IW:
Welche Änderungen fanden im rumänischen Theater nach 1989 statt?
Modreanu:
Es war eine ähnliche Situation wie in
anderen Ländern, in denen es eine plötzliche politische Wende gab: Das
Theater machte eine akute Krise durch. Zwei bis drei Jahre nach der
Revolution im Dezember 1989 ließ die Verwirrung nach. Zu dem Zeitpunkt
kehrten rumänische Regisseure, die während des Ceauşescu-Regimes ins Ausland
emigriert waren, wieder nach Rumänien zurück. Sie erwiesen sich
für das rumänische Theater
als lebensnotwendige "Erneuerer von draußen". Zum Zeitpunkt der Revolution
befanden sich viele rumänische Regisseure und Schauspieler auf dem Höhepunkt
ihres Lebens und ihrer Karriere. Aus den Interviews, die ich über Jahre
hinweg mit diesen geführt hatte, stellte sich heraus, dass alle in der einen
oder anderen Weise diesen Bruch vorausgesehen hatten. Einige gaben danach
eine Zeit lang das Theaterleben auf und kehrten erst zurück, nachdem die
Verwirrung nachließ. Andere wandten dem Theater überhaupt den Rücken zu und
ergriffen die Gelegenheit, ihr Leben komplett zu ändern. Diejenigen, die
weitermachten, verstanden, dass auch eine persönliche Veränderung notwendig
war, um mit der im Wandel befindlichen rumänischen Welt Schritt halten zu
können. Das Wichtigste ist für mich die Änderung der Sprache. Mit dem Fall
des Kommunismus verschwand die Kommunikationsbasis zwischen den
Theaterleuten und ihrem treuen Publikum. Das Publikum war kultiviert und
geübt, zwischen den Zeilen zu lesen und die subtilsten Anspielungen zu
verstehen. Während des Kommunismus konzentrierte sich die Kreativität der
Künstler darauf, den Sinn eines klassischen Texts – ob von Shakespeare oder
Molière – zu benützen, um mit den Zuschauern über das im totalitären System
täglich Erlebte zu sprechen. Dieser verdeckte Nachrichtenaustausch war ein
gemeinsames Erlebnis, das die schon bei den antiken Griechen bekannte
Katharsis auslöste. Mit dem Verlust dieses Kommunikationskanals verlor das
Theater sein Publikum. Es sollten viele Jahre vergehen, bis eine neue
Verbindung zu den Zuschauern hergestellt werden konnte, diesmal mit dem
normalen Kulturkonsum als Ausgangsbasis, wie er in der freien Welt
praktiziert wird. Selbstverständlich gibt es auch noch Relikte wie das
staatliche Finanzierungssystem der Theater, das noch nicht reformiert wurde.
All diese Verzerrungen haben auch Änderungen der Theaterästhetik mit sich
gebracht, aber nicht so offensichtlich wie zum Beispiel in Polen, wo das
Theater viel lebendiger ist und sich viel schneller verändert. Das
rumänische Theater hat nicht sofort und auch nicht organisiert die Suche
nach seinem verlorenen Publikum begonnen. Es blieb – mit wenigen Ausnahmen –
weiterhin träge. Das Publikum ist erst nach Abklingen der Verwirrung wieder
zum Theater zurückgekehrt, sei es aus Nostalgie wie bei der reifen
Generation oder aus Neugier im Falle der Jungen. Diese "neue" Generation –
"neu" bedeutet hier, sie hatte keinen Kontakt zum ehemaligen System –
braucht jedoch ein anderes Theater, mit anderen Themen, anderen
Schauspielertypen und einer anderen Dynamik. Die Nachfrage führte
letztendlich zu einem neuen Angebot. Der Ausgleich zwischen Nachfrage und
Angebot ist noch nicht hergestellt, liegt aber nicht mehr in weiter Ferne.
IW:
Was ist das heutige Ziel des
rumänischen Theaters?
Modreanu:
Ich glaube, das Problem liegt darin, dass es kein Ziel gibt, und das führt
zu mangelnden Führungsstrategien. Selbstverständlich kann man nicht über ein
alleiniges Ziel sprechen, aber jedes Theater sollte ein Profil haben und,
abhängig davon, entsprechende Strategien entwickeln. In den Nationaltheatern
sollten zum Beispiel erzieherische Programme nicht fehlen, experimentelle
Zonen aber auch nicht. Die von den Städten finanzierten Theater sollten ihr
Repertoire nach ihrem Publikum richten, das sich von einem Bezirk zum
anderen unterscheidet. Auch sollte der Austausch mit Theatern aus anderen
Städten nicht vernachlässigt werden. Ein gemeinsames Ziel aller Theater
sollte die Öffnung nach Europa sein, zu dem Rumänien seit Kurzem wieder
gehört. Obwohl ich seit mehr als fünfzehn Jahren die rumänische Theaterszene
als Journalistin, Kritikerin und neuerlich als Promoterin verfolge, habe ich
den Eindruck, dass sich sehr wenige Theaterleute und -einrichtungen Ziele
gesetzt haben und diese auch zu erreichen versuchen.
IW:
Wer ist das Theaterpublikum in Rumänien?
Modreanu:
Wie ich schon sagte, das Publikum ist zweigeteilt. Es gibt Theorien, in
denen das Publikum nach Weltanschauungen eingeteilt wird. In einer
posttotalitären Gesellschaft liegen die Dinge aber komplizierter. Einerseits
gibt es die reife Generation, die nur eine Art von Theater erlebt hat: ein
Theater der Isolation, kreiert für eine Gesellschaft, die sehr wenig
Verbindung zur Außenwelt hatte. Es gibt aber auch ein neues, junges
Publikum, das in der Zeit des Internets aufgewachsen und ständig in Kontakt
mit der ganzen Welt ist. Man kann diese zwei Generationen nicht
gleichermaßen und auch nicht über gemeinsame Themen ansprechen. Der
Generationsbruch, der eigentlich in fast allen Familien zu finden ist,
verlängert sich bis in den Theatersaal hinein.
IW:
Wir wenden uns insbesondere an ein deutschsprachiges Leserpublikum.
Inwieweit ist das Interesse für Inszenierungen deutscher Autoren
vorhanden? Welche anderen Autoren werden gespielt?
Modreanu:
Die Gegenwartsdramaturgie war in Rumänien erst nach dem Jahr 2000
erfolgreich. Jahre vorher hat der dynamische rumänische Theaterkritiker
Victor Scoradet deutsche Theaterstücke der Gegenwart übersetzt und in
Lesungen vorgeführt. Regisseure der neuen Generation zeigten viel Interesse
daran, diese zu inszenieren. So hat das rumänische Publikum Autoren wie zum
Beispiel Luka Barfuss, Tankred Dorst, Franz Xaver Kroetz und Marius von
Mayenburg kennengelernt. Weiterhin wurden in Rumänien dank Carmen Vioreanu
skandinavische Autoren wie Jon Fosse aufgeführt, aber auch englische wie
Sarah Kane, Autoren aus Irland (Martin McDonagh), Ungarn (Zoltan Egressy),
Serbien (Dusan Kovacevic), Tschechien (Peter Zadek), Frankreich (Jean Luc
Lagarce) und Italien (Fausto Paravidino), je nachdem, wie diese von dem
einen oder anderen Regisseur entdeckt wurden.
IW:
Was können Sie uns über die rumänische Gegenwartsdramaturgie sagen?
Modreanu:
Die rumänische Dramaturgie erlebte ihren Aufschwung 2002, als
von einer Studentengruppe der Regieabteilung der Universität für Theater und
Film Bukarest
der dramAcum-Wettbewerb eingeführt wurde. Ziel dieser Gruppierung, die auch
heute noch aktiv ist, war es, neue Autoren ausfindig zu machen und
Partnerschaften mit Theatern zu bilden, um Aufführungen zu inszenieren.
Leider haben bisher nur wenige Theater Bereitschaft gezeigt, Ideen von
dramAcum zu unterstützen. Die dramAcum-Mitglieder sind auch als
Einzelkünstler erfolgreich. Die bekannteste Persönlichkeit unter ihnen ist
die Autorin und Regisseurin Gianina Cărbunariu, aber auch die anderen
Mitglieder (Andreea Vălean, Radu Apostol, Alex Berceanu) sind bedeutende
Künstler der rumänischen Theaterszene. Ihre Generation hat eine
tiefgreifende Änderung in der Auswahl des Repertoires bewirkt. Wo früher
fast nur Klassiker gespielt wurden, hat dramAcum jetzt das Interesse für die
weltweite Gegenwartsdramaturgie geweckt. Manche Kritiker werfen ihnen vor,
dass sie sprachliche Gewalt und Tabuthemen bevorzugen und damit nur die
üblichen Schemata der Gegenwartsdramaturgie kopieren statt spezifische
Stücke zu kreieren. Dieser Vorwurf ist jedoch den Nostalgikern
zuzuschreiben, die nicht mit der Zeit gehen wollen. In Wahrheit hat die
dramAcum-Generation die rumänische Theaterszene zur Welt hin geöffnet, eine
Neuausrichtung, die im Bereich des stummen Theaters noch nicht stattgefunden
hat.
IW:
Inwiefern unterscheidet sich das rumänische Gegenwartstheater von dem
westeuropäischen?
Modreanu:
Während der letzten Jahre habe ich an den großen Theaterfestivals in
Edinburgh und Avignon, aber auch an Showcases in Deutschland, Russland,
Irland, Italien, Spanien usw. teilgenommen und konnte die neuen Tendenzen
und neuen Namen in der Theaterwelt mitverfolgen. In Rumänien gibt es gute
Schauspieler, die jederzeit mit denen in Westeuropa mithalten können. Leider
schaut es in der Regieabteilung nicht so gut aus. Es gibt in Rumänien sehr
wenig Regisseure, die sich einem hochrangigen europäischen Wettbewerb
stellen könnten. Die Isolation, in der wir jahrelang gezwungen waren zu
leben und die auch heute nicht vollständig verschwunden ist, aber auch
fehlendes Wissen im Bereich des Marketings führen dazu, dass wir uns auch
heute noch im Schatten des europäischen Theaters befinden. Das rumänische
Theaterbildungssystem hat Schwächen und muss reformiert werden, sonst werden
wir auch auf unsere Schauspieler nicht mehr stolz sein können. Die größten
Probleme liegen aber bei der Bühnentechnik der Theaterhäuser. Das wird in
den meisten rumänischen Aufführungen sichtbar. Die Bühnenbildner haben ein
äußerst niedriges Ausbildungsniveau. Außerdem fehlen Spezialisten. Damit
meine ich die "Magier", die in Westeuropa die Produktionen gestalten. Man
muss zugeben, dass auch die Regisseure zuwenig nach Mitteln suchen, um ihre
Ideen umzusetzen. Wahrscheinlich ist dies unser größter Schwachpunkt: Der
Weg von der Idee zur praktischen Umsetzung ist voller Hindernisse und
dadurch kommt es nicht zur gewünschten Verwirklichung. Aber dieses Problem
herrscht in Rumänien nicht nur in der Kunst. Wir haben geniale Ideen, wissen
aber nicht, was wir damit anfangen sollen.
IW:
Gibt es internationale
Kooperationen?
Modreanu:
Ich fürchte, es gibt nur sehr wenige davon. Es gab ein paar hervorragende
Kontakte. Kooperationen zwischen Regisseuren, wie zum Beispiel Yuriy
Kordonskiy, Lev Dodins Schüler, derzeit tätig in New York oder Andryi
Zholdak, Mitarbeiter der Volksbühne Berlin, bekannter Künstler der
europäischen Theaterszene. Deren Zusammenarbeit mit rumänischen
Theatergruppen führte zu sehr erfolgreichen Aufführungen. Es blieb leider
bei diesen Einzelfällen. Ein konsequentes Programm, um europäische
Regisseure nach Rumänien einzuladen oder eine Zusammenarbeit mit rumänischen
Schauspielern, all das wurde nicht ausgearbeitet. Auch Koproduktionen mit
anderen Einrichtungen wurden nicht unterstützt. Einige rumänische Theater
sind Mitglieder des europäischen Theaternetzwerks. So sind zum Beispiel das
Bulandra Theater Bukarest und seit 2008 auch das Ungarische Staatstheater
Klausenburg Mitglieder der Europäischen Theaterunion. Das Nationaltheater
Craiova ist Mitglied der Europäischen Theaterkonvention.
IW:
Das UNATC, früher IATC, war die
einzige Hochschuleinrichtung im Bildungssystem der Theater- und
Filmbranche in Rumänien. Nach 1989 entstanden zahlreiche
Hochschuleinrichtungen, was zu einer erheblichen Zunahme der Absolventen
führte. Welche Chancen hat ein frischer Absolvent, sich als Künstler in
der rumänischen Theaterszene zu behaupten?
Modreanu:
Wenig Chancen, befürchte ich. Die größte
Anzahl der Absolventen arbeitet im Bereich der neuen elektronischen Medien,
der derzeit einen Aufschwung erlebt. Zum Theater schaffen es die wenigsten.
Die Personalstellen sind voll besetzt. Das veraltete System erlaubt keine
Aufnahmen von jungen Schauspielern. Die von den staatlichen Einrichtungen
bezahlten Gehälter sind so niedrig, dass die Jugend lieber in der
Privatwirtschaft arbeitet. Die vom Glück Begünstigten wenden sich dem Film
zu, arbeiten in Fernsehserien oder zumindest in der Werbung. Dem Rest bleibt
nur die Hoffnung. Die Situation ist widersprüchlich: Die alte
Schauspielergeneration lebt fast wie im Kommunismus, mit abgesicherten
Gehältern und den Vorteilen ihrer Berühmtheit, während die neue Generation
in einem kapitalistischen System aufwächst und wie in New York versucht,
sich eine Theaterkarriere zu schaffen! Dies ist nur eine der vielen
Kuriositäten der Übergangsperiode.
IW:
Wie ist die Situation der
Minderheitentheater in Rumänien und welche Position nehmen sie zur
Mehrheit der Bevölkerung ein?
Modreanu:
Das Theater der Minderheiten hat des Öfteren bemerkenswerte Leistungen
erbracht und ist bei den jährlichen Nominierungen für die Gala der Uniter
Preise (die Preise der Theaterbranche) zum Theater der "Mehrheit" in
Konkurrenz getreten. Derzeit hat das Ungarische Theater Klausenburg,
geleitet von Regisseur Tompa Gabor, eine der besten Theatergruppen. In
diesem Theater, wie auch in den anderen Theatern der ungarischen oder
deutschen Minderheiten sowie im Jüdischen Staatstheater Bukarest, werden die
Aufführungen mit Übersetzung für das rumänischsprachige Publikum gespielt,
so dass die Gefahr der Isolation in den jeweiligen Gemeinschaften nicht
gegeben ist.
IW:
Sie sind Autorin des Buchs "Die Masken des Alexander Hausvater". Warum
Alexander Hausvater?
Modreanu:
Weil ich das Theater zu lieben begann, nachdem ich die Aufführung "Und Sie
legten den Blumen Handschellen an" gesehen hatte. Hausvater inszenierte
dieses Stück kurz nach seiner Rückkehr nach Rumänien. Erst nach vielen
Jahren habe ich den Menschen Alexander Hausvater kennengelernt. Ich war von
seinem Einfluss auf das rumänische Theater nach 1990 beeindruckt. Das trifft
übrigens auch auf Andrei Serban zu, einem anderen berühmten Regisseur. Sie
waren die "Erneuerer von draußen", die ich am Anfang des Interviews
erwähnte. So habe ich beschlossen, nach meinem literarischen Debüt über die
rumänische Regie der neunziger Jahre mit dem Buch "Schach beim Regisseur"
("Sah la regizor") – erschienen 2003 beim Verlag Fundaţia Culturala Româna –
den "Fokus“ auf einen bestimmten Regisseur zu legen. So entstand in der
Kollektion Galeria teatrului românesc das Buch, das Sie erwähnten.
Herausgeber war die Zeitschrift Teatrul Azi, dessen Leiterin die
Theaterkritikerin Florica Ichim ist. Ich habe ein weiteres Buch, das
allgemeine Themen über das rumänische und das Welttheater behandelt, in
Vorbereitung (Casa dinăuntru bzw. Das Haus von innen, beim Verlag Cartea
Românească). Ich bin auch am Überlegen, einen "Fokus" auch auf andere
Theaterkünstler mit besonderem Profil zu legen.
IW:
Sie wurden vor Kurzem zur
alleinigen Intendantin des Nationalen Theaterfestivals gewählt. Was
bedeutet dieses Festival für die rumänische Theaterwelt?
Modreanu:
Das Nationale Theaterfestival entstand im Jahr 1990 und bot von Anfang an
ein Gesamtbild der besten rumänischen Theaterproduktionen, eine Art Auslage,
in der sich die Besten wiederfanden, selbstverständlich nach den von jedem
Intendanten angewandten Kriterien. Leider ist das FNT jahrelang nur das
gewesen. Es hat die Vision gefehlt. Die
Intendanten wurden jährlich oder alle zwei Jahre gewechselt. Mit dem ersten
dreijährigen Auftrag, der meiner Vorgängerin, der Theaterkritikerin Marina
Constantinescu, erteilt wurde, kam endlich die Veränderung. Sie war
diejenige, die das Festival in ein Internationales umwandelte und die
Gelegenheit ergriff, das rumänische Theater an das Welttheater
anzuschließen. Das FNT wurde somit das wichtigste Ereignis für die
rumänische Theaterbewegung. Ich habe mir vorgenommen – sofern mir das in den
drei Jahren meines Auftrages gelingen wird – diese Wandlung fortzusetzen und
durch das FNT das rumänische Theater ans Theater der Welt heranzuführen.
IW:
Frau Modreanu, vielen Dank für
das Interview!