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Wie ein Buch zum Buch wird

Yann Martel über das wundersame Handwerk des Schreibens

Das mittelgroße Ich in mir kann sich noch gut darauf besinnen. Es war ein schöner
Frühlingstag in kanadischen Landen. Meine Tochter Lavinia lächelte mir aus ihrem königlich-
kaiserlichen Kinderwagen zu, meine Frau Adina schmiegte sich an meine rechte Seite und mein
Sohn Theo stellte sich, zu Hause oder halt irgendwo mit Freundinnen und Freunden in gewaltig
anschaulichen Tagesräumen versunken vor, er sei Manager einer IT-Firma in Toronto am Lake
Ontario geworden. Was er dann ja auch, sieh einer an, später in der Tat wurde.
Once upon a
time
, der Herr Mai war gekommen, stellte sich der kanadische Schriftsteller Yann Martel im
Rahmen einer kurzen (und erwartungsgemäß gut besuchten) Lesung in der Chapters
Buchhandlung der anspruchsvollen Bayview Village Mall in Toronto den Fragen
der "Menge“, seines Lesepublikums.

Von Vasile V. Poenaru
(28. 02. 2024)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 

Yann Martel.
Schiffbruch mit Tiger.
Fischer, 2004. 384 S.
ISBN: 3596156653
 

 

 

 

 

 

Aufgeschlossen muss einer
sein, wenn es darum geht,
durchs Zeitfenster zu schlüp-
fen und allgemein-relevante
Themen überzeugend und
verständlich in Angriff
zu nehmen.

 

 

 

 

 

 

Und an das tatsächliche
Erfolgsrezept kommen die
Leser wieder einmal doch
nicht ran. Der Abend wirkt
irgendwie angenehm, wenn
schon kaum sensationell
oder besonders erbaulich.

 

 

 

 

 

 

 

Der Mann, den der fran-
zösische Schriftsteller Michel
Butel als besten Autor seiner
Generation ausweist, hat
eine einnehmende Stimme
und gibt sich unbezwungen
aufgeschlossen, wenn es
um die schlichte und dabei
möglichst ansprechende
Erläuterung des Amts der
Schriftstellerei geht.

 

 

 

 

 

 

 

Als einer, der immerfort
zwischen Wahrhaben und
Fürwahrhalten nach den
Dingen Ausschau hält, weiß
das kanadische Wunder-
kind Yann Martel um die
Vielfalt in der Wirkung seiner
Worte, der weit ausholenden
Kleinarbeit jahrelanger
Forschung und Reflexion.

 

 

 

 

 

 

 

 

Denn ohne Dichter-Worte
würden wir, Hand aufs Herz,
ziemlich erbärmlich abschn-
eiden. Außerdem hat der
Dichter gesagt, man darf.
Man dürfe. Man könne
und solle.

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Moment (nicht diesen
Moment) der Gedankendäm-
merung wollen wir bis auf
Weiteres geistig festhalten,
denn daraus wird noch was.
Freilich: Der eine hat's,
der andere hat's nicht.
Das ist nun mal so.

 

Motto-Totto:

"Lasst mir Luft, dass ich atmen kann!"
(Alter Geheimrat
– in seiner Jugend)

Dass ich schreiben kann! Dass ich fliegen kann!
(Ich –
in meiner Jugend)


    Seit Martel mit dem 2001 veröffentlichten Roman Life of Pi (Schiffbruch mit Tiger) diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans anhand der sieben Millionen verkauften Exemplare den Durchbruch schaffte, war Martel bereits nicht nur in Kanada ein Begriff. Dem unter anderem mit dem wohldotierten Man Booker Prize (2002) wie mit dem freilich sozusagen nicht voll und ganz dotierten Deutschen Bücherpreis (2004) ausgezeichneten Erfolgsautor durfte nun der Toronto-Durchschnittsleser, den heißen Starbucks-Kaffee in der Hand, die eine große Geschichte und die vielen kleineren, sie umkreisenden Geschichten im Sinn, mal so richtig auf den Zahn fühlen.

"Bücher schreiben: Wie macht man das?", kam denn auch bald die unvermeidliche Frage.

Am Computer. Wie sonst? Das macht Spaß. Das regt an. Das greift durch. Das stimmt um. Sprache im technischen Zeitalter als Kunstwerk, als gleichsam unmittelbar gelebte, nein, als zweckmäßig wiederbelebte Geschichte, als kollektive Erinnerung an das, was nur mehr innerhalb der Sprache und durch die Sprache erfassbar ist, sozusagen zum Mitnehmen verewigen: Yann Martels stille Herausforderung an sein wundersames Handwerk, seine Selbstverständlichkeit diesseits von Wissen und Glauben, seine Berufung im Dienste reflexionsfreudiger Mitmenschen.

   Die Geheimformel? Schreiben als Umschreiben. Beständig. Zielgerichtet. Aufgeschlossen muss einer sein, wenn es darum geht, durchs Zeitfenster zu schlüpfen und allgemein-relevante Themen überzeugend und verständlich in Angriff zu nehmen. Ungleich dem im Ausdruck (oder im Abdruck) enthaltenen "fertigen Produkts" bleibe das literarische Werk, insofern als es nur innerhalb des Computers Bestand hat, ebenso virtuell wie die Ideen in seinem Kopf, verrät der Autor.

Ein dankbares Gebiet für Bedeutungsproduktion.

In Bayview Village ging es eigentlich vor allem um Beatrice & Virgil, einer neuen Aufarbeitung des Holocaust aus der Perspektive eines imaginären Dialogs zwischen zwei Kuscheltieren (einem Affen und einem Esel, oder, um den spielhaft inszenierten Klang des Originals getreu wiederzugeben, "a monkey and a donkey").

Geschichte, so Yann Martel, könne man ja nur im Nachhinein, und das heiße eben auf imaginärer Ebene, erleben, erkunden, empfinden.

Freilich macht dabei das Weiterreichen von Erinnerungen an sich – diesseits wie jenseits der Vergangenheitsbewältigung – eine heikle Angelegenheit aus, besonders wenn einer die Erinnerungen ja nicht selber "hat", sondern seinerseits über die Vermittlung von überlieferten Zeugnissen und allerlei Medienberichten als modellierbaren Rohstoff wandelnder rückblickender Erwartungshorizonte "erhält", eigenmächtig zu einem stilistisch geglückten Gesamtbild zusammenfügt, kreativ zubereitet und der Leserschaft unter der Verpackung eines zumutbaren Kulturguts verabreicht.

   Eine Wahrhaftigkeit des Narrativs, des Schreibens wird angestrebt, der man mit Begriffen wie "geschichtliche Wahrheit" kaum beizukommen vermag, wiewohl sie diese gerade als dokumentierte Fiktion aus unwahrscheinlichen Perspektiven erstaunlich wirkungsvoll beleuchtet. Eine derartige, sprachlich vielfach ausgearbeitete Beschwörung längst verklungener Schreie sei selbstredend nicht die "wahre" Geschichte, doch sie sei alles, was von dieser übrig bleibe.

Umformuliert: Schreiben, aber nicht nur so drauf hin.

Mittlerweile ist der Kaffee kalt geworden. Und an das tatsächliche Erfolgsrezept kommen die Leser wieder einmal doch nicht ran. Der Abend wirkt irgendwie angenehm, wenn schon kaum sensationell oder besonders erbaulich. Gefälligkeiten werden ausgetauscht, wie es sich eben zu solchen Veranstaltungen gehört. Auf die rechten Töne kommt es an, und darauf, recht viele davon zu überzeugen, dass es auch wirklich die rechten Töne seien.

Erfolgsautor mit Publikum: Der Mann, den der französische Schriftsteller Michel Butel als besten Autor seiner Generation ausweist, hat eine einnehmende Stimme und gibt sich unbezwungen aufgeschlossen, wenn es um die schlichte und dabei möglichst ansprechende Erläuterung des Amts der Schriftstellerei geht. Verkaufen? Verkaufen? Verkaufen? "Natürlich mögen wir Geld“, so Yann Martel.

"Doch eins kann ich Ihnen beteuern: Keiner von uns Autoren schreibt für Geld. Ginge es uns allein ums Geld, so würden wir etwas anderes tun."

   Das literarische Werk? "Ein Geschenk. Ein Geschenk an die Leserschaft." Damit darf, damit muss dann jeder einzelne "Beschenkte" (im Falle von Beatrice & Virgil etwa mit Ermäßigung CND 14,97) etwas anfangen, damit der Erwerb des Buches auch wirklich eine sinnvolle Bereicherung wird. Als einer, der immerfort zwischen Wahrhaben und Fürwahrhalten nach den Dingen Ausschau hält, weiß das kanadische Wunderkind Yann Martel um die Vielfalt in der Wirkung seiner Worte, der weit ausholenden Kleinarbeit jahrelanger Forschung und Reflexion. Sein – bei allem Irrsinn der angegangenen, dunkelsten historischen Ereignisse – selbst auferlegtes, unbeirrtes Projekt, sein verheißungsvolles Unterfangen, seine kontinuierliche Anmaßung: die bestmögliche Geschichte.

Ein Pendant zu Friedrich Dürenmatt?

Irgendwas zieht uns "hinan". (Danke, Alter Meister.) Jeder Gedankenzug zerrt an der einschläfernden Banalität des Alltags. Jeder Blitzschlag ist so scharf wie ein scharfes "ß". Jeder Donner ist ein Ur-Ton (total orphisch, klar!), jedes Wort hundert Prozent Herzkraft.

Nothing else will do. Ein Projekt kommt zustande, ein Schreibprojekt. Irgendwie, irgendwo, irgendwann. Nena.

Tatsache: Liebe wird aus Mut gemacht. Und dass Eros im Wort liegt, das ... ja das ... also dass Eros im Wort liegt, das ist schon was.

   Keine Angst vor dem Gewitter. Keine Angst davor, drangsaliert zu werden. Kein Stottern. Keine Schreibblockade. Keine Inspirationskrise. Weder Skrupel noch Zweifel. Gut und Geld? Total da! Plus die Herrlichkeit der Welt. Den dreisten Blick weit über die Chefetage hinweg Richtung Unendlichkeit.

Mais oui! "Dann über Büchern und Papier, trübsel'ger Freund, erscheinst du mir." Ein Geist in höheren Gefilden. Ein sehr freundlicher Geist, ein sehr anständiger, ein sehr lustiger und kreativer Geist. Nennen wir ihn Ghosty. Oder – with an Alpine touch: Gustily.

Der weiß, wie man's anpackt. Der kramt nicht unnütz im Satzbau herum. In seinen wohlgespitzten Klauen steckt das rechte Wort am rechten Ort, in seinen wachsamen Augen steckt der perfekte Entwurf jener höheren Digital-Weltanschauung, die wir ahnen, und in seinem souverän agilen Umgang mit der Thermik steckt ein ganz gewaltiges Quäntchen Wissenschaft und Samen – um schon wieder mal den Dichter, jawohl, jenen Dichter, mehrfach in den Schreibprozess mit einzubeziehen.

   Zuviel des Guten? Mag sein, aber nur zum Spaß. Und als Ansporn. Denn ohne Dichter-Worte würden wir, Hand aufs Herz, ziemlich erbärmlich abschneiden. Außerdem hat der Dichter gesagt, man darf. Man dürfe. Man könne und solle.

Creative-Writing-Zeitgeist wird das drüben, hinter den Wolken, genannt. Keine Schablonen-Falle. Keine Geplapper-Qualle. Keine platten Ja-ja-ja-nu-san-ma-da-Papperlapapp-Reden. Kein andauernd gähnendes Publikum. Kein verstimmter Kunde.

Gott erhalte uns das Schöne!

Unser genialer Adler weiß um die Großartigkeit der Perspektive, um das Erhabene im Wind, um das Verborgene, das Geborgene in Wort und Schrift. Er wird uns etwas erzählen. Er holt sich die beste Geschichte aus den (nicht nur) elektrisch geladenen Wolken, Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, zieht ihr einen schmucken Regenbogen an, haucht ihr ein bisschen Lebendigkeit ein und wirft sie tunlichst runter. Wir heben sie auf und basteln ein kreativ gemeintes Narrativ daraus, ein neues europäisches Narrativ. Es ist aber nicht aus der Luft gegriffen.

Düsenflieger rütteln an den Wolken. Machen ihre Kritzkratz-Runden am Horizont. Fliegen weiter. "Lasst mir Luft, dass ich reden kann!", herrscht sie der Meister der deutschen Dichtung noch an, ehe sie verschwinden. Er braucht nämlich frische Luft zum Atmen. Wir brauchen alle frische Luft zum Atmen. Und wenn uns sogar etwas einfällt, dann umso besser. Dann ist heute mal auch die Inspiration gut drauf.

   Entweder Manhattan oder man hat'n nicht, den blitzartigen Einfall, von dem schon ein gewisser Häuptling Longinus vor geraumer Zeit öfters zu sprechen pflegte, wenn der Himmel out West über den Lagerfeuern unserer schönen, ausgedehnten Prärien schon wieder mal sozusagen nicht hundertprozentig heiter war. Ganz davon zu schweigen, dass es bei Wicki (ja, Wicki as in Wicki und die starken Männer) immer wieder "Ich hab's!" hieß. Dieses Moment (nicht diesen Moment) der Gedankendämmerung wollen wir bis auf Weiteres geistig festhalten, denn daraus wird noch was. Freilich: Der eine hat's, der andere hat's nicht. Das ist nun mal so.

Ella, elle l'a!, wusste dabei schon France Gall vollkommen richtig auf den Punkt zu bringen, was wir hier möglichst einleuchtend und allgemein-verbindlich umschreiben wollen. Klar. Parce que si tu l'as, tu l'as. Nicht einmal Kant und Schiller hätten das besser ausdrücken können, als sie sich aus doppelter Perspektive unheimlich philosophisch an das Schöne und an das Erhabene heran schlichen, um uns genauestens mitzuteilen, was das denn eigentlich sei und wie man damit wohl am besten umgehen möge.

Ach ja! ... und digital soll's irgendwie auch werden. Natürlich digital! Wie sonst? If it ain't digital, it ain't nothing. Okay, das ist jetzt, zugegeben, kein Schulenglisch, und wir wollen im Moment auch gar nicht mehr damit weiter machen, nur: Good writing muss eben nicht unbedingt immer zugleich gutes Schulenglisch sein. There is more to it, wie der Medizinmann einst sagte. Das war am Lagerfeuer.

   Ja, von den Dingen rundherum Notiz nehmen; alles wahrnehmen, alles ernst nehmen, aber nichts allzu ernst dann den passenden Augenblick im Nu geschickt einfangen und mit der Schreibkraft des Herzens, der Nerven, der Sehnen aufs Papier retten: darauf kommt es an.

Nun wollen wir wieder schreiben.

Ausdrucken?

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