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Brot backen für die Toten

"Wie sich der Kolac dreht, soll sich all das Schlechte ins Gute drehen und wandeln" –
mit diesen Worten fasst Tante Dragoslave den Kerngedanken der wichtigsten Feier der Roma im
serbischen Ort Boljevac zusammen. Am "Fest der Tante", auch Bibijako Djive genannt, wird die
mythologische Figur der Bibi Sara Kali, Schutzpatronin der Roma, geehrt. Dass dieses am 31. Januar
begangene Fest mit der Befreiung der Roma-Überlebenden 1944 aus dem KZ übereinstimmt,
ist kein Zufall, hat doch Simonida Selimović für das Theater-Film-Projekt Bibi Sara Kali im
Vorfeld gründlich recherchiert. Gemeinsam mit dem syrischstämmigen Autor Ibrahim
Amir entwickelte die Schauspielerin, Musikerin und Roma-Aktivistin ein Stück, in dem
die Roma-Kultur und die Situation von Roma-Frauen beleuchtet werden.

Von Irina Wolf
(23. 07. 2021)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 




(c) Romano Svato

"Bibi Sara Kali"
(Regie:
Nina Kusturica)

 

 

Linktipp

"Romano Svato" heißt
der 2010 von den beiden
Schwestern Selimović
gegründete Roma-
Theaterverein:

www.romanosvato.at

 

   Was aber ist ein Kolac? Diese Frage stellt sich auch Tanja (Ivana Nikolić), die jüngste der drei Töchter, die zusammen mit ihrer Mutter Jelena vor gut dreißig Jahren Serbien für Österreich verlassen haben. In ihrer neuen Heimat hielt Jelena ihre Identität als Romni geheim, um "überleben zu können, ohne vom Stehlen beschuldigt zu sein". Zu ihrer Familie in Serbien hatte sie kaum noch Kontakt. Umso verwunderlicher ist es, dass sie nach drei Jahrzehnten aufbricht, um in Boljevac noch einmal den Bibijako Djive zu feiern. Es sollte ihr letztes Fest sein, denn anschließend stirbt sie. Somit treffen die drei Töchter Snežana (Sandra Selimović), Melisa (Simonida Selimović) und Tanja in Serbien ein, um ihre Mutter zu beerdigen.

So weit die Ausgangslage. In den eineinhalb Stunden Spielzeit tauchen zahlreiche Familienkonflikte auf. Charaktere und Ansichten prallen aufeinander. "Bibi Sara Kali" wechselt stetig zwischen Tragik und Komik, zwischen schmerzhaften Erinnerungen an Diskriminierungen in den Kindheitstagen vor der Migration und an die schwierige erste Zeit in Wien, erzählt von Identitätsverlust, Rassismus und Nationalismus. Der in Boljevac lebende Cousin Marcos ist besessen von der Vorstellung einer besseren Zukunft in der EU. Er sorgt für Serbiens Beitritt vor, indem er sein Landstück fortwährend erweitert und hofft auf eine Wertsteigerung, wenn es dann "EU-Boden" sein wird... Wenn es hart auf hart kommt, scheut er nicht davor zurück, seinen Besitz mit dem Gewehr zu verteidigen.

   Mit viel Humor beschreiben Simonida Selimović und Ibrahim Amir, welche Regeln während der Vorbereitungen für die Beerdigung zu befolgen sind. Dass die drei Schwestern mit unzähligen unbekannten Traditionen und Ritualen konfrontiert werden, ist nicht verwunderlich. Unter anderem weiht sie Tante Dragoslave ein, dass die Zahl der am Leichenschmaus Beteiligten eine ungerade sein soll – ein Gesetz, das man einfach so hinnehmen muss. Snežanas Ehemann Taiye wäre einer zu viel. Sukzessive machen die einander seit Jahren entfremdeten Geschwister unerwartete Entdeckungen über die Vergangenheit der Mutter, aber auch über sich selbst. Vor allem dann, wenn auf Jelenas letzten Wunsch hin Melisa das Zubereiten des Kolac übernehmen soll.

Um die Tradition des Festtags der Bibi Sara Kali zu erhalten, wird das Backen des speziellen Brotes immer von jemandem anderen ausgerichtet. Dass dies der mittleren Schwester zugesprochen wird, kommt bei der ältesten Tochter Snežana überhaupt nicht gut an. Eifersüchtig fühlt sie sich von der Mutter im Stich gelassen. "113 Kartoffeln, 5 kg Zwiebeln und 137 Knoblauchzehen schälen", sollen ihr Anteil an der Vorbereitung des Leichenschmauses sein. Denn in Serbien feiert man ausgelassener. Am Ende führen Simonida Selimovićs Recherchen zu der hinduistischen Göttin Kali, einer Figur, die auf die Schattenseiten verweist, gilt sie doch als Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung.

   Bei Regisseurin Nina Kusturica setzt die Handlung am Busbahnhof in Wien Erdberg ein. Doch dann wechselt die Kamera (Marie Zahir) von der realitätsbezogenen Anschaulichkeit in den Theaterraum des Werk X-Petersplatzes. Halbdurchsichtige Vorhänge verleihen dem Ambiente einen heimeligen und behaglichen Charme. Außerdem erlauben sie Corona-konforme Berührungen oder lassen sich leicht in ein Kopftuch verwandeln. Die vom rumänisch-österreichischen Pianisten Adrian Coriolan Gaspar komponierte Musik unterstreicht die Stimmung eines jeden Moments wundervoll; die subtil eingesetzte Beleuchtung erzeugt eine mysteriöse Atmosphäre. Auf grandiose Film- und Theatereffekte wird verzichtet. Obgleich wichtige sozialpoltische Themen angesprochen werden, wirkt das Ganze verspielt charmant und poetisch raffiniert verpackt. "Bibi Sara Kali" besticht durch präzise Darsteller, einen klugen Text und eine bemerkenswerte Umsetzung.

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