen Carmen Lidia Vidu die Produktion Tagebuch Rumänien. Temeswar erarbeitete, mehrmals dieses Thema erwähnen. "Nach dreißig Jahren sind viele Sachen noch unklar", sagt die gebürtige Temeswarerin Ioana Iacob. Sie war damals neun Jahre alt. Für sie liegt "die ganze Sache mit der Revolution noch im Dunkeln". Daniela Török hingegen ist "stolz darauf, dass die Revolution in Temeswar begann". Stolz ist man in Temeswar außerdem auf die Interkulturalität. Zu Recht, liegt die Stadt doch im Länderdreieck Rumänien-Serbien-Ungarn. Jedoch scheint Temeswar auch ein guter Nährboden für Hassgefühle gegenüber der Roma-Minderheit oder Oltenien- und Moldaustämmigen zu sein. Solch intime Einblicke in die Seelen der Schauspielerinnen zeugen von Erwartungen und Enttäuschungen, ergeben aber auch ein umfangreiches Stadtbild.

Die sechs Protagonistinnen – neben den bereits genannten Ioana Iacob und Daniela Török gehören dem Künstlerteam noch Ida Jarcsek-Gaza, Tatiana Sessler-Toami, Olga Török und Silvia Török an – treten in der von Carmen Lidia Vidu erstklassig zusammengestellten Collage eine nach der anderen auf. Sie spielen nicht, sondern erzählen über ihre Leidenschaften und Schwächen, Ängste und Depressionen. Es ist verblüffend und zugleich berührend, wie die Schaupielerinnen ihre Träume, Gedanken und Gefühle schonungslos offenlegen. Durch die breite Auswahl an unterschiedlichen Altersgruppen – die Palette reicht von 31 bis 71 Jahren – ist es möglich, eine große Zeitspanne abzudecken: das Leben während der kommunistischen Ceauşescu-Diktatur, die massive Auswanderung der Schwaben, die zeitgenössischen prekären Arbeitsverhältnisse. Hinterfragt werden das mangelhafte rumänische Schulsystem ebenso wie die fehlenden Tierschutzgesetze. Auch das Theater- und Kulturleben wird beleuchtet, vor allem, dass Temeswar als Kulturhauptstadt Europas 2021 ein umstrittenes Projekt ist.

   Mit höchst prägnanten Mitteln der visuellen Anthropologie ergründet die Regisseurin sechs Einzelschicksale sowie ihre Beziehung zur Stadt und Gemeinschaft. Dazu kommen einige verbindende, bewegende Passagen wie die Tatsache, dass mehrere der Väter abwesend bzw. Alkoholiker waren. Humorvoll geht es zu, als offenbart wird, dass Olga Török sich während des Entstehungsprozesses der Produktion vorgenommen hatte, Gitarre zu lernen, es letztendlich doch nicht geschafft hat. Die nach umfangreichen Interviews im Kollektiv erarbeiteten Texte werden mit prägnanten Hintergrundprojektionen ergänzt. Familien- und Stadtfotos, Dokumente, Zeitungsartikel, Statistiken, Videomaterial aus dem Familienarchiv verdichten sich zu einem atemberaubenden Theatererlebnis. Begleitet werden die Schauspielerinnen von perfekt abgestimmter Musik, die von Operette über Jazz bis hin zu Hardcoremusik reicht. Vor allem aber besticht die kraftvolle Multimedia-Inszenierung durch die Ehrlichkeit der Darstellerinnen, braucht es doch viel Mut, um über den sexuellen Missbrauch im Kindesalter frei reden zu können. Umso unerlässlicher ist es, das Geschehene nie zu vergessen und auch den nachfolgenden Generationen das Bewusstsein zu vermitteln, dass Theater noch als Stütze der Gesellschaft gilt.

Zwar müssen Frauen in Rumänien weiterhin mit den kulturellen Vorstellungen einer patriarchalischen Gesellschaft kämpfen, es sticht aber hervor, dass zwei der Schauspielerinnen Intendantinnen und die Mutter einer dritten Gründungsmitglied des Deutschen Staatstheaters Temeswar sind. Dass keine Männer in Vidus Inszenierung auftreten, hat nichts mit Feminismus zu tun. Wie im anschließenden Publikumsgespräch bekannt wurde, lehnten die Schauspieler des Theaterensembles eine Zusammenarbeit mit der Regisseurin ab. So blieb es den Frauen überlassen zu beweisen, dass Theater doch etwas bewirken kann. Das haben sie schlichtweg großartig gemacht!

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