Der am 26. November 1909 in
Slatina geborene, ab 1938 in Paris lebende, Eugène Ionesco war einer meiner
Jugendhelden. Und obwohl mir weder sein Werk noch sein Werdegang besonders
vertraut sind und obwohl ich schon lange keine Helden mehr habe, fühle ich
auch heute noch eine besondere Sympathie für diesen Mann. Das hat
einerseits, so stelle ich mir vor, mit einer Aufführung von
'La cantatrice chauve' in einem Berner
Kellertheater (das ist jetzt mehr als dreißig Jahre
her), bei der ich Tränen gelacht habe, zu tun und andererseits
mit seinen Tagebüchern ('Journal en miettes'/'Présent
Passé Passé Présent'), die ich gelegentlich zur Hand
nehme, wobei ich immer wieder erstaunt bin, wie gut mir das, was ich damals
unterstrichen habe, immer noch gefällt, wie stark ich
mich noch immer damit identifizieren kann. Beispiele aus 'Présent
Passé Passé Présent', 1968:
"Alles,
was Autorität ist, schien mir ungerecht und ist es auch … Ich weiß,
dass jede Rechtsprechung ungerecht ist und jede Autorität willkürlich,
selbst dann, wenn diese Willkür durch einen Glauben oder aber durch eine
leicht zu entlarvende Ideologie gestützt ist. Die neuen Autoritäten sind
ebenso ungerecht, ebenso unannehmbar wie die alten, denn sie werden
durch Menschen verkörpert, das heißt durch
persönliche und subjektive Leidenschaften, deren theoretische
Objektivität mich nicht täuscht. Die offizielle Stellung, die Orden, die
Ehren, das Verdienst maskieren nur Schandtaten und abgrundtiefe
Dummheit."
"Was
ich unannehmbar finde, sind die Bedingungen unserer Existenz. Auf der
Erde zu sein, ist nicht annehmbar. Nicht verstehen zu können, ist
unannehmbar, und wir können nicht verstehen, da die Endgültigkeit in
unserem Wesen liegt."
Zugegeben, die beiden
Zitate sind aus dem Zusammenhang gerissen. Doch Zusammenhänge, die ja schließlich
nichts anderes als recht beliebige Konstrukte sind, interessieren mich nicht
eigentlich. Und je länger, je weniger. Lese ich einen Text, so beschäftigt
mich die Geschichte drumherum (wie das zeitlich und thematisch einzuordnen
ist etc., also das, womit an Universitäten Lehrende es schaffen, Geld zu
verdienen) wenig, wichtig ist mir vielmehr, ob die Lektüre mich unterhält,
meinen Horizont erweitert, mich etwas entdecken lässt, mich etwas lehrt, mir
zeigt, dass andere ganz ähnlich denken und empfinden wie ich selber auch.
Dazu genügen oft kurze Passagen, Bruchstücke, einzelne Sätze – Shakespeares
"The readiness is all", zum Beispiel, begleitet mich
schon seit Jahren.
Je subjektiver sich jemand
ausdrückt, desto größer die Chance, dass wir uns (da
wir viel weniger einzigartig sind als wir gemeinhin annehmen) damit
identifizieren können. Hier ein Beispiel aus Ionescos Jugend:
"Ich
finde alte Tagebuchseiten, sie stammen aus … reden wir nicht davon. Sie
sind so alt, dass mir schwindlig wird. Ich hatte eigentlich noch so gut
wie nichts veröffentlicht, noch kein Theaterstück geschrieben, höchstens
Dialogfetzen. Ich hatte dieselben Probleme, ich habe immer dieselben
Probleme gehabt. Ich bin heute wie damals und wie von jeher unfähig,
eine Antwort zu geben. Ich habe nichts gelöst; ich bin immer noch beim
Fragen. Im Fragezustand bin ich, wenn das Bewusstsein wach ist. Sonst
ist es das Vergessen, der Schlummer der Intelligenz. Hier also sind
diese Seiten:
Es kommt vor, dass ich
ab und zu aufwache, bewusst werde, merke, dass ich von Dingen und Leuten
umgeben bin, und wenn ich sehr aufmerksam den Himmel oder auch die Wand
oder auch den Boden oder auch diese Hand betrachte, die schreibt oder
nicht schreibt, da kommt es vor, dass ich den Eindruck habe, ich sähe
all das zum ersten Mal. Dann frage ich mich oder frage, als sei es das
erste Mal: 'Was ist das?'
Ich sehe mich um und frage: 'Was sind all diese
Dinge? Wo bin ich? Wer bin ich? Was ist diese Frage?'
In solchem Moment überflutet ein plötzliches Licht, ein starkes,
blendendes Licht alles, lässt die Schatten unserer Sorgen, alle Schatten
überhaupt verschwinden, das heißt alle Mauern,
die bewirken, dass wir uns Grenzen, Unterscheidungen, Trennungen,
Bedeutungen vorstellen und ausdenken. Es gelingt mir dann nicht einmal
mehr, mir zum Beispiel die Frage zu stellen: Was ist die Gesellschaft?
Oder auch irgendeine andere Frage, weil ich nicht über die erste,
fundamentale Frage hinwegkomme, über das blendende, glühende Licht, das
aus der Frage geboren ist, ein so starkes Licht, dass es alles umfasst,
verbrennt, dass es, möchte man sagen, alle Dinge auflöst. Nur eine
irrsinnige Liebe, ohne Objekt, kann dem blendenden Licht der Frage
standhalten, und diese irrsinnige Liebe verwandelt sich, wächst, wird zu
einer grundlosen Euphorie und scheint das Weltall in Flammen zu
setzen." (Journal en miettes 1967).
Genau diese fundamentalen
Fragen (mit der Erfahrung von grundloser Euphorie, doch ohne das Erlebnis
dieses brennenden, glühenden Lichts) haben mich letzthin
auf langen
und meist ereignislosen Busreisen durch den Nordosten Brasiliens intensiv
beschäftigt (auch, weil das Licht in den Hotels zum Lesen, das mir nicht
zuletzt Halt gibt, nicht geeignet war, ich mich also nicht von dem, was
einfach nur ist, ablenken konnte): Wer sich darauf einlässt,
"alle Mauern, die bewirken, dass wir uns Grenzen, Unterscheidungen,
Trennungen, Bedeutungen vorstellen und ausdenken"
für einmal wegzulassen, macht in der Tat Erfahrungen, die einen Fragen wie
"Was ist die Gesellschaft?" vollkommen absurd
vorkommen lassen. Oder eben ganz einfach: "Es ist
sehr einfach. Die Welt muss von denen regiert werden, die es interessiert,
sie zu regieren. Wer verdient es, die Welt zu regieren? Diejenigen, die es
interessiert, diejenigen, die sich damit beschäftigen wollen. Mich
interessiert es nicht." (Présent Passé Passé
Présent’, 1968).
Seit Jahren beschäftigt
mich, wie die Medien unser aller Wirklichkeit im Namen derer, die das Sagen
haben, herstellen. Nicht bewusst war mir dabei
lange Zeit,
dass all das, was ich dabei erkannte, ich schon vor
vielen, vielen Jahren gedacht habe und dass seither kaum eine wesentlich
neue Erkenntnis hinzugekommen ist. Wie Ionesco habe ich
mein Leben lang dieselben Probleme
(und auch immer dieselben Fragen und dieselben Erkenntnisse) gehabt:
"Wie
könnte unwahr sein, was in den Zeitungen steht? Es ist fürchterlich zu
wissen, dass alles von einer kleinen herrschenden Gruppe bestimmt wird,
dass alles, was in den Zeitungen steht, bewusst gelenkt, dann unbewusst
von anderen übernommen wird, und dass der Masse das Gift als Nahrung
dargeboten wird" ('Présent Passé Passé Présent',
1968).
Kurz vor seinem Tod gab
Ionesco dem deutschen Fernsehen ein Interview: Das Leiden sei ihm ins
Gesicht geschrieben, sagte der Moderator der Sendung (der sich offenbar für
außergewöhnlich einfühlsam hielt) einmal. Ob er nie
an Selbstmord gedacht habe? Ionesco blickte direkt in die Kamera und
erwiderte, was er jetzt sage, sei natürlich "strictement
entre nous", doch er sei sicher (er schaute gen Himmel), dass solches
"ne l‘aurait pas plu au Seigneur." |