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Eine duale Perspektive der Karpatenseele

Sack am Berg / Zimmer 24

Münzen weisen jeweils zwei Seiten auf, Teilchen bestehen nur in Zusammenhang
mit einer entsprechenden elektromagnetischen Welle, und eine deftige Karpatensuppe ist
ohne die dazugehörige Karpatenseele nicht zu denken. You can take the girl out of the Carpathian
Mountains, but you cannot take the Carpathian Mountains out of the girl. Dies ist die
Geschichte einer großen Liebe am Berg. Ein Kristallisationspunkt des Seins.
A poetic discharge. Dessen bin ich mir sicher. Ich war an Ort und Stelle.

Von Vasile V. Poenaru
(18. 06. 2022)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

   "Komm!", sagte Adina. "Rutsch’n ma runter."

Wir waren vormittags mit der Sesselbahn von Predeal bis zur Cabana Clabucet Plecare (Clabucet Abfahrt) gefahren und hatten alsdann einen gemächlichen Winterspaziergang bis zur ein bisschen niedriger gelegenen Cabana Susai gemacht, wo wir auf einem von uns gleichsam an bedeutender Stelle höchstpersönlich eingerichteten Tannengeäst in aller Ruhe den Five O’Clock Tea genossen. Sehr majestätisch.

There was something in the air. There was something on our mind. Glued with packed snow into the discrete fabric of deep destiny. It was… us. A poetic discharge of sorts.

Die Sonne schien. Das Geäst glänzte. Der Five OClock Tea tänzelte dem späten Nachmittag des Berges entgegen. Wir teilten das Glück und den Sonnenschein und den Zauber der Liebe und unsere schönsten Erinnerungen und unsere gemeinsamen Zukunftspläne in synchronisch pochenden Herzen. Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen. Darin? Unsere Sinne zum Quadrat ever after. Wir wussten nichts und ahnten alles. Man schrieb den 26. Dezember 1987.

EIN PRÄCHTIGER TAG IN DEN KARPATEN

   Den Tee hatte ich in meinem ureigenen Kocher zubereitet. In meinem Minikocher. Mit Trocken-Brennstofftabletten. Adina meinte, er sei gut gewesen. Sie hatte recht.

Indeed, ich war ein großer Tee-Experte. Bin’s immer noch. Und Tee kochen, das kann unter Umständen ausgesprochen romantisch – ja sogar das Romantischste überhaupt – sein.

Lebenslust: unter uns Predeal, die höchstgelegene Stadt des Landes, auf der anderen Seite Postavarul (Der Schullerberg). Wir lagen mittendrin im Reiche der Einbildungskraft und dichteten eine atemberaubende Laufbahn zurecht, der wir uns, den Plastiksack in der Seitentasche, das tiefere Wesen der Transhumanz in Reichweite, die wundersame Eleganz all der Schneeflocken ringsherum im kolossalen Rahmen einer Berggeschichte, den das Narrativ unseres baldigen Rutsches sprengen sollte, vorbehaltlos hingeben konnten. Drüben Siebenbürgen, hier die Walachei – und in orbe ultima wir zwei.

Predeal ist übrigens auch einer der schönsten Orte dieser Welt. Ringsherum Berge: Bucegi, Postavarul, Piatra Mare. Die frischeste Luft in rumänischen Landen. Von Clabucet Plecare kann man die anschauliche Kleinstadt gut sehen. Und – last but not least – damals gab’s hier zum göttlichen Entzücken die leckerste Crèmeschnitte weit und breit.

SUSAI-TEE VOR PREDEAL-CRÈMESCHNITTE? PASST.

   Klick! Adinas Zenit hatte gesprochen. Ein Schnappschuss am event horizon. Da war was. Zwei Braunbären, die ihren Tee auf dem Tannengeäst genossen. Zwei schmachtende Schneeflocken im Wind. Schneebälle auf Kollisionskurs. Der Anflug einer Lawine auf der Rutschbahn des Seins.

Wir ließen den Augenblick sacken. Er war, dies spüre ich nun, da sich unser spielhaftes Sack-am-Berg-Abenteuer vor meinen Augen unwillkürlich wie aus sich selbst heraus in Textform verewigt, aus sämtlichen Poren, tonnenweise mit sinnstiftend sprudelnden Emotionen gefüllt, die bis auf den heutigen Tag voll und ganz Bestand haben und nach wie vor unsere köstlich anmutenden Super-String-Energien modellieren, aus denen, dies ist ein Stilles Gesetz am Berg, Wirklichkeit und Wahrheit und Liebe und Dichtung und Deutung immer wieder irgendwie ungestüm und irgendwie doch recht stetig Gestalt gewinnen.

Ja, wir erahnten etwas Kolossales. Mehr noch, wir hatten es vor. Der schöne Augenblick ballte sich für uns zu einer stimmigen Karpaten-Rhapsodie ungehemmter Annäherung, zu einer stillen Akkumulationszone zärtlicher Empfindungen im puren Kristallisationspunkt des Seins. Es sprühten Funken. Auf Schritt und Tritt geballte Zeit. Die einzig denkbare.

Die Sonne hielt inne, um den Zweiten Weihnachtstag nicht zu schnell vergehen zu lassen. Bald sollten sich Mond und Sterne am Himmel der Karpaten tummeln. Die Schipiste war ziemlich eisig. Deswegen ließen sich nun ja auch keine Schifahrer blicken. Doch wer die schönen Rutschkünste am Berg beherrscht, braucht keine Angst zu haben. Ganz im Gegenteil. Und wackere Helden kriegen Crèmeschnitte.

Und dann winkte uns der liebe Berg zum Abschied. Unser Plastik-Sack stand bereit. Los ging’s! Wir rutschten runter. Es war ein guter Rutsch.

ZIMMER 24

   Adina wartete auf mich. "Hast du die Zeitungen gekauft?" Der in rumänischen Landen berüchtigte Personenzug 3001 sollte in einer halben Stunde abfahren. Richtung Predeal. Richtung Karpaten. Aber dieses Mal wollten wir schon in Sinaia, also drei Haltestellen vor Predeal, aussteigen.

Ich hatte alle Zeitungen gekauft. Im Zug las Adina nämlich gerne die Tagespresse. Und als die Lektüre dann (mitsamt Kommentar und obligaten weiterführenden Gesprächen) schließlich brav abgeschlossen war, ertönte ein besonders schriller Pfiff. Der Zug hielt.

"Sinaia!", schrie der Zugbegleiter. "Die Perle der Karpaten. Und jetzt ein bisschen zügig, bitte! Und vergesst nicht, gut auf den Geldbeutel in der Hosentasche aufzupassen."

SINAIA: DIE PERLE DER KARPATEN

   Unser Ziel? Schloss Peleş. Genauer gesagt, Schloss Pelişor. Sozusagen Kleinpeleş. Einen Bogenschuss (hangaufwärts) von Peleş entfernt. Und das Schloss Peleş liegt etwa 1.5 km nordwestlich vom Stadtzentrum. Es wurde vor 150 Jahren für den allerersten König des modernen Rumänien, Karl I, gebaut. Pelişor wurde für dessen Nachfolger, Ferdinand I., und seine sanfte Frau Gemahlin, Königin Marie, errichtet, die übrigens eine recht künstlerische Seele war.

Zimmer 24 wartete auf uns. Nicht im eigentlichen Schloss, sondern in einem Nebengebäude. Da hausten früher die Stallmeister.

Wir schulterten unsere Schier und stiegen die lange Treppe vom Bahnhof zur Hauptstraße empor. Per Gesetz musste man oben einen Abstecher in einem Café machen. Lecker! Dann ging’s am Nonnenkloster vorbei. Aber nicht ohne ein paar stimmungsvolle Ansichtskarten und Memorabilia zu kaufen, versteht sich. Wir waren guter Dinge.

Eine stattlich aussehende Kutsche fuhr recht gemächlich die anschauliche Straße Richtung Schloss entlang. Ja, eine geradezu kaiserlich aussehende Kutsche. Wiewohl sie nicht für uns bestimmt war, verlieh diese Kutsche dem frühen Nachmittag etwas Märchenhaftes. Über uns die Gipfel des Bugeci-Gebirges, ringsherum frischer Schnee, in uns viele ureigene Bilder einer selbst erfundenen Realität. Wer weiß, vielleicht waren wir ja in Wirklichkeit zwei Adlige aus dem Land ob der Enns. Dem Gefühl nach wäre diese Deutung des unserer Peleş-Geschichte zugrundeliegenden Narrativs jedenfalls durchaus nachvollziehbar gewesen.

"Hü-hott!" Der Fiaker hatte eine raue Stimme.

   Bald verschwand die schicke Kutsche (von hinten sah sie wie ein Kürbis aus) in der Irrealität des Faktischen. Unsere Geschichte hingegen, unsere hautnahe Verselbstigung einer gemeinsamen Spielvision zweier so wunderlich ineinander geflochtener Schicksale, unsere eben auch angesichts des Ambiente irgendwie sehr fürstlich geratene Verkettung von Strings nahm ihren Gang. Pure Realität. Ein Superstring.

Wir latschten feuertrunken in die nahe Zukunft.

Camera 24 war einfach und praktisch eingerichtet. Morgens bereitete ich Eierspeise zu, abends ging’s in die Stadt. Über den Fluss Prahova hinweg, der dem Tal seinen Namen gab. Die Schloss-Straße war unbeleuchtet. Im besten Restaurant der Stadt, Cumpatul, wurde das beste Kotelett der Stadt serviert. Mit Pommes frites. Wir lebten zweifelsohne in der bestmöglichen aller Welten. Und wir empfanden ein solch großes Glück, dass uns die Götter am Berg beneideten.

Cumpatul, das ist übrigens ein sehr schönes Wort mit einer entsprechend schönen und sehr interessanten Wortfamilie. Es bedeutet Fassung – wie in: die Fassung wahren.

Hausgemachte Schokolade nach meinem geheimen Rezept durfte da natürlich auf keinen Fall fehlen, denn wir waren blutjung und ungestüm, ja wir waren erregt und begeistert und aktiv und verbrauchten Unmengen an Kilokalorien.

Und ein edler Tropfen? Finis coronat opus.

   Peleş, ade! Am Vormittag der Abreise fuhr ich mit beiden Paaren Schiern (Adinas Schier hatte ich geschultert, da ihr die Straße doch ein klein bisschen zu eisig war) Richtung Sinaia. Der erste Abschnitt dieser Strecke ist nämlich steil genug zum Schifoan. Eine gerade vor dem Bus stehende chinesische Reisegruppe, an der ich knapp vorbei musste, klatschte mir Beifall:

"Ni-hau! Gutes Schifoan! Bravissimo! Best Schifoan ever! Zwei Karpaten-Oberösterreicher! Zwei Edelleute. Oder halt! Eine Prinzessin und ihr Ritter. Den ganzen lieben Tag nichts als hohe Minne! Aber, aber bei –"

Klick! Adinas Zenit fing den Augenblick ein.

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