Ein
Mann und eine Frau. Beide laufen. Er im Freien, sie als politische Gefangene
auf der anderen Seite der Gefängnismauer. Vor ihrer Festnahme hatten sie
monatelang trainiert. Geplant war, den Iran zu verlassen und nach England zu
gelangen. Dabei sollte der Eurotunnel in den fünf Stunden zwischen dem
letzten Abendzug und der ersten Bahn des nächsten Tages durchquert werden.
Sieben Tage vor der Abreise wird der Plan für ein neues Leben durch die
Verhaftung der Frau zunichte gemacht. Einmal pro Woche besucht der Mann
seine Frau im Gefängnis. Auf ihr Drängen hin erklärt er sich bereit, eine
blinde Jugendliche zu einem Sportwettkampf nach Paris zu begleiten. Werden
es diese beiden durch den Eurotunnel nach England schaffen?
Zwischen den Grenzen des
Gefängnisses und dem vom Laufen gebotenen Freiheitsgefühl entwickelt die
Geschichte von Blind Runner nach und nach einen hypnotischen
Rhythmus. "Das größte Hindernis ist nicht die Abwesenheit von Freiheit,
sondern die Illusion, frei zu sein", sagt Dramatiker und Regisseur Amir Reza
Koohestani, der selbst das Laufen nach der brutalen Niederschlagung der
Proteste der iranischen "Grünen Bewegung" 2009 ausübte. Gemeinsam mit seiner
1996 in Shiraz gegründeten Künstlergruppe "Mehr Theater Group" präsentierte
der iranische Künstler sein Werk bei der 52. Ausgabe der Theaterbiennale von
Venedig, die vom 15. bis 30. Juni stattfand. Die Koproduktion mit mehreren
europäischen Festivals und Theatern (Berliner Festspiele, Athens Epidauros
Festival, Théâtre de la Bastille Paris usw.) bietet eine tiefgreifende
Reflexion über die heutige iranische Gesellschaft. Auf hochpoetische,
spielerische Weise lässt Koohestani Dialoge und innere Monologe
ineinandergreifen und verknüpft in diesem ausgeklügelten Mechanismus die
Schicksale dreier Menschen. Getreu seiner Herangehensweise an die leere
Bühne nutzt der Regisseur geschickt live gefilmte Videosequenzen, um den
Blick auf die Gesichter der Darsteller zu fokussieren. Blind Runner
kann man zweifellos als emotional bezeichnen, auch durch die verwendete
persische Musik.
"Das Leben ist in Farbe, aber Schwarzweiß ist
realistischer"
Mit
diesem Zitat aus einem Film des deutschen Regisseurs und Fotografen Wim
Wenders beginnt das fast 400 (!) Seiten dicke Programmbuch der diesjährigen
Ausgabe der Theaterbiennale. Es war die letzte des Kuratorenduos Stefano
Ricci und Gianni Forte, das von Anfang an verschiedene Farben als Motto
wählte. Nach Blau, Rot und Grün folgte abschließend "Schwarz und Weiß",
genauer gesagt "Niger et Albus". Der Kontrast "zwischen Gut und Böse im
ewigen Streben des Menschen nach Perfektion", aber auch "die Fähigkeit,
Andersartigkeit zu akzeptieren" waren die Leitsätze, nach denen sich die
Auswahl der Produktionen richtete. Kein Wunder, dass der Goldene Löwe dem
australischen Kollektiv "Back to Back Theatre" verliehen wurde, in dem seit
über 30 Jahren behinderte und nicht behinderte Menschen gemeinsam spielen.
Der Silberne Löwe ging an die britisch-deutsche Künstlergruppe "Gob Squad".
Auf dem Programm standen einige der wichtigsten Protagonisten der
zeitgenössischen internationalen Theaterszene wie Milo Rau, Tim Crouch, Miet
Warlop, Markus Öhrn und italienische Künstler wie Ciro Gallorano, Elia
Pangaro und Luanda Casella.
Tiefgründig und fesselnd
baut sich die Geschichte des 2006 in Rom vom Dramatiker Riccardo Fazi und
Regisseurin Claudia Sorace gegründeten Ensembles "Muta Imago" auf. In ihrer
Analyse des Lebenssinns gehen die beiden von Tschechows bekanntem Drama
Drei Schwestern aus. Riccardo Fazi streicht in seiner Neufassung die
männlichen Charaktere, deren Zeilen von den drei Protagonistinnen – Olga,
Mascha und Irina – wiedergegeben werden. Das weibliche Trio steckt physisch
und psychisch zwischen einer Vergangenheit voller nostalgischer Erinnerungen
und einer schwer vorstellbaren Zukunft fest und kämpft verzweifelt darum,
eine einfache Frage zu beantworten: Warum sind wir auf dieser Erde? In Muta
Imagos Show verläuft das Leben wie eine mechanische Abfolge fester Ideen und
absurder Gesten, die von den drei Darstellerinnen in sich wiederholende
Bewegungen übertragen werden. Tatsächlich reden die Frauen nie wirklich
miteinander, jede folgt ihren eigenen selbstmitleidigen Gedanken.
Von Anfang an scheint es,
als würden die Protagonistinnen eine einzige Figur formen, als sich im noch
dunklen Saal ihre Hände wie Schmetterlinge in einem von oben nach unten
fallenden Lichtstrahl hin und her bewegen. Dieser nonverbale Prolog ist der
einzige stille Moment der Performance. In Claudia Soraces sorgfältiger
Inszenierung führen die Körper der Protagonistinnen eine überraschende,
manchmal irritierende Choreografie auf. Die Bewegungen erinnern an
mechanische Puppen, die sich stetig bemühen, ein sicheres Leben gegen den
unaufhaltsamen Strom äußerer unerfreulicher Ereignisse aufzubauen. Die
unterdrückende Atmosphäre wird durch den Einsatz des Stroboskoplichts und
der von Lorenzo Tomio komponierten und live am Bühnenrand gespielten Musik
verstärkt. Die akribische Erforschung der Klangdimension ist offensichtlich
– nicht umsonst erhielt Muta Imago 2022 den Ubu-Preis für das beste
Sound-Projekt. Vor allem aber bringen die drei Performerinnen ihr
schauspielerisches Können und Talent in der minimalistischen Einrichtung zur
Geltung: im Hintergrund eine Wand, in der Mitte ein quadratischer Spielraum,
in dessen vier Ecken ein Telefon, einige Kissen, ein Stapel Zeitschriften
sowie
ein Radiokassettenspieler platziert sind.
***
Einen besonderen Platz im
Programm des Theaterfestivals nimmt seit mehreren Jahren die Sektion
"Biennale College Teatro" ein, die jungen Dramatikern und Regisseuren bis 40
Jahren Sichtbarkeit verschafft. Der Ausbruch des isländischen Vulkans
Eyjafjallajökull 2010, der große Mengen Vulkanasche in den Himmel
schleuderte und massive Probleme im Flugverkehr verursachte, wurde für
Stefano Fortin zu einer Quelle der Inspiration und einer Metapher für
menschliche Wut. Das mit dem Biennale-College-Teatro-Playwriting-Award 2023
ausgezeichnete Theaterstück ist untergliedert in einen Prolog und drei
Szenen. Im ersten Teil von Asche geht es um einen Sohn, der seine Eltern
ablehnt; im zweiten erscheinen drei Polizisten am Tatort eines Mordes, wobei
einer von ihnen ein Elternpaar über den Tod ihres Sohnes informieren soll;
im letzten Teil kommt das Opfer zu Wort, das über das Geschehene und die
Gegenwart reflektiert. Fortins komplexer Text zeigt einen klaren,
rhythmischen Schreibstil, der mit den Konventionen des Theaters im Theater
spielt, denn die Stimme des Autors greift sehr oft in den Text ein. "Der
Titel stellt das 'Verbrennen' von Etappen in unserem Leben dar, von Phasen,
die wir uns selbst nicht verzeihen können, weshalb wir den Schmerz durch die
Flamme unserer Wut in eine kontinuierlich fallende Asche verwandeln",
erläutert Regisseurin Giorgina Pi.
Die Geschichte erstreckt sich über einen
Zeitraum von mehreren Jahrzehnten: von Pier Paolo Pasolinis Beerdigung im
Jahr 1975 – die im ersten Teil des Stücks im Fernsehen übertragen wird, über
den zweiten, der auf die blutige Unterdrückung der Proteste während des
G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001 anspielt, bis hin in die Gegenwart, die
sich unwürdig für ein besseres Leben erweist. Die generationsübergreifende
Beschimpfung am Ende des Triptychons lehnt sich an die Worte eines 2017 in
italienischen Zeitungen veröffentlichten Briefes eines dreißigjährigen
Selbstmordattentäters an. Asche vermischt Realität mit Fiktion, um
eine moderne Tragödie von Missverständnissen und Selbstzerstörung zu
erzählen. Die Inszenierung besticht durch die hervorragenden Schauspieler,
die von einem Mikrofon zum anderen wechseln, zwischen einem passenden
Lichtdesign und einer prägnanten, vom "Collettivo Angelo Mai" signierten
Tonkulisse.
Alle drei Produktionen
skizzierten eine düstere, "schwarze" Welt, regten zum Nachdenken über die
Entwicklung von Gesellschaften in Krisenzeiten an und brachten gleichzeitig
den Wunsch zum Ausdruck, eine friedliche, "weiße" Umwelt
hervorzubringen.