Seit
über einem Jahr ist das Volkstheater geschlossen, zuerst wegen dessen
Generalsanierung, dann wegen Corona. Mit "Black Box. Phantomtheater für 1
Person" lädt Stefan Kaegi, bekannt auch von der Gruppe Rimini Protokoll, auf
einen Audiowalk durch mehrere Räumlichkeiten. Kostüm- und Maskenabteilung,
Lichtbrücke und Unterbühne, Requisite und Aufenthaltsraum, Souffleurkasten,
Kühlraum, Inspizientenpult, VIP-Lounge, Rote Bar – all das und vieles mehr
ist begehbar. Überall kann man in die Theaterwelt hineinschnuppern und auch
selbst auf der Bühne stehen. Der für seine ortsspezifischen Inszenierungen
weltweit hoch geschätzte Schweizer Künstler landet auch diesmal einen
Volltreffer.
Alle fünf Minuten geht es
für jeweils einen Besucher durch die von Stefan Kaegi eigens für das
Volkstheater kreierte Installation. Was mir als erstes auffällt:
Überraschend modern ausgestattet sind die WC-Anlagen. Das ist wohltuend und
ungewohnt für mich als häufige Volkstheater-Besucherin. Durchaus
beeindruckend sind auch die neuen Luftkühlerrohre der Klimaanlage im Keller.
Viel Freude spüre ich beim Betreten der hellen, frisch gestrichenen Gänge.
Trotz obligater FFP2-Maske ist der Farbgeruch noch immer recht intensiv.
"Theater ist Raum, Geruch, Adrenalin, Gemeinschaft", flüstert mir die
Kopfhörer-Stimme ins Ohr.
Mit viel Liebe zum Detail sind die Zimmer
ausgestattet. Kostüme, Perücken, Schminkutensilien, Postkarten, Fotos, ein
automatisches Schießgewehr in einem Violinenkoffer – und noch so vieles
mehr, das an vergangene Produktionen des Volkstheaters erinnert. Wie in
einem Harry-Potter-Film schaltet sich die Nähmaschine in der Kostümwerkstatt
von selbst ein. Auch im Requisitenraum scheint es zu geistern: Kunstschnee
fällt von der Decke, während eine künstliche Blume in einem Topf "aufblüht".
Dennoch bietet Kaegis
Konzept viel mehr als nur eine visuelle Reise durch das Volkstheater. An
jeder Station strömen Geräusche und Gespräche in die Ohrmuschel.
Schauspieler, Dramaturgen, Techniker, Requisiteure, Maschinisten
sowie Menschen theaterferner Berufsgruppen wie Psychoanalytiker, Architekten
und Schüler kommen zu Wort. Es reicht aus, sich von den warmen Stimmen und
den Klängen einhüllen zu lassen, die so präzise räumlich sind, dass man
ständig versucht, sich umzudrehen, um zu sehen, wer hinter der Schulter
spricht, wer hinter dem Rücken flüstert, wer zum Beispiel das Maß des Kopfes
und der Brust misst, während man auf einem Hocker sitzt, damit die Näherin
Änderungen vornehmen kann.
Letztendlich dreht sich
doch alles um die Bühne. Zuerst bekommt man von der Lichtbrücke einen
atemberaubenden Blick auf das Plateau – nur etwas für Schwindelfreie. Nach
weiteren Stationen darf man unter die ersten Sitzreihen spähen und aus dem
winzigen Souffleurkasten auf die Bühne gucken – nichts für Klaustrophobe! So
nähert man sich langsam der Spielfläche. Noch verweilt man kurz am Rand.
Alles ist zeitlich genau getaktet und ausgeklügelt: Man nimmt auf dem
Inspizientensessel Platz, darf die Nebelmaschine betätigen, bis man
schließlich die Hauptbühne betritt. "Anhalten, wo die Fußabdrücke sind",
sagt die Stimme (von Doris Weiner) ins Ohr. Von vorne ist man von einem
Scheinwerfer geblendet, von hinten spürt man eine beachtliche Wärme von
einer Reihe anderer Lichtstrahler. Auf einmal wird es dunkel. Nur eine
geringe Anzahl von Sesseln im leeren Zuschauerraum wird sanft beleuchtet. Da
sitzt eine einsame Person: Es ist der Besucher, der das Theater im
fünfminütigen Zeitfenster vor mir durchwandert. Bis vor Kurzem stand er
noch auf der Bühne. Wir schauen uns an und sind von Emotionen überwältigt.
Beide sind wir Beobachter und Protagonist zugleich. Diese Szene ist für mich
der eindeutige Höhepunkt des unvergesslichen Abends.
"Sie sind die subjektive Kamera, doch mit allen Sinnen in
Aktion. Sie werden die Aufnahmen nicht auf Film, sondern in Ihrem Hirn
festhalten", flüstert die Stimme im Kopfhörer gleich zu Beginn. Nach neunzig
Minuten ist der Spaziergang durch die intimen Kulissen des Volkstheaters
unter der neuen Intendanz von Kay Voges zu Ende. Hoffen wir, dass die Räume
wieder von Leben gefüllt werden, dass ein gemeinsames Erlebnis bald
ermöglicht wird. Der Prolog dafür ist vollbracht.