Auf
das Motto "Blau" von 2021 folgte dieses Jahr "Rot", um 2023 mit "Grün" und
schließlich ein Jahr später mit "Schwarz-Weiß" fortgeführt zu werden. Laut
ricci/forte ist "die deutsche Sprache am besten geeignet, um das zentrale
Thema auszudrücken", denn "ROT hat einen harten Klang. Es ist ein Kratzer,
ein Riss, der von Anstrengung spricht. Es ist das Geräusch, das die Zähne
machen, wenn sie knirschen".
Der Goldene Löwe
Die
Theaterbiennale wurde von der brasilianischen Regisseurin Christiane Jatahy,
Gewinnerin des diesjährigen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk, eröffnet. Der
Titel ihrer Produktion O agora que demora – auf Englisch als The
Lingering Now übersetzt – könnte auf Deutsch in etwa "Die andauernde
Gegenwart" bedeuten. Basierend auf Homers "Odyssee" bildet die von Jatahy
konzipierte und inszenierte Performance das zweite Kapitel ihres Diptychons,
das dem zeitgenössischen Exil gewidmet ist (der erste Teil, Ithaca,
wurde 2018 am Odéon-Théâtre de l’Europe in Paris uraufgeführt). Die
Geschichten der Millionen, die wie Odysseus durch die Welt irren, spiegeln
die unermessliche Gegenwart derer wider, die vor Krieg, Armut, der
Unterdrückung der Freiheit im Allgemeinen fliehen. Eine Flucht, die kein
Ende zu haben scheint, die Staaten und Grenzen, Wüsten und Flüsse, vor allem
aber menschliche Zustände und Sprachen durchquert. Und auch die
Kunstsprachen Film und Theater.
Seit sie international
bekannt geworden ist, bewegt sich Jatahy an der scheinbar klaren Grenze, die
das Live-Theater von der Kinoleinwand trennt. Mit O agora que demora
wird die Trennungslinie differenzierter, durchlässiger. Das Videomaterial
auf der Bühne verwebt sich mit dem theatralischen Dialog im Zuschauersaal.
Die Inszenierung ist unberechenbar, zugleich voller Energie und Melancholie.
Denn Nostalgie ist das Gefühl des Exils. So finden nach einer Viertelstunde
Dokumentarfilm einige der Männer und Frauen, die aus dem Libanon, Syrien
oder anderen Ländern geflohen sind, ihr Pendant unter den Zuschauern im
Saal. Es scheint, als ob diese Menschen die Leinwand verlassen hätten, um
ihre persönliche Odyssee vor Ort weiterzuerzählen. Die Stimme eines Mannes
oder einer Frau, der Klang eines Instruments oder eines Liedes erklingt von
den tatsächlich Fluchtsuchenden direkt vor uns, hinter uns oder im
nächstgelegenen Sessel.
Christiane
Jatahy befindet sich nicht im Exil, vielleicht nur aus künstlerischer Sicht.
Denn in Brasilien sind Künstler, die sich kritisch gegenüber dem
Bolsonaro-Regime äußern, wenig angesehen. So ist es kein Wunder, dass
die Regisseurin, die auch als Protagonistin auftritt, einen starken Wunsch,
in ihre Heimat zurückzukehren, offenbart. Die Geschichte wird sehr
persönlich, als sie vom Verschwinden ihres Großvaters vor siebzig Jahren im
Amazonaswald erzählt. Geschickt verwebt sie in diesem Zusammenhang die
Sorgen der kleinen Gemeinde der Kayapós-Indianer, die sich anstrengen, ihre
Freiheit vor der zerstörerischen Wucht des Bolsonaro-Regimes zu retten.
Produziert im Jahr 2019, erwähnt
O agora que demora die Situation der ukrainischen Flüchtlinge aus
naheliegenden Gründen nicht. Und es ist diese Abwesenheit, die es noch
dringender macht, darüber zu sprechen, wie die Regisseurin in
ihrer Rede bei der Verleihung des Goldenen Löwen betonte.
Der Silberne Löwe
Der
Silberne Löwe ging dieses Jahr an den finnischen Künstler Samira Elagoz.
Während seine früheren Arbeiten die Männlichkeit heterosexueller Männer von
einer externen Position aus untersucht haben, ändert er in seiner jüngsten
Arbeit den Blickwinkel. Seek Bromance (2021) ist eine
Trans-Liebesgeschichte, die irgendwo am Ende der Welt spielt, eine Art
Science-Fiction-Dystopie. Die Bilder, die Elagoz zusammen mit seinem
Partner, dem brasilianischen Künstler Cade Moga, einfängt, dokumentieren
ihre Beziehung vom ersten Kennenlernen bis zur Trennung. Mit
minimalistischen Mitteln decken die beiden Künstler die Dynamik von
Männlichkeit und Weiblichkeit auf. Gleichzeitig erforscht Seek Bromance
Elagoz' Wandel von der weiblichen zur männlichen Identität.
"Indem er seinen eigenen
Körper auf die Bühne bringt und ihn visuell durchtrennt – mit all seinen
Paradoxien und vielförmigen Facetten –, richtet Samira Elagoz seinen
schonungslosen Blick auf die Einsamkeit und auf das menschliche Verhältnis
der Geschlechter im digitalen Zeitalter, in einer Gesellschaft, die sich der
Kontrolle entzieht. Elagoz erkundet die durchlässigen Grenzen zwischen dem
Realen und dem Virtuellen, untersucht die Auswirkungen von Liebe,
Geschlecht, Weiblichkeit, Verlangen und seine darauffolgende Zerstörung
sowie die brutalen, verborgenen Machtspiele und begibt sich auf eine intime
und poetische Expedition. Es ist gleichzeitig eine ironische Reise, die sich
nicht nur mit Klischees und Fragen der Selbstdarstellung in den Medien
beschäftigt, sondern auch mit dem männlichen Verhalten während seinen
Verführungsversuchen (in einem Dominanz- und/oder Unterwerfungsverhalten)",
heißt es in der Laudatio.
Pornografie und die Einsamkeit
der Gegenwart
Die
diesjährige Ausgabe des Festivals "ist ein Spiegel, der mit der Welt
vibriert, der auf unsere sich verändernden Gesellschaften hört und dessen
Hauptaufgaben Kreation und Überlieferung sind", sagen ricci/forte.
Gleichzeitig ist die Theaterbiennale "eine Fabrik der Gesten und Worte, in
der wir unsere Existenz, Exzesse, Träume und Körper unter die Lupe nehmen".
Die explosive Performance
des Schauspielhauses Zürich Kurze Interviews mit fiesen Männern nach
David Foster Wallace hinterließ einen starken Eindruck. In seinem Buch lässt
der amerikanische Autor Männer sehr deutlich über ihre meist toxischen
Beziehungen zu Frauen sprechen, über sexuelle Fantasien und Machtwahn, aber
auch über Einsamkeit, Depression und Selbsthass. Sensationell ist in der von
Regisseurin Yana Ross konzipierten Performance schon der Anfang: Beim
Betreten des Saals vollführt ein Paar einen Live-Sex-Akt. Für Ross ist
Pornografie "ein phänomenales Werkzeug zur Beschreibung unserer
gesellschaftlichen Gegenwart".
In gleicher Art geht es
dann verbal weiter. Wie der Untertitel vermuten lässt, gibt es in "22 Arten
der Einsamkeit" – ich muss zugeben, dass ich sie nicht gezählt habe – unter
anderem Tipps über Oralsex, Gespräche über Vergewaltigungsmöglichkeiten mit
Whiskyflaschen und über den menschlichen Körper als Gegenstand zum
Experimentieren, Auseinandersetzungen über widerwärtige Geräusche und
Gerüche auf öffentlichen Toiletten. Das Publikum wirkt amüsiert und verlegen
zugleich. Interessanterweise ist niemand empört. Und das liegt daran, dass
die Textpassagen an keiner Stelle mit dem übereinstimmen, was im
Western-Stil auf der Bühne dargestellt wird. Alles wirkt karikiert, ironisch
und grotesk. Da ist zum Beispiel die Szene, in der sich zwei Männer in einem
Jacuzzi-Pool über die Arrangements nach der Scheidung streiten, und dabei in
ein Mikrofon, das die Form eines Penis' hat, sprechen. Oder die in
Cowboy-Kostüme gekleideten Schauspieler, die während einer Singnummer
Haartrockner als Mikrofone verwenden. Absoluter Höhepunkt ist der Auftritt
von drei Männern, die in einer Fernseh-Diskussionsrunde die Frauenprobleme
sezieren – eine belustigende Art, Geschlechterklischees abzubauen. Erst mit
der Behandlung des Holocaust-Themas merkt man, welche ernsten Anliegen da
untersucht werden.
Dass
Yana Ross das Paar aus der Pornoszene in ihre Inszenierung integriert (dem
Live-Sex folgt später noch eine heiße Striptease-Szene), ist Herausforderung
und Werbung zugleich. Gemeinsam mit dem außergewöhnlichen Schauspielensemble
bringt die Regisseurin die männlichen (Gewalt-)Fantasien spielerisch auf die
Bühne, was zu einer klugen und überzeugenden Umsetzung von Wallaces Buch
führt.
An diese bemerkenswerten
Stücke schließen sich die Produktionen des Bienniale College Teatro an, das
darauf abzielt, jungen italienischen Theaterschaffenden Sichtbarkeit zu
verleihen. Auf dem Programm standen unter anderem noch die Produktion
Tryptich von Peeping Tom, Broke House der amerikanischen Gruppe
Big Art Group (Regie und Bühnenbild Caden Manson), zwei ortsspezifische
Arbeiten, die täglich unter freiem Himmel vor Touristen und Passanten in der
magischen Lagunenstadt präsentiert wurden, ein Milo-Rau-Schwerpunkt, eine
Reihe von Workshops, das der italienischen Dichterin Alda Merini gewidmete
Projekt "Late Hour Scratching Poetry" sowie die Produktion Loco von
Tita Iacobelli (aus Chile) und Natacha Belova (aus Russland) – ein
poetisches Animationstheater nach Gogols "Aufzeichnungen eines
Wahnsinnigen".
"ROT ist ein blendendes
Rot, die Metamorphose der Leidenschaft, [...] das Niedertreten der Würde und
ein Schrei der Verzweiflung angesichts der barbarischen Beerdigung von Ideen
wie Frieden und Freiheit; ROT ist die Sprache der Vergebung und der
Emotionen; ROT rebelliert gegen das Oberflächliche; ROT bist du, dein
Körper", sagen die Kuratoren Stefano Ricci und Gianni Forte. Und genau
dieser Körper wird im 400 (!) Seiten umfassenden Katalog des Festivals
"zerlegt", indem jeder Künstler seine eigene Perspektive auf die Farbe Rot
und auf verschiedene Teile des menschlichen Körpers darlegt.