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Kein Gut ohne Böse, kein Weiß ohne Schwarz

"Das Leben ist in Farbe, aber Schwarzweiß ist realistischer", mit diesem Zitat aus einem
Film des deutschen Regisseurs und Fotografen Wim Wenders beginnt das fast 400 (!)
Seiten dicke Programmbuch der diesjährigen 52. Ausgabe der Theaterbiennale von Venedig,
die vom 15. bis 30. Juni stattfand. Es war die letzte des Kuratorenduos Stefano Ricci und
Gianni Forte, die von Anfang an verschiedene Farben als Motto wählten. Nach Blau, Rot
und Grün folgte abschließend "Schwarz und Weiß". Der Kontrast "zwischen Gut und
Böse im ewigen Streben des Menschen nach Perfektion", aber auch "die Fähigkeit,
Andersartigkeit zu akzeptieren" waren die Leitsätze, nach denen sich
die Auswahl der Produktionen richtete.

Von Irina Wolf
(20. 08. 2024)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.



 


(c) Andrea Avezzu

"Blind Runner"
(Regie:
Amir Reza
Koohestani)

 

 

"Das größte Hindernis ist
nicht die Abwesenheit
von Freiheit, sondern die
Illusion, frei zu sein.
"
(Amir Reza Koohestani)

 

 


(c) Andrea Avezzu

"Drei Schwestern"
(Regie:
Claudia Sorace)

 

 

Das weibliche Trio steckt
physisch und psychisch
zwischen einer Vergan-
genheit voller nostalgischer
Erinnerungen und einer
schwer vorstellbaren Zukunft
fest und kämpft verzweifelt
darum, eine einfache
Frage zu beantworten:
Warum sind wir auf
dieser Erde?

 

 


(c) Andrea Avezzu

"Asche"
(Regie: Giorgina Pi)

 

 

"Der Titel Asche stellt das
'Verbrennen' von Etappen
in unserem Leben dar,
von Phasen, die wir uns
selbst nicht verzeihen
können, weshalb wir den
Schmerz durch die Flamme
unserer Wut in eine kon-
tinuierlich fallende
Asche verwandeln.
"
(Giorgina Pi)

   Ein Mann und eine Frau. Beide laufen. Er im Freien, sie als politische Gefangene auf der anderen Seite der Gefängnismauer. Vor ihrer Festnahme hatten sie monatelang trainiert. Geplant war, den Iran zu verlassen und nach England zu gelangen. Dabei sollte der Eurotunnel in den fünf Stunden zwischen dem letzten Abendzug und der ersten Bahn des nächsten Tages durchquert werden. Sieben Tage vor der Abreise wird der Plan für ein neues Leben durch die Verhaftung der Frau zunichte gemacht. Einmal pro Woche besucht der Mann seine Frau im Gefängnis. Auf ihr Drängen hin erklärt er sich bereit, eine blinde Jugendliche zu einem Sportwettkampf nach Paris zu begleiten. Werden es diese beiden durch den Eurotunnel nach England schaffen?

Zwischen den Grenzen des Gefängnisses und dem vom Laufen gebotenen Freiheitsgefühl entwickelt die Geschichte von Blind Runner nach und nach einen hypnotischen Rhythmus. "Das größte Hindernis ist nicht die Abwesenheit von Freiheit, sondern die Illusion, frei zu sein", sagt Dramatiker und Regisseur Amir Reza Koohestani, der selbst das Laufen nach der brutalen Niederschlagung der Proteste der iranischen "Grünen Bewegung" 2009 ausübte. Gemeinsam mit seiner 1996 in Shiraz gegründeten Künstlergruppe "Mehr Theater Group" präsentierte der iranische Künstler sein Werk bei der 52. Ausgabe der Theaterbiennale von Venedig, die vom 15. bis 30. Juni stattfand. Die Koproduktion mit mehreren europäischen Festivals und Theatern (Berliner Festspiele, Athens Epidauros Festival, Théâtre de la Bastille Paris usw.) bietet eine tiefgreifende Reflexion über die heutige iranische Gesellschaft. Auf hochpoetische, spielerische Weise lässt Koohestani Dialoge und innere Monologe ineinandergreifen und verknüpft in diesem ausgeklügelten Mechanismus die Schicksale dreier Menschen. Getreu seiner Herangehensweise an die leere Bühne nutzt der Regisseur geschickt live gefilmte Videosequenzen, um den Blick auf die Gesichter der Darsteller zu fokussieren. Blind Runner kann man zweifellos als emotional bezeichnen, auch durch die verwendete persische Musik.

"Das Leben ist in Farbe, aber Schwarzweiß ist realistischer"

   Mit diesem Zitat aus einem Film des deutschen Regisseurs und Fotografen Wim Wenders beginnt das fast 400 (!) Seiten dicke Programmbuch der diesjährigen Ausgabe der Theaterbiennale. Es war die letzte des Kuratorenduos Stefano Ricci und Gianni Forte, das von Anfang an verschiedene Farben als Motto wählte. Nach Blau, Rot und Grün folgte abschließend "Schwarz und Weiß", genauer gesagt "Niger et Albus". Der Kontrast "zwischen Gut und Böse im ewigen Streben des Menschen nach Perfektion", aber auch "die Fähigkeit, Andersartigkeit zu akzeptieren" waren die Leitsätze, nach denen sich die Auswahl der Produktionen richtete. Kein Wunder, dass der Goldene Löwe dem australischen Kollektiv "Back to Back Theatre" verliehen wurde, in dem seit über 30 Jahren behinderte und nicht behinderte Menschen gemeinsam spielen. Der Silberne Löwe ging an die britisch-deutsche Künstlergruppe "Gob Squad". Auf dem Programm standen einige der wichtigsten Protagonisten der zeitgenössischen internationalen Theaterszene wie Milo Rau, Tim Crouch, Miet Warlop, Markus Öhrn und italienische Künstler wie Ciro Gallorano, Elia Pangaro und Luanda Casella.

Tiefgründig und fesselnd baut sich die Geschichte des 2006 in Rom vom Dramatiker Riccardo Fazi und Regisseurin Claudia Sorace gegründeten Ensembles "Muta Imago" auf. In ihrer Analyse des Lebenssinns gehen die beiden von Tschechows bekanntem Drama Drei Schwestern aus. Riccardo Fazi streicht in seiner Neufassung die männlichen Charaktere, deren Zeilen von den drei Protagonistinnen – Olga, Mascha und Irina – wiedergegeben werden. Das weibliche Trio steckt physisch und psychisch zwischen einer Vergangenheit voller nostalgischer Erinnerungen und einer schwer vorstellbaren Zukunft fest und kämpft verzweifelt darum, eine einfache Frage zu beantworten: Warum sind wir auf dieser Erde? In Muta Imagos Show verläuft das Leben wie eine mechanische Abfolge fester Ideen und absurder Gesten, die von den drei Darstellerinnen in sich wiederholende Bewegungen übertragen werden. Tatsächlich reden die Frauen nie wirklich miteinander, jede folgt ihren eigenen selbstmitleidigen Gedanken.

Von Anfang an scheint es, als würden die Protagonistinnen eine einzige Figur formen, als sich im noch dunklen Saal ihre Hände wie Schmetterlinge in einem von oben nach unten fallenden Lichtstrahl hin und her bewegen. Dieser nonverbale Prolog ist der einzige stille Moment der Performance. In Claudia Soraces sorgfältiger Inszenierung führen die Körper der Protagonistinnen eine überraschende, manchmal irritierende Choreografie auf. Die Bewegungen erinnern an mechanische Puppen, die sich stetig bemühen, ein sicheres Leben gegen den unaufhaltsamen Strom äußerer unerfreulicher Ereignisse aufzubauen. Die unterdrückende Atmosphäre wird durch den Einsatz des Stroboskoplichts und der von Lorenzo Tomio komponierten und live am Bühnenrand gespielten Musik verstärkt. Die akribische Erforschung der Klangdimension ist offensichtlich – nicht umsonst erhielt Muta Imago 2022 den Ubu-Preis für das beste Sound-Projekt. Vor allem aber bringen die drei Performerinnen ihr schauspielerisches Können und Talent in der minimalistischen Einrichtung zur Geltung: im Hintergrund eine Wand, in der Mitte ein quadratischer Spielraum, in dessen vier Ecken ein Telefon, einige Kissen, ein Stapel Zeitschriften sowie ein Radiokassettenspieler platziert sind.

***

   Einen besonderen Platz im Programm des Theaterfestivals nimmt seit mehreren Jahren die Sektion "Biennale College Teatro" ein, die jungen Dramatikern und Regisseuren bis 40 Jahren Sichtbarkeit verschafft. Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010, der große Mengen Vulkanasche in den Himmel schleuderte und massive Probleme im Flugverkehr verursachte, wurde für Stefano Fortin zu einer Quelle der Inspiration und einer Metapher für menschliche Wut. Das mit dem Biennale-College-Teatro-Playwriting-Award 2023 ausgezeichnete Theaterstück ist untergliedert in einen Prolog und drei Szenen. Im ersten Teil von Asche geht es um einen Sohn, der seine Eltern ablehnt; im zweiten erscheinen drei Polizisten am Tatort eines Mordes, wobei einer von ihnen ein Elternpaar über den Tod ihres Sohnes informieren soll; im letzten Teil kommt das Opfer zu Wort, das über das Geschehene und die Gegenwart reflektiert. Fortins komplexer Text zeigt einen klaren, rhythmischen Schreibstil, der mit den Konventionen des Theaters im Theater spielt, denn die Stimme des Autors greift sehr oft in den Text ein. "Der Titel stellt das 'Verbrennen' von Etappen in unserem Leben dar, von Phasen, die wir uns selbst nicht verzeihen können, weshalb wir den Schmerz durch die Flamme unserer Wut in eine kontinuierlich fallende Asche verwandeln", erläutert Regisseurin Giorgina Pi.

Die Geschichte erstreckt sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten: von Pier Paolo Pasolinis Beerdigung im Jahr 1975 – die im ersten Teil des Stücks im Fernsehen übertragen wird, über den zweiten, der auf die blutige Unterdrückung der Proteste während des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001 anspielt, bis hin in die Gegenwart, die sich unwürdig für ein besseres Leben erweist. Die generationsübergreifende Beschimpfung am Ende des Triptychons lehnt sich an die Worte eines 2017 in italienischen Zeitungen veröffentlichten Briefes eines dreißigjährigen Selbstmordattentäters an. Asche vermischt Realität mit Fiktion, um eine moderne Tragödie von Missverständnissen und Selbstzerstörung zu erzählen. Die Inszenierung besticht durch die hervorragenden Schauspieler, die von einem Mikrofon zum anderen wechseln, zwischen einem passenden Lichtdesign und einer prägnanten, vom "Collettivo Angelo Mai" signierten Tonkulisse.

   Alle drei Produktionen skizzierten eine düstere, "schwarze" Welt, regten zum Nachdenken über die Entwicklung von Gesellschaften in Krisenzeiten an und brachten gleichzeitig den Wunsch zum Ausdruck, eine friedliche, "weiße" Umwelt hervorzubringen.

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