
Univ.-Prof. Dr.
Rüdiger Lohlker
ruediger.lohlker [at]
univie.ac.at
geboren 1959, Studium
der Rechtswissenschaften,
Arabistik, Islamwissenschaft,
Neuiranistik, Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft,
Politikwissenschaft; Ausbildung
zum Systemanalytiker. Lehre
an den Universitäten Gießen,
Göttingen und Kiel, tätig an
der Niedersächsischen Staats-
und Universitätsbibliothek
Göttingen, der Bibliothèque
Générale Rabat (Marokko).
Forschungsschwerpunkte
Islam
in der Moderne,
Soziologie des islamischen
Wissens, Islam im Internet,
Islamisches Recht, Islamische
soziale Bewegungen (insbe-
sondere Jihadismus).
Ausgewählte neuere
Publikationen
Islam
und Gewalt (2007),
Das Prinzip der Taqiya im
Islam (2007), Islam in Europa
(2007), Astrologie, die
Lauteren Brüder, Männliches
und Weibliches (2007),
Islamisches Völkerrecht
(2006), Die neue gihad-Theo-
logie (2006), Islam im Internet
– neue Formen der Religion
im Cyberspace (2000
und 2001)
Institutshomepage
www.univie.ac.at/orientalistik
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Eine Vorbemerkung erscheint
notwendig: Wenn wir auf einer Tagung über "Scham und
Blick" über die im Titel angesprochenen Themen reden, bewegen wir uns
im Felde von öffentlichen Diskursen, die eher als eine soundscape
denn als eine visuelle Landschaft konstituiert werden. Audiokassetten, aber
auch Audiodateien, sind für die Konstitution von Bewusstsein, von ethischen
Codes u.a. in zeitgenössischen arabischen Gesellschaften weitaus bedeutsamer
als es in Europa wahrgenommen wird. Nichtsdestotrotz, visuelle Eindrücke
sind gleichfalls bedeutsam.
Wenn wir über das Internet, den Cyberspace nachdenken,
wird häufig in Kategorien wie dem inhärent demokratisierenden Charakter des
Cyberspace reflektiert (à la The Well). Die Video- und Textbytes, mit denen
wir im Folgenden konfrontiert werden, dementieren solche Vorstellungen in
erschreckender Weise, zeigen uns den Cyberspace als Sphäre der Propaganda
des Grauens. Zustimmen könnten wir angesichts dessen diesen Worten:
"Eine gleichermaßen starke wie anfechtbare Definition
des Cyberspace wäre: 'Alles, was vorstellbar ist,
kann realisiert werden.'" Die Anfechtbarkeit der Definition mag als Zeichen
für Hoffnung aufrecht erhalten werden.
Dieses globale Medium wird
– auch in dieser Form – lokal angeeignet. Diese lokale Aneignung ist im
transkulturellen Vergleich interessant. Gerade im Bereich transkultureller
Forschung kann das Internet als Instrument der Forschung dienen, das
Einblicke in die unterschiedliche Konstruktion von Wirklichkeit ermöglicht.
Ein Beispiel werden wir im Folgenden sehen. Zuerst gilt es allerdings, den
Konzepten Scham, Beschämung und Ehre nachzugehen.
Bei der Konstruktion der Beschämungsakte, mit denen wir
uns zu beschäftigen haben, ist die gender-Dimension von Bedeutung:
"Vorwiegend junge Männer fühlen
sich durch die Machtpolitik Israels und der USA gedemütigt und um ihre
Zukunft beraubt. Der Verlust von Land, Respekt vor dem Islam und vor ihrer
eigenen Männlichkeit werden oft vermengt." Diese Verwirrung der
Geschlechterrollen wird nun in spezifischer Form genutzt, um Scham zu
erzeugen:
"Das
Spiel mit den Geschlechterrollen wurde von westlichen Besatzungsmächten
in der Region immer wieder betrieben. So versucht man in den
amerikanischen Gefängnissen ... die Männer des
arabisch/islamischen Raumes durch 'gender decoys'
(geschlechtliche Lockvögel), die sowohl die ethnische wie die
geschlechtliche Identität verwirren, in den Griff zu bekommen.
Braunhäutige Männer dienen weißen Frauen, oder sie werden von ihnen
sexuell erniedrigt. Das Spielen mit homosexueller Symbolik stellt
arabisch/islamische Männer mit bis dorthin intakter gesellschaftlicher
Stellung unter weiße Frauen und braune Schwule. Diese Opfer sollen ihre
Ehre und Identität vollkommen verlieren."
Besonders gravierend wirkt dies angesichts der
Konstruktion von Sexualität im arabischen Raum, die der libanesische
Soziologe Hisham Sharabi so beschreibt:
"Wie
ich bereits erwähnt habe, werden sexuelle Angelegenheiten in der Familie
mit einem Geheimnis umgeben, mit Furcht und einer strengen
Verborgenheit. ... Das Thema Sexualität wird mit Scham umgeben
..."
Konfrontieren
wir diese Beschämungsvorgänge mit Ehrvorstellungen im arabisch-türkischen
Raum. Geben wir noch einmal Hisham Sharabi das Wort, der das
Charakteristikum gängiger Ehr- und Schamvorstellungen arabischer
Gesellschaften so beschreibt:
"Dieses Charakteristikum steht
in Verbindung mit den moralischen Gebräuchen. Unser Interesse gilt aber
nicht den moralischen Aspekten sondern den praktischen Konsequenzen, die
sich aus dem Verbergen im täglichen Verhalten ergeben. Ein Beispiel:
Wenn die Mutter zu ihrem Kind an einem öffentlichen Ort (z.B. einem
öffentlichen Park) sagt: Es gibt kein Hindernis hier zu urinieren, weil
'man es nicht merkt', dann
bringt sie ihm tatsächlich bei, [Dinge] zu verbergen und zu
verheimlichen, indem sie ihm sagt, dass es nicht untersagt ist, etwas zu
tun, das verboten ist, solange die Augen der anderen es nicht sehen.
Deshalb kann das Kind verbotene Handlungen nicht ernsthaft wahrnehmen.
In dieser Hinsicht nimmt dann die Unterscheidung zwischen äußerem und
innerem Verhalten einen rein praktischen Charakter an
..."
Werner Schiffauer beschreibt diesen pragmatischen Begriff
der Ehre und Scham im türkischen Kontext:
"Hier
muß ich auf einen zweiten Zug des bäuerlichen Denkens eingehen, nämlich
seine Situationsgebundenheit. Regeln gelten nur in bestimmten
Situationen. Dieser Zug bestimmt den Wert der Achtung ebenso wie den der
Ehre. ... Die Regeln, die das Handeln bestimmen, hängen von den
Beziehungen ab, in der man zu den jeweils Anwesenden steht, sei sind
außerdem abhängig von Ort und Zeit des Zusammentreffens
... Das Handeln ist bestimmt von dem, was in einer bestimmten
Situation als angemessen gilt; die Situation wiederum von Ort, Zeit und
Position der Anwesenden. So behandelt man eine Person je nach Kontext
unterschiedlich ...
Allgemein gesagt: Die Identität eines
Handelns, liegt in der Außenwelt, die in sich geschlossen ist und die
das Individuum mit Aufgaben konfrontiert, denen es gerecht zu werden
versucht. Der Einzelne empfindet sein Verhalten als konsistent, weil die
Situationen, in denen er sich bewegt, konsistent sind, und nicht, weil
er sich in den unterschiedlichen Situationen gleich verhält. Die
Identität des Einzelnen liegt außerhalb von ihm, in dem Kontext, in dem
sich die Situationen ergeben, und nicht in ihm als Person. Die Kategorie
der Person ist im Dorf irrelevant. Entsprechend
unterliegen Situationen und nicht Personen der sozialen Kontrolle. ...
Diese Form äußerer Kontrolle macht verständlich, weshalb die türkische
Kultur mit gewissen Zuschreibungen so schnell bei der Hand ist: Wer sich
in eine bestimmte Situation begibt, wird sich ihr entsprechend verhalten
... Sowenig die Persönlichkeit oder der Charakter des Einzelnen
bei diesen Zuschreibungen von Bedeutung ist, so wenig gelten sie bei der
Erklärung eines Vorfalles: Auch hier wird auf die Situation verwiesen
... So führt ein Regelbruch eher zu Scham- als zu Schuldgefühlen;
anders als Scham bezieht sich Schuld auf Werte, die allgemein, d. h. für
jeden und jede Situation gelten. Ihre Verletzung weckt Schuldgefühle
selbst dann, wenn niemand davon erfährt oder es gar bei der bloßen
Absicht geblieben ist. Scham dagegen ist an Öffentlichkeit geknüpft. Ein
Handeln, das in einer bestimmten Situation durchaus am Platz ist, kann
in einer anderen als schamvoll empfunden werden. ... Scham wird auch
empfunden, wenn Situationen vermengt, die Grenzen zwischen ihnen
verwischt werden. ... Die Beispiele zeigen, daß das Wort
'schämen' ... sich nicht nur auf ein
Gefühl bezieht, sondern zugleich in einer Bedeutung verwendet wird, die
sich bei uns im bayrischen Wort 'gschamig'
erhalten hat. Junge Frauen, heißt es, schreien nicht, 'weil
sie sich schämen' ... Sich schämen bedeutet hier
also, daß sich jemand 'sauber'
verhält. Scham ist in diesem Zusammenhang mehr ein Wert als ein Gefühl."
Kommen wir nun zu dem Material, in dem wir sehen können,
in welcher Form sich die Situationen gestaltet haben, in denen solche Scham
empfunden wird.
Abu Ghraib
Das irakische Gefängnis Abu
Ghraib ist durch eine Vielzahl von Videofilmen, Videostills und Fotos zu
einem Symbol der Unterdrückung des irakischen Volkes durch die USA und ihre
Alliierten geworden. Darüber sind die Misshandlungen und Tötungen unter dem
Baath-Regime im Irak an den Rand gedrängt worden. Diese Untaten sind – und
das dürfte für uns von Bedeutung sein – nicht in der Form bildlich
dokumentiert worden, in der es unter US-Ägide geschah.
Einige Beispiele, die wir in arabischsprachigen
Onlinemedien finden können, machen sich zum größten Teil das Bildmaterial
westlicher Medien zunutze:
http://majdah.maktoob.com/vb/showthread.php?t=1997
www.wlamen.com/vbb/showthread.php?t=5041
http://iraqii.jeeran.com
www.swalif.net/softs/swalif12/softs148600
www.alanbaaalalamia.com/mlf56.htm
www.ramadan2.biz/Royaa9.htm
Betrachten wir eine dieser Bildsequenzen im Detail:
www.albasrah.net/images/iraqi-pow/iraqi-pow1.htm
Diese Sequenz zeigt, neben dem Neuigkeitswert anderen
Bildern gegenüber, die Behandlung eines irakischen Gefangenen durch
US-Soldaten. Die offene Gewaltsamkeit, in den Blutspuren zu erkennen, wird
kombiniert mit der gezielten Entblößung des Gefangenen in der
Öffentlichkeit, dem Treten mit Füßen auf ihn, selbst dem Sitzen auf den
Gefangenen – und das Ganze im triumphalistischen Gestus. Wir bemerken also
schon hier ein in der arabischen Öffentlichkeit völlig unangemessenes Zeigen
von Nacktheit.
Diese Sequenz wird übergeleitet in Bilder, die die
politisch und militärisch Verantwortlichen zeigen. Die folgenden Sequenzen
konzentrieren sich auf Aspekte wie offene Gewaltanwendung, Nacktheit,
entwürdigende Positionen, die u.a. Bereitschaft zu homosexuellem Verkehr
signalisieren sollen, auch Animalisierung der Gefangenen und folgerichtig
auch den Einsatz von Hunden. Zwar wird in entsprechenden US-Handbüchern,
geschöpft aus afghanischen Erfahrungen, der Einsatz von Hunden gegen
muslimische Gefangene empfohlen, allerdings scheinen angesichts der Wirkung
wild gewordener Hunde auf alle ihnen ausgesetzten Menschen solche
Essentialisierungen nur der Konstruktion des orientalischen 'Anderen' der
westlichen/US-amerikanischen Männer und Frauen zu dienen. Beachten müssen
wir insbesondere den orangefarbigen Overall, Standardbekleidungsstück für
Gefangene, der immer wieder auftaucht. Die folgenden Sequenzen heben
sexuelle, insbesondere wieder homosexuell konnotierte Bilder hervor. Bekannt
geworden sind auch die Haufen nackter Menschen mit dazu posierenden
WächterInnen.
Besonders herausragend in der Rezeption der Ereignisse
von Abu Ghraib war die Rolle der Protagonistinnen, die als
Gefängniswächterinnen tätig waren (Lynndie England, Sabrina Harman), auf
diesen Bildern. Eine völlige Umkehrung der etablierten Geschlechterrollen,
die als besonders massiver Akt der Beschämung wahrgenommen wurde. In welch
hohem Maße dies wirkt, zeigt die Häufigkeit einschlägiger Szenen in einem video-
und bildorientierten Forum:
www.watein.com/4images/thumbnails.php
Wir sehen auch gegen Genitalien gerichtete Aggression
auch außerhalb des Gefängnisses, was uns zeigt, dass sich der visuelle
Komplex Abu Ghraib auch über andere Bilder schiebt.
Gerade die Rolle von Soldatinnen führt zur Aufnahme
entsprechender Bilder in Onlineforen. Die bereits gezeigten Sequenzen werden
in anderer Bildauswahl immer neu belebt – selbst noch einige Jahre später.
Gesteigert wird dies in in Textform wiedergegebenen Geschichten, in denen
berichtet wird, dass eine amerikanische Soldatin (!) einen der älteren (!)
Gefangenen gezwungen habe, Frauenkleider anzulegen.
أبو غريب والشرف السليب
Titel des Artikels: Abu Ghraib und die gestohlene Ehre
Dreifache unangemessene Handlungsweise: 1.) Eine Frau als
Unterdrückerin eines Mannes, 2.) eine Missachtung eines älteren Mannes, 3.)
ein Mann wird in eine Frauenrolle gezwungen. Das integrierte Bild verweist
auf religiöse Dinge als Bezugnahme: eine Gebetskette – die zudem häufig von
älteren Männern ostentativ benutzt wird.
Eine Zwischenbemerkung: Die politisch fatalen Folgen
zeigen sich, wenn Abu Ghraib als Symbol für die Hohlheit der westlichen
Propaganda für Demokratie benutzt werden kann.
الديمقراطية الأمريكية.. أبوغريب نموذجا
Überschrift eines Blogartikels:
Amerikanische Demokratie – am Beispiel Abu Ghraib
Eingeordnet werden die Bilder auch in den Kontext anderer
visueller Aggressionen. In einem ägyptischen Artikel wird über neue Bilder
aus Abu Ghraib, aber auch über die Veröffentlichung der Muhammad-Karikaturen
2005 gehandelt.
Guantanamo
Das Bildprogramm, das sich mit dem orangefarbigen Overall in
Abu Ghraib verknüpfen lässt, setzt sich fort in den Beschreibungen der Lage
der Gefangenen in der US-Marinebasis Guantanamo. Auch hier dominierte zuerst
die Abbildung von Gefangenen in orangen Overalls.
http://vb.6rbqtr.com/showthread.php?t=15754
http://arabic.cnn.com/2003/world/12/4/hicks.guantanamo/index.html
http://muntada.islamtoday.net/showthread.php?t=4480&page=28
www.marhba.com/forums/showthread.php?t=1969
www.amnestyusa.org/magazine/i/guantanamo.jpg
http://medfan2003.jeeran.com/guantanamo.jpg
Auch über die bloße Dokumentation wirkt das icon
des orangenen Overalls:
http://bukah.files.wordpress.com/2007/01/guantanamo.jpg
az-Zarqawi
Gezielt genutzt wird in schrecklichster Weise das in Abu
Ghraib begründete Bildprogramm dann in dem von Abu Mus'ab az-Zarqawi
begründeten Genre der Köpfungsvideos. Das Opfer wird ebenfalls in einem
orangefarbigen Gefangenenoverall präsentiert, bevor er ermordet wird.
http://window777.jeeran.com/Berg_B5.jpg
Nicholas Berg
http://arabi.ahram.org.eg/arabi/ahram/2004/10/16/86.jpg
Ermordung einer koreanischen Geisel
Die somit erzeugte Erniedrigung des nichtmuslimischen
Gefangenen durch die Ankoppelung an eine Bildproduktion, die die
Erniedrigung und Beschämung von muslimisch-arabischen Gefangenen zeigt,
wendet sich aber gegen ihre Urheber. Gerade die Entehrung des Opfers wird
von der arabischen Öffentlichkeit als unangemessen, als unehrenhaft
rezipiert und führt dadurch zu einem Ende dieser grausigen
Videoproduktionen.
Dieser Effekt zeigt uns, dass die skizzierten
Videodiskurse ihre Adressaten in der arabischen Öffentlichkeit haben,
weniger in der Weltöffentlichkeit. Die urban-medial vorgeprägte
Weltwahrnehmung wird gezielt zur Produktion von Beschämung und Gefühlen der
Ehrverletzung eingesetzt und kann damit den gewünschten Effekt verstärken,
ist aber nicht das Hauptziel des Bildprogramms.
Ein weiterer Aspekt dieser letzteren Videoaufnahmen zeigt
sich in der Kopfhaltung des Opfers vor der Enthauptung, die an das
Schlachten von Tieren am Ende des Fastenmonats Ramadan gemahnt, eine
Codierung, die von der arabischen Öffentlichkeit offensichtlich unbewusst
als Entehrung religiöser ritueller Handlungen begriffen wurde. Allerdings
wird sie immer wieder aufgegriffen: In einem Posting des in Schweden
ansässigen Administrators der Onlineforen von Arab Online vom November
2006, in dem die Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh
bejubelt wird, heißt es: "Man sagt, er wurde
abgeschlachtet wie ein Schaf."
www.gn4me.com/gn4me/content_img/party103540.jpg
Vorbereiten auf die Schlachtung
www.abu-hamza.com/?p=269
Der Vorgang des Schlachtens
www.vialls.com/italy/images/sgrena100b.jpg
Die Parallele
Das letzte Bild, das wir betrachten, stammt von einer
jihadistischen Website, die inzwischen offline ist. Es zeigt deutlich die
Intensität, mit der sich das Bild des blutbefleckten Schwertes/Messers in
das jihadistische Imaginäre eingeschrieben hat. M.a.W.: Ein bestimmtes
Bildprogramm mag gescheitert sein, die Komponenten sind aber weiterhin
vorhanden und aktualisierbar:

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