Motto-Totto:
"Lasst mir Luft, dass ich atmen kann!"
(Alter Geheimrat – in seiner Jugend)
Dass ich schreiben kann! Dass ich
fliegen kann!
(Ich – in meiner Jugend)
Seit
Martel mit dem 2001 veröffentlichten Roman Life of
Pi (Schiffbruch mit Tiger) diesseits wie jenseits des Atlantischen
Ozeans anhand der sieben Millionen verkauften Exemplare den Durchbruch
schaffte, war Martel bereits nicht nur in Kanada ein Begriff. Dem unter
anderem mit dem wohldotierten Man Booker Prize (2002) wie mit dem freilich
sozusagen nicht voll und ganz dotierten Deutschen Bücherpreis (2004)
ausgezeichneten Erfolgsautor durfte nun der Toronto-Durchschnittsleser, den
heißen Starbucks-Kaffee in der Hand, die eine große Geschichte und die
vielen kleineren, sie umkreisenden Geschichten im Sinn, mal so richtig auf
den Zahn fühlen.
"Bücher schreiben: Wie
macht man das?", kam denn auch bald die unvermeidliche Frage.
Am Computer. Wie sonst?
Das macht Spaß. Das regt an. Das greift durch. Das stimmt um. Sprache im
technischen Zeitalter als Kunstwerk, als gleichsam unmittelbar gelebte,
nein, als zweckmäßig wiederbelebte Geschichte, als kollektive Erinnerung an
das, was nur mehr innerhalb der Sprache und durch die Sprache erfassbar ist,
sozusagen zum Mitnehmen verewigen: Yann Martels stille Herausforderung an
sein wundersames Handwerk, seine Selbstverständlichkeit diesseits von Wissen
und Glauben, seine Berufung im Dienste reflexionsfreudiger Mitmenschen.
Die Geheimformel?
Schreiben als Umschreiben. Beständig. Zielgerichtet. Aufgeschlossen muss
einer sein, wenn es darum geht, durchs Zeitfenster zu schlüpfen und
allgemein-relevante Themen überzeugend und verständlich in Angriff zu
nehmen. Ungleich dem im Ausdruck (oder im Abdruck) enthaltenen "fertigen
Produkts" bleibe das literarische Werk, insofern als es nur innerhalb des
Computers Bestand hat, ebenso virtuell wie die Ideen in seinem Kopf, verrät
der Autor.
Ein dankbares Gebiet für
Bedeutungsproduktion.
In Bayview Village ging es
eigentlich vor allem um Beatrice & Virgil, einer neuen Aufarbeitung
des Holocaust aus der Perspektive eines imaginären Dialogs zwischen zwei
Kuscheltieren (einem Affen und einem Esel, oder, um den spielhaft
inszenierten Klang des Originals getreu wiederzugeben, "a monkey and a
donkey").
Geschichte, so Yann
Martel, könne man ja nur im Nachhinein, und das heiße eben auf imaginärer
Ebene, erleben, erkunden, empfinden.
Freilich macht dabei das
Weiterreichen von Erinnerungen an sich – diesseits wie jenseits der
Vergangenheitsbewältigung – eine heikle Angelegenheit aus, besonders wenn
einer die Erinnerungen ja nicht selber "hat", sondern seinerseits über die
Vermittlung von überlieferten Zeugnissen und allerlei Medienberichten als
modellierbaren Rohstoff wandelnder rückblickender Erwartungshorizonte
"erhält", eigenmächtig zu einem stilistisch geglückten Gesamtbild
zusammenfügt, kreativ zubereitet und der Leserschaft unter der Verpackung
eines zumutbaren Kulturguts verabreicht.
Eine Wahrhaftigkeit des
Narrativs, des Schreibens wird angestrebt, der man mit Begriffen wie "geschichtliche Wahrheit" kaum beizukommen vermag, wiewohl sie diese gerade
als dokumentierte Fiktion aus unwahrscheinlichen Perspektiven erstaunlich
wirkungsvoll beleuchtet. Eine derartige, sprachlich vielfach ausgearbeitete
Beschwörung längst verklungener Schreie sei selbstredend nicht die "wahre"
Geschichte, doch sie sei alles, was von dieser übrig bleibe.
Umformuliert: Schreiben,
aber nicht nur so drauf hin.
Mittlerweile ist der
Kaffee kalt geworden. Und an das tatsächliche Erfolgsrezept kommen die Leser
wieder einmal doch nicht ran. Der Abend wirkt irgendwie angenehm, wenn schon
kaum sensationell oder besonders erbaulich. Gefälligkeiten werden
ausgetauscht, wie es sich eben zu solchen Veranstaltungen gehört. Auf die
rechten Töne kommt es an, und darauf, recht viele davon zu überzeugen, dass
es auch wirklich die rechten Töne seien.
Erfolgsautor mit Publikum:
Der Mann, den der französische Schriftsteller Michel Butel als besten Autor
seiner Generation ausweist, hat eine einnehmende Stimme und gibt sich
unbezwungen aufgeschlossen, wenn es um die schlichte und dabei möglichst
ansprechende Erläuterung des Amts der Schriftstellerei geht. Verkaufen?
Verkaufen? Verkaufen? "Natürlich mögen wir Geld“, so Yann Martel.
"Doch eins kann ich Ihnen
beteuern: Keiner von uns Autoren schreibt für Geld. Ginge es uns allein ums
Geld, so würden wir etwas anderes tun."
Das literarische Werk?
"Ein Geschenk. Ein Geschenk an die Leserschaft." Damit darf, damit muss dann
jeder einzelne "Beschenkte" (im Falle von Beatrice & Virgil etwa mit
Ermäßigung CND 14,97) etwas anfangen, damit der Erwerb des Buches auch
wirklich eine sinnvolle Bereicherung wird. Als einer, der immerfort zwischen
Wahrhaben und Fürwahrhalten nach den Dingen Ausschau hält, weiß das
kanadische Wunderkind Yann Martel um die Vielfalt in der Wirkung seiner
Worte, der weit ausholenden Kleinarbeit jahrelanger Forschung und Reflexion.
Sein – bei allem Irrsinn der angegangenen, dunkelsten historischen
Ereignisse – selbst auferlegtes, unbeirrtes Projekt, sein verheißungsvolles
Unterfangen, seine kontinuierliche Anmaßung: die bestmögliche Geschichte.
Ein Pendant zu Friedrich
Dürenmatt?
Irgendwas zieht uns
"hinan". (Danke, Alter Meister.) Jeder Gedankenzug zerrt an der
einschläfernden Banalität des Alltags. Jeder Blitzschlag ist so scharf wie
ein scharfes "ß". Jeder Donner ist ein Ur-Ton (total orphisch, klar!), jedes
Wort hundert Prozent Herzkraft.
Nothing else will do. Ein
Projekt kommt zustande, ein Schreibprojekt. Irgendwie, irgendwo, irgendwann.
Nena.
Tatsache: Liebe wird aus
Mut gemacht. Und dass Eros im Wort liegt, das ... ja das ... also dass Eros
im Wort liegt, das ist schon was.
Keine Angst vor dem
Gewitter. Keine Angst davor, drangsaliert zu werden. Kein Stottern. Keine
Schreibblockade. Keine Inspirationskrise. Weder Skrupel noch Zweifel. Gut
und Geld? Total da! Plus die Herrlichkeit der Welt. Den dreisten Blick weit
über die Chefetage hinweg – Richtung Unendlichkeit.
Mais oui! "Dann über
Büchern und Papier, trübsel'ger Freund, erscheinst du mir." Ein Geist in
höheren Gefilden. Ein sehr freundlicher Geist, ein sehr anständiger, ein
sehr lustiger und kreativer Geist. Nennen wir ihn Ghosty. Oder – with an
Alpine touch: Gustily.
Der weiß, wie man's
anpackt. Der kramt nicht unnütz im Satzbau herum. In seinen wohlgespitzten
Klauen steckt das rechte Wort am rechten Ort, in seinen wachsamen Augen
steckt der perfekte Entwurf jener höheren Digital-Weltanschauung, die wir
ahnen, und in seinem souverän agilen Umgang mit der Thermik steckt ein ganz
gewaltiges Quäntchen Wissenschaft und Samen – um schon wieder mal den
Dichter, jawohl, jenen Dichter, mehrfach in den Schreibprozess mit einzubeziehen.
Zuviel des Guten? Mag
sein, aber nur zum Spaß. Und als Ansporn. Denn ohne Dichter-Worte würden
wir, Hand aufs Herz, ziemlich erbärmlich abschneiden. Außerdem hat der
Dichter gesagt, man darf. Man dürfe. Man könne und solle.
Creative-Writing-Zeitgeist
wird das drüben, hinter den Wolken, genannt. Keine Schablonen-Falle. Keine
Geplapper-Qualle. Keine platten Ja-ja-ja-nu-san-ma-da-Papperlapapp-Reden.
Kein andauernd gähnendes Publikum. Kein verstimmter Kunde.
Gott erhalte uns das
Schöne!
Unser genialer Adler weiß
um die Großartigkeit der Perspektive, um das Erhabene im Wind, um das
Verborgene, das Geborgene in Wort und Schrift. Er wird uns etwas erzählen.
Er holt sich die beste Geschichte aus den (nicht nur) elektrisch geladenen
Wolken, Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, zieht ihr einen
schmucken Regenbogen an, haucht ihr ein bisschen Lebendigkeit ein und wirft
sie tunlichst runter. Wir heben sie auf und basteln ein kreativ gemeintes
Narrativ daraus, ein neues europäisches Narrativ. Es ist aber nicht aus der
Luft gegriffen.
Düsenflieger rütteln an
den Wolken. Machen ihre Kritzkratz-Runden am Horizont. Fliegen weiter.
"Lasst mir Luft, dass ich reden kann!", herrscht sie der Meister der
deutschen Dichtung noch an, ehe sie verschwinden. Er braucht nämlich frische
Luft zum Atmen. Wir brauchen alle frische Luft zum Atmen. Und wenn uns sogar
etwas einfällt, dann umso besser. Dann ist heute mal auch die Inspiration
gut drauf.
Entweder Manhattan oder
man hat'n nicht, den blitzartigen Einfall, von dem schon ein gewisser
Häuptling Longinus vor geraumer Zeit öfters zu sprechen pflegte, wenn der
Himmel out West – über den Lagerfeuern unserer schönen, ausgedehnten Prärien
– schon wieder mal sozusagen nicht hundertprozentig heiter war. Ganz davon
zu schweigen, dass es bei Wicki (ja, Wicki as in Wicki und die starken
Männer) immer wieder "Ich hab's!" hieß. Dieses Moment (nicht diesen Moment)
der Gedankendämmerung wollen wir bis auf Weiteres geistig festhalten, denn
daraus wird noch was. Freilich: Der eine hat's, der andere hat's nicht. Das
ist nun mal so.
Ella, elle l'a!, wusste
dabei schon France Gall vollkommen richtig auf den Punkt zu bringen, was wir
hier möglichst einleuchtend und allgemein-verbindlich umschreiben wollen.
Klar. Parce que si tu l'as, tu l'as. Nicht einmal Kant und Schiller hätten
das besser ausdrücken können, als sie sich aus doppelter Perspektive
unheimlich philosophisch an das Schöne und an das Erhabene heran schlichen,
um uns genauestens mitzuteilen, was das denn eigentlich sei und wie man
damit wohl am besten umgehen möge.
Ach ja! ... und digital
soll's irgendwie auch werden. Natürlich digital! Wie sonst? If it ain't
digital, it ain't nothing. Okay, das ist jetzt, zugegeben, kein
Schulenglisch, und wir wollen im Moment auch gar nicht mehr damit weiter
machen, nur: Good writing muss eben nicht unbedingt immer zugleich gutes
Schulenglisch sein. There is more to it, wie der Medizinmann einst sagte.
Das war am Lagerfeuer.
Ja, von den Dingen
rundherum Notiz nehmen; alles wahrnehmen, alles ernst nehmen, aber nichts
allzu ernst – dann den passenden Augenblick im Nu geschickt einfangen und
mit der Schreibkraft des Herzens, der Nerven, der Sehnen aufs Papier retten:
darauf kommt es an.
Nun wollen wir wieder
schreiben. |