"Komm!",
sagte Adina. "Rutsch’n ma runter."
Wir waren vormittags mit der Sesselbahn von Predeal bis
zur Cabana Clabucet Plecare (Clabucet Abfahrt) gefahren und hatten
alsdann einen gemächlichen Winterspaziergang bis zur ein bisschen niedriger
gelegenen Cabana Susai gemacht, wo wir auf einem von uns
gleichsam an bedeutender Stelle höchstpersönlich eingerichteten Tannengeäst in
aller Ruhe den Five O’Clock Tea genossen. Sehr majestätisch.
There was something in the air. There was something on
our mind. Glued with packed snow into the discrete fabric of deep destiny.
It was… us. A poetic discharge of sorts.
Die Sonne schien. Das Geäst glänzte. Der
Five O’Clock Tea
tänzelte dem späten Nachmittag des Berges entgegen. Wir teilten das Glück
und den Sonnenschein und den Zauber der Liebe und unsere schönsten
Erinnerungen und unsere gemeinsamen Zukunftspläne in synchronisch pochenden
Herzen. Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen. Darin? Unsere Sinne zum
Quadrat ever after. Wir wussten nichts und ahnten alles. Man schrieb
den 26. Dezember 1987.
EIN PRÄCHTIGER TAG IN DEN KARPATEN
Den Tee hatte ich in meinem
ureigenen Kocher zubereitet. In meinem Minikocher. Mit
Trocken-Brennstofftabletten. Adina meinte, er sei gut gewesen. Sie hatte
recht.
Indeed, ich war ein großer Tee-Experte. Bin’s immer noch.
Und Tee kochen, das kann unter Umständen ausgesprochen romantisch –
ja sogar das Romantischste überhaupt – sein.
Lebenslust: unter uns Predeal, die höchstgelegene
Stadt des Landes, auf der anderen Seite Postavarul (Der Schullerberg).
Wir lagen mittendrin im Reiche der Einbildungskraft und dichteten eine
atemberaubende Laufbahn zurecht, der wir uns, den Plastiksack in der
Seitentasche, das tiefere Wesen der Transhumanz in Reichweite, die
wundersame Eleganz all der Schneeflocken ringsherum im kolossalen Rahmen
einer Berggeschichte, den das Narrativ unseres baldigen Rutsches sprengen
sollte, vorbehaltlos hingeben konnten. Drüben Siebenbürgen, hier die
Walachei – und in orbe ultima wir zwei.
Predeal ist übrigens auch einer der schönsten Orte dieser
Welt. Ringsherum Berge: Bucegi, Postavarul, Piatra Mare. Die frischeste Luft
in rumänischen Landen. Von Clabucet Plecare kann man die anschauliche
Kleinstadt gut sehen. Und – last but not least – damals gab’s hier zum
göttlichen Entzücken die leckerste Crèmeschnitte weit und breit.
SUSAI-TEE
VOR PREDEAL-CRÈMESCHNITTE?
PASST.
Klick! Adinas Zenit hatte
gesprochen. Ein Schnappschuss am event horizon. Da war was. Zwei Braunbären,
die ihren Tee auf dem Tannengeäst genossen. Zwei schmachtende Schneeflocken
im Wind. Schneebälle auf Kollisionskurs. Der Anflug einer Lawine auf der
Rutschbahn des Seins.
Wir ließen den Augenblick sacken. Er war, dies spüre ich
nun, da sich unser spielhaftes Sack-am-Berg-Abenteuer vor meinen Augen
unwillkürlich wie aus sich selbst heraus in Textform verewigt, aus
sämtlichen Poren, tonnenweise mit sinnstiftend sprudelnden Emotionen
gefüllt, die bis auf den heutigen Tag voll und ganz Bestand haben und nach
wie vor unsere köstlich anmutenden Super-String-Energien modellieren, aus
denen, dies ist ein Stilles Gesetz am Berg, Wirklichkeit und Wahrheit und
Liebe und Dichtung und Deutung immer wieder irgendwie ungestüm und irgendwie
doch recht stetig Gestalt gewinnen.
Ja, wir erahnten etwas Kolossales. Mehr noch, wir hatten
es vor. Der schöne Augenblick ballte sich für uns zu einer stimmigen
Karpaten-Rhapsodie ungehemmter Annäherung, zu einer stillen
Akkumulationszone zärtlicher Empfindungen im puren
Kristallisationspunkt des Seins. Es sprühten Funken. Auf Schritt und
Tritt geballte Zeit. Die einzig denkbare.
Die Sonne hielt inne, um den Zweiten Weihnachtstag nicht
zu schnell vergehen zu lassen. Bald sollten sich Mond und Sterne am Himmel
der Karpaten tummeln. Die Schipiste war ziemlich eisig. Deswegen ließen sich
nun ja auch keine Schifahrer blicken. Doch wer die schönen Rutschkünste am
Berg beherrscht, braucht keine Angst zu haben. Ganz im Gegenteil. Und
wackere Helden kriegen Crèmeschnitte.
Und dann winkte uns der liebe Berg zum Abschied. Unser
Plastik-Sack stand bereit. Los ging’s! Wir rutschten runter. Es war ein
guter Rutsch.
ZIMMER 24
Adina wartete auf mich.
"Hast du die Zeitungen gekauft?" Der in rumänischen Landen berüchtigte
Personenzug 3001 sollte in einer halben Stunde abfahren. Richtung Predeal.
Richtung Karpaten. Aber dieses Mal wollten wir schon in Sinaia, also drei
Haltestellen vor Predeal, aussteigen.
Ich hatte alle Zeitungen gekauft. Im Zug las Adina
nämlich gerne die Tagespresse. Und als die Lektüre dann (mitsamt Kommentar
und obligaten weiterführenden Gesprächen) schließlich brav abgeschlossen
war, ertönte ein besonders schriller Pfiff. Der Zug hielt.
"Sinaia!", schrie der Zugbegleiter. "Die Perle der
Karpaten. Und jetzt ein bisschen zügig, bitte! Und vergesst nicht, gut auf
den Geldbeutel in der Hosentasche aufzupassen."
SINAIA: DIE PERLE
DER KARPATEN
Unser Ziel? Schloss Peleş.
Genauer gesagt, Schloss Pelişor.
Sozusagen Kleinpeleş.
Einen Bogenschuss (hangaufwärts) von Peleş entfernt. Und das Schloss Peleş
liegt etwa 1.5 km nordwestlich vom Stadtzentrum. Es wurde vor 150 Jahren für
den allerersten König des modernen Rumänien, Karl I, gebaut. Pelişor
wurde für dessen Nachfolger, Ferdinand I., und seine sanfte Frau Gemahlin,
Königin Marie, errichtet, die übrigens eine recht künstlerische Seele war.
Zimmer 24 wartete auf uns. Nicht im eigentlichen Schloss,
sondern in einem Nebengebäude. Da hausten früher die Stallmeister.
Wir schulterten unsere Schier und stiegen die lange
Treppe vom Bahnhof zur Hauptstraße empor. Per Gesetz musste man oben einen
Abstecher in einem Café machen. Lecker! Dann ging’s am Nonnenkloster vorbei.
Aber nicht ohne ein paar stimmungsvolle Ansichtskarten und Memorabilia zu
kaufen, versteht sich. Wir waren guter Dinge.
Eine stattlich aussehende Kutsche fuhr recht gemächlich
die anschauliche Straße Richtung Schloss entlang. Ja, eine geradezu
kaiserlich aussehende Kutsche. Wiewohl sie nicht für uns bestimmt war,
verlieh diese Kutsche dem frühen Nachmittag etwas Märchenhaftes. Über uns
die Gipfel des Bugeci-Gebirges, ringsherum frischer Schnee, in uns viele
ureigene Bilder einer selbst erfundenen Realität. Wer weiß, vielleicht waren
wir ja in Wirklichkeit zwei Adlige aus dem Land ob der Enns. Dem Gefühl nach
wäre diese Deutung des unserer Peleş-Geschichte zugrundeliegenden Narrativs
jedenfalls durchaus nachvollziehbar gewesen.
"Hü-hott!" Der Fiaker hatte eine raue Stimme.
Bald verschwand die schicke
Kutsche (von hinten sah sie wie ein Kürbis aus) in der Irrealität des
Faktischen. Unsere Geschichte hingegen, unsere hautnahe Verselbstigung
einer gemeinsamen Spielvision zweier so wunderlich ineinander
geflochtener Schicksale, unsere eben auch angesichts des Ambiente irgendwie
sehr fürstlich geratene Verkettung von Strings nahm ihren Gang. Pure
Realität. Ein Superstring.
Wir latschten feuertrunken in die nahe Zukunft.
Camera 24 war einfach und praktisch eingerichtet.
Morgens bereitete ich Eierspeise zu, abends ging’s in die Stadt. Über den
Fluss Prahova hinweg, der dem Tal seinen Namen gab. Die Schloss-Straße war
unbeleuchtet. Im besten Restaurant der Stadt, Cumpatul, wurde das beste
Kotelett der Stadt serviert. Mit Pommes frites. Wir lebten zweifelsohne in
der bestmöglichen aller Welten. Und wir empfanden ein solch großes Glück,
dass uns die Götter am Berg beneideten.
Cumpatul, das ist übrigens ein sehr schönes Wort mit
einer entsprechend schönen und sehr interessanten Wortfamilie. Es bedeutet
Fassung – wie in: die Fassung wahren.
Hausgemachte Schokolade nach meinem geheimen Rezept
durfte da natürlich auf keinen Fall fehlen, denn wir waren blutjung und
ungestüm, ja wir waren erregt und begeistert und aktiv und verbrauchten
Unmengen an Kilokalorien.
Und ein edler Tropfen? Finis coronat opus.
Peleş,
ade! Am Vormittag der Abreise fuhr ich mit beiden Paaren Schiern (Adinas
Schier hatte ich geschultert, da ihr die Straße doch ein klein bisschen zu
eisig war) Richtung Sinaia. Der erste Abschnitt dieser Strecke ist nämlich
steil genug zum Schifoan. Eine gerade vor dem Bus stehende chinesische
Reisegruppe, an der ich knapp vorbei musste, klatschte mir Beifall:
"Ni-hau! Gutes Schifoan! Bravissimo! Best Schifoan ever!
Zwei Karpaten-Oberösterreicher! Zwei Edelleute. Oder halt! Eine Prinzessin
und ihr Ritter. Den ganzen lieben Tag nichts als hohe Minne! Aber, aber bei
–"
Klick! Adinas Zenit fing den Augenblick ein. |