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Der Chor als Wurzel des heutigen Theaters

"Als wir im Olimpico saßen, bat ich alle, eine Weile zu schweigen. In der Stille
tauchte dann das Wort 'Chor' auf", verriet mir Ermanna Montanari in einem Interview, wie
sie die Entscheidung für das Motto des Festivals "Zyklus der Klassiker" traf. Die 77. Auflage
der Festspiele, die sich vom 20. September 2024 über einen Monat erstreckte, fand
größtenteils im Teatro Olimpico, dem 1580 erbauten Theatergebäude, in Vicenza statt.
Architekt dieses prächtigen Baus ist Andrea Palladio. Jeder, der im halbovalen
Zuschauerraum Platz nimmt, ist von der Schönheit des Raumes bezaubert.

Von Irina Wolf
(14. 02. 2025)

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   Abgeschlossen werden die 14 stufenförmigen Sitzreihen von einem Säulengang mit Balustraden. Der gemalte Himmel über dem Raum spielt auf das klassische Theater unter freiem Himmel an. Die monumentale Bühnenwand gibt durch drei Portale den Blick auf eine Kulissenstadt – ein idealisiertes Theben – frei. Um die Illusion von Tiefe zu verstärken, steigt der Bühnenboden an und die Häuser sind perspektivisch verkleinert. Kein Wunder, dass diese Kulisse für alle Vorstellungen als Bühnenbild verwendet wird.

Orestie. Eine körperbetonte Inszenierung über blutige Zeiten

   "Chor ist die Stadt in ihrer Fröhlichkeit und Chor ist auch die Masse in ihrer Gewalt; Chor kann vom Krieg bis zum Engelsgesang reichen", sagt Ermanna Montanari, die zusammen mit Marco Martinelli die künstlerische Leitung der Festspiele 2024 übernahm. So ist es nicht verwunderlich, dass die beiden Regisseur Theodoros Terzopoulos, einen Meister der Inszenierung des klassischen tragischen Repertoires, nach Vicenza einluden. Nach der Weltpremiere der Orestie beim Epidaurus-Festival im Sommer 2024 adaptierte Terzopoulos sein Werk für den kleineren Raum des Teatro Olimpico. Dabei zeichnete er sowohl für Dramatik, Bühnenbild, Kostüm- und Lichtdesign verantwortlich. Terzopoulos kehrt in seiner Interpretation der Aischylos-Trilogie (Agamemnon, Choephoren und Eumeniden) zur ursprünglichen Funktion des griechischen Theaters zurück und hinterfragt Möglichkeiten zur Veränderung der Gesellschaft. Im Zentrum seiner Arbeit steht ein Chor, bestehend aus zwanzig talentierten jungen Schauspielern, die mit mathematischer Genauigkeit agieren und einen zusammenhängenden Körper bilden.

Von Anfang an betont Terzopoulos das Böse, das einer rachsüchtigen Gemeinschaft innewohnt: Messerklingen leuchten in dem ins Halbdunkel getauchten Bühnenbild auf; blutbefleckte Laken liegen im Kreis auf dem Boden. Es sind stumme Zeugen der Gewalt. Höchst beeindruckend und stimmig wird die Blutgier mit rhythmischer Synchronisation und flexibler Choreografie dargestellt. Mit dem Auftritt von Athene im goldenen Anzug wird die ideologische Absicht von Theodoros Terzopoulos verdeutlicht. "Willkommen in der Neuen Welt", dröhnt es aus den Lautsprechern. Ohrenbetäubende Geräusche, die an Börsenhektik und Kampfhubschrauber erinnern, begleiten die Aussagen der berühmten Göttin der Weisheit, des Krieges und der Zivilisation. Das sind die einzigen Aktualisierungen der antiken Tragödie. Athene enthüllt den Kern von Terzopoulos' in griechischer Sprache mit italienischen Übertiteln versehener dreieinhalbstündiger Aufführung (ohne Pause!): Die alten Rachegötter brachten den Tod, aber ist die moderne Zivilisation nicht genauso blutrünstig? Die Analogien zur heutigen weltweiten Krise der Demokratie liegen auf der Hand.

Lied des Ödipus. Eine Variante in "grecanico" mit italienischen Übertiteln

   Sieben Tage später fand im selben einzigartigen Raum die Uraufführung von Tragùdia, dem neuen künstlerischen Projekt von Alessandro Serra, statt. Der italienische Regisseur geht von Artauds Rückkehr zu den primitiven Mythen aus und fragt, wie das kollektive Wissen heute rekonstruiert werden kann, vor allem in welcher Sprache, die nicht konzeptionell, sondern musikalisch, instinktiv und sinnlich sein soll. Zu diesem Zweck verzichtet Serra – der auch für Bühnenbild, Kostüme, Licht- und Tondesign verantwortlich zeichnet – auf Italienisch und entscheidet sich für einen antiken griechisch-kalabrischen Dialekt, der auch als "grecanico" bekannt ist.

Indem der Künstler an Sophokles' Werke König Ödipus und Ödipus auf Kolonos anknüpft, verfolgt er in seinem Lied des Ödipus die Reise des Helden von dessen Kindheit über die Entdeckung seiner Sünden bis hin zu seiner Blindheit, dem Abstieg in den Hades und schließlich der Wiedervereinigung mit den Göttern und seinem Verschwinden im Wald der Eumeniden. Serras originelle Kreation ist überlagert mit Symbolen und visuellen Anregungen. Vor allem stechen die Stimmen und Körpereinsätze des Chors hervor, der aus sieben Schauspielern besteht. "Ein akustischer Raum, der in einer kollektiven Emotion mitschwingt; eine Energie, die außerhalb der Zeit existiert", erläutert der Künstler sein Ziel im Programmheft. Auch in dieser Inszenierung vibriert die antike Welt im "natürlichen Bühnenbild" des Teatro Olimpico, insbesondere wenn sich die Körperhaltungen der Künstler mit den beleuchteten lebensgroßen Statuen aus Palladios monumentaler Fassade zu identifizieren scheinen. Serras visionäres Werk begeistert mit stimmlichen und erzählerischen Mitteln, die Mythos und Menschlichkeit ans Licht bringen. Besonders beeindruckend ist das letzte Bild, als der blinde Ödipus, eingehüllt in ein himmlisches Licht der Erlösung und Liebe, durch die Kulisse des Teatro Olimpico schreitet.

"Der Chor war der aufschlussreiche Spiegel der sich aus Tausenden von Bürgern zusammengesetzten Gemeinschaft, die im Athen des 5. Jahrhunderts nicht nur bloße Zuschauer waren, sondern auch als Schöpfer an der Seite der Künstler fungierten", sagen die beiden Festivalleiter Montanari und Martinelli, zugleich Gründer des Teatro delle Albe in Ravenna. Bekannt für ihre "öffentlich zugänglichen Aufrufe" der letzten Jahre, durch die sie Tausende von Menschen aus der Gegend von Ravenna begeisterten, um Dante Alighieris Göttliche Komödie zum Leben zu erwecken, riefen Montanari und Martinelli auch in Vicenza die Bürger auf, sich an einer neuen Arbeit zu beteiligen. So hatte ich während meines Aufenthaltes das Vergnügen, zusammen mit 50 anderen Einwohnern unterschiedlichen Alters und verschiedener Ethnien an einem Workshop unter der Leitung der beiden Künstler teilzunehmen. Fegefeuer der Dichter hieß die "Choraktion", die Teile der "Göttlichen Komödie" mit poetischen Fragmenten von Emily Dickinson, Wladimir Majakowski, Walt Whitman verband.

   Das Festival, das auch in der Palladio-Basilika, dem Astra-Theater und der Bertolianischen Bibliothek in Vicenza stattfand, umfasste unter anderem noch einen Prolog Duet Behavior von John Hollenbeck und Meredith Monk – der weltweit einflussreichsten und bedeutendsten Künstler der Gegenwart , sowie die Produktion Pluto der goldene Gott, erarbeitet von Marco Martinelli mit Teenagern aus mehreren italienischen Ortschaften, unter anderem aus Pompeji und Vicenza, und schließlich Hugo von Hofmannsthals Elektra in der Regie von Serena Sinigaglia. Man darf auf die Festivalauflage 2025 unter der künstlerischen Leitung von Ermanna Montanari und Marco Martinelli gespannt sein.
 


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