Völlige
Dunkelheit herrscht in den gespenstisch leeren Räumen auf Lazzaretto
Vecchio, der kleinen Insel in der Lagune von Venedig südlich der Stadt, gut
50 Meter westlich des Lido. In diesem ehemaligen Krankenhaus für Pest und
Lepra lud Romeo Castellucci zu seiner neuen Arbeit
Die Kartoffelesser ein. Unsere 30-köpfige Gruppe folgt zögernd dem
schwachen Licht einer Taschenlampe. In den ersten zwei Räumen bietet sich
uns der beunruhigende Anblick zuckender Körper verschlossen in schwarzen
Leichensäcken. Erst im letzten Raum entfaltet Castellucci seine visuelle und
auditive Kunst. Das Licht erlischt, und in der Dunkelheit bläst uns
stehenden Besuchern ein wütender Wind entgegen. Dann materialisiert sich
unter flackerndem Licht eine kopflose geflügelte Statue. Eine Gruppe von
Bergarbeitern bringt einen Leichensack mit, aus dem eine nackte, nur mit
weißem Pulver bedeckte Frau hervorkriecht. Sie gibt unerkenntliche Laute von
sich. Die Szene ist ebenso rätselhaft wie verblüffend. Castellucci schlägt
eine Brücke in die Gegenwart jener in schwarzen Säcken eingeschlossenen
Körper, die sich in die jüngste Erinnerung an das Pandemie-Drama eingeprägt
haben. Und doch lässt der italienische, weltweit bekannte Regisseur jedem
die Interpretation frei. Es gelingt ihm auch dieses Mal, ein unvergessliches
Erlebnis zu schaffen.
Diese ortsspezifische Installation war eindeutig einer
der Höhepunkte der 53. Ausgabe der Theaterbiennale, die in Venedig vom 31.
Mai bis zum 15. Juni stattfand. Für sein erstes Jahr als künstlerischer
Leiter des internationalen Festivals hat Hollywood-Schauspieler William
Dafoe Künstler ausgewählt, die er kennt und bewundert. Dabei griff er auf
seine zehnjährige Tätigkeit als Mitbegründer der legendären New Yorker
Avantgarde-Theatergruppe "The Wooster Group" zurück. Unter dem Motto
"Theater ist Körper. Körper ist Poesie" rückte Dafoe experimentierfreudige
Theatermacher wieder ins Rampenlicht, die ihn bei der Theaterbiennale 1975
in Venedig geprägt haben.
So zeigte
beispielsweise Symphony of Rats
der Wooster Group in der Regie von Kate Valk und Elisabeth LeCompte
(Gewinnerin des Goldenen Löwen 2025 für ihr Lebenswerk), wie vorausschauend
die Theatergruppe Technologie einsetzt. In diesem 1988 von Richard Foreman
geschriebenen surrealen Stück verliert ein fiktiver US-Präsident den
Verstand. Er glaubt, Botschaften aus dem Weltall zu erhalten. Viele davon
werden durch ein verspieltes Videodesign auf der Bühne dargestellt. Mit
Bildschirmen, Drähten und schwebenden Bällen sieht es so aus, als wäre der
Anführer im Labor eines verrückten Wissenschaftlers gefangen, in der
Realität und Fantasie zunehmend verschwimmen. Die Geschichte ist
offensichtlich ein Vorwand und entzieht sich jeder erzählerischen Logik. Sie
enthält explizite Verweise auf mehr oder weniger bekannte Filme,
Fernsehserien und Bildzitate und vermittelt eine Komplexität, die direkt
proportional zu den Objekten auf der Bühne ist und zur Fähigkeit der
Schauspieler, nahtlos mit den digitalen Elementen zu interagieren. Eine
Hymne auf die Absurdität unseres Lebens.
Hamlets Wolken der berühmten dänischen Theatergruppe
Odin Teatret, geleitet vom 88-jährigen italienischen Regisseur Eugenio
Barba, behandelte das väterliche Erbe und die Möglichkeit der jungen
Generation, sich von der Aussicht auf blutige Rache zu befreien. Ein
siebenköpfiges Ensemble erzählt die Geschichte von Shakespeares "Hamlet" mit
Tanzschritten, Gesang und einer ermüdenden Menge an Geschrei neu. Wenn die
Erzählerin mehrmals mit einer Schaufel auf den Boden schlägt, lässt es einen
erschaudern. Es fühlt sich an wie ein Ritual. Für den mehrsprachigen Text
gab es keine Untertitel. Da Ofelia von einer rumänischen Schauspielerin
verkörpert wurde, war dies ein Riesenvorteil für mich als Muttersprachlerin
in Rumänisch. Noch dazu verwendet die Regie sich wiederholende rumänische
Klagelieder, die für ein nicht Rumänisch sprechendes Publikum unverständlich
bleiben.
Barbas
Produktion ist aggressiv angelegt, denn, wie es im umgeschriebenen Text
heißt: "Hamlet ist nicht der Wahnsinnige. Die Welt um ihn herum ist aus den
Fugen geraten." Lässt man die Emotionen beiseite, ist
Hamlets Wolken durchaus eine treffende Reflexion über die
Gesellschaft im Jahr 2025.
Des Weiteren waren zahlreiche renommierte Namen von
Theatermachern wie Thomas Ostermeier, Antonio Latella oder Milo Rau im
Festivalprogramm vertreten. Letzterer stellte sein neuestes Werk vor: Die
Seherin. Eine Kriegsfotografin, die vergewaltigt wird und ein Iraker,
dem der IS die Hand abgehackt hat: Milo Raus Inszenierung, die ihre Premiere
bei den Wiener Festwochen 2025 gefeiert hatte, verbindet zwei Schicksale zu
einem eindringlichen Erzähldrama. Nicht umsonst wurde Protagonistin Ursina
Lardi bei der Theaterbiennale mit dem Silbernen Löwen gekrönt.
Die Zukunft ist in guten Händen
William Dafoe
zeigte sich darüber hinaus offen für aufstrebende Ensembles und Regisseure,
die den Körper des Schauspielers in den Mittelpunkt ihrer kreativen Arbeit
stellen. "Ich wollte mich auf das Wesentliche konzentrieren: die
Bühnenpräsenz, die die Zuschauer begeistert und Räume der Fantasie öffnet",
steht in den üppigen, sehr gut aufbereiteten Programmbüchern.
Regisseurin Yana Eva Thönnes ist ein Paradebeispiel. Der
geschändete und bloßgestellte Körper ist Thema ihrer Weltpremiere Call Me
Paris. Darin verknüpft die Künstlerin zwei fragmentarische Geschichten:
ihre eigene und die von Paris Hilton, Erfinderin des Selfies und erzwungenen
Protagonistin des von ihrem Ex-Freund veröffentlichten Sexvideos "1 Night in
Paris". In diesen "Theater-Memoiren" erinnert sich Thönnes daran, wie sie
als Teenagerin in der deutschen Provinz Paris genannt wurde, weil sie wie
Hilton aussah, und geht der Frage nach, wie die frauenfeindliche Kultur der
2000er-Jahre ihrer beider Leben geprägt hat.
Visuell ist Thönnes' Arbeit schlicht und wirkungsvoll
zugleich: Ein Mann und drei Barbie-ähnliche Frauen bewegen sich um ein
riesiges Bett mit rosa Satin-Spannbettlaken. Wenn Gewalt droht, verstecken
sie sich darunter. Als attraktive junge Blondine zieht die Schauspielerin,
die Thönnes verkörpert, ungewollte sexuelle Aufmerksamkeit auf sich, die
Hilton zunächst genießt, bevor sie offenbart, welchen Tribut dieses
Interesse an ihr fordert. Der Körper wird zum Instrument, zum leblosen
Objekt, an dem man seine Fantasien ausleben kann. Call Me Paris
fängt zugleich den Schaden ein, den die Promikultur bei Mädchen anrichten
kann. Poetisch wirkt am Ende nur die Fee, die vor dem Bett stillsteht,
während der Körper des Mannes auf dem Bett flach liegt. Sie vermittelt den
Eindruck einer dramatischen Intervention, deren Vollendung dem Publikum
überlassen bleibt.
Als etablierte
Ausbildungsstätte für kreative Talente von morgen bestätigte die Biennale
College Teatro auch dieses Jahr ihre Wichtigkeit im Rahmen des
Festivalprogramms mit drei neuen Arbeiten von Künstlern unter 40 Jahren.
Regisseurin, Marionettenspielerin und Dramatikerin Mariasole Brusa war die
Gewinnerin der Regieausschreibung 2024-25. Ihre Produktion Golem_und
Dreck ist die Welt mischt gekonnt Puppentheater mit Archivmaterialien
und Film. Mit wunderbar leichten, verspielten und dabei bildstarken Szenen
erzählt Brusa die Golem-Legende und das Überschwemmungstrauma in der
Emilia-Romagna-Region des Jahres 2023. Eine symbolische gelungene Überlegung
über das Verhältnis Mensch-Natur.
Biennale College schlug auch geeignete Workshops vor, die
unter anderem von Meistern wie Eugenio Barba and Julia Varley, Thomas
Richards, Davide Carnevali gehalten wurden. Konferenzen und ein den
Dokumentarfilmen der beim Festival anwesenden Künstler
gewidmetes "Spazio Cinema"
ergänzten das Festivalprogramm, "um so den Dialog zwischen Theater
und Kino zu fördern und zu pflegen".