Dass
es viele Vorteile hat, in der Früh zu radeln, ist unbestritten. Dies aber
auf den Fahrrädern zu tun,
die im Foyer des "Luceafărul" Kinder-
und Jugendtheaters ausgestellt sind, ist eine reichlich ungewohnte Art des
Morgensports. Kaum lege ich los, beginnt Wasser durch einen Schlauch zu
fließen, Zylinder heben und senken sich, Glocken erklingen. Eine Badewanne,
Schläuche, Stethoskope, Sprungfedern und jede Menge ungewöhnlicher Bauteile
verzieren die Drahtesel. François Cys, der sympathische belgische Künstler,
lädt ein zum Kratzen und Reiben der interaktiven Klanginstallationen.
Seltsame Klänge ertönen aus den Espaces Cyclophones.
Mit solch außergewöhnlichen Kunstwerken lockte Oltiţa
Cîntec, Theaterkritikerin und Kuratorin der 11. Ausgabe von FITPT, das
Publikum. Unter dem Motto "Anders" stellten
– auf mehr als einem Dutzend
unterschiedlicher Spielstätten – vom 4. bis 11. Oktober über
vierhundert Künstler aus zwanzig verschiedenen Ländern ihr Können unter
Beweis.
10 Uhr:
Nun
aber runter vom Fahrrad und ab in den kleinen Saal. Hier sorgt
Wasserpuppentheater aus Vietnam für staunende Augen. Drachen, Feen, Fische
oder Enten scheinen wie von selbst über die Wasseroberfläche zu gleiten.
Nach Aufführungsende treten die Akteure der "Thang Long"-Theatergruppe aus
dem Dunkeln vor den Vorhang und erlauben den Zuschauern, die an
Bambusstangen angebrachten Puppen zu testen. Eine ganz spezielle Show, die
die Herzen von Groß und Klein berührt.
Ein Puppenfest bietet auch "Sky Bird Puppet" aus
Hong-Kong. Finger-, Hand- und Stangenpuppen werden höchst geschickt zum
Leben erweckt. Vor allem beeindruckt ein Kung Fu Affe namens King, an nicht
weniger als dreißig Saiten hängend! Eine Kurzdemo der Fingerfertigkeit des
Künstlers Cheung Cheun-Fai ermutigt mich,
später im Hotelzimmer
meine eigene Geschicklichkeit zu testen. Nun: Die wenigen
Versuche scheitern kläglich ...
11:30 Uhr:
Weiter
geht es im großen Saal mit Schatten- und Musiktheater. Die Brüder des
Nordlichts heißt die magische, mysteriöse Show des Figur Teatr aus
Krakau. Begleitet von den Musikern des CHOREA Theaters aus Lodz erzählen
einzigartige Schattenbilder Geschichten, die auf Legenden und Märchen von der
Ostsee basieren. Eine Mühle tanzt wie von Zauberhand getragen über die Bühne.
Währenddessen werden geheimnisvolle Meeresbewohner heraufbeschworen.
Humorvoll, farbenfroh und musikalisch geht es zu im
Träumer nach Ian McEwan. Hauptfigur der Produktion des Jugendtheaters
aus Piatra Neamţ ist ein Kind, das immer wieder neue Welten erfindet, um aus
der Wirklichkeit zu flüchten und die Grenzen, die Erwachsene den Kleinen
setzen, zu durchbrechen. In seinen fantastischen Abenteuern erobern unter
anderem die Puppen seiner jüngeren Schwester das Elternhaus. Der Vater im
Pyjama spielt Gitarre, die Mutter macht mit den Topfdeckeln Musik. Sogar
drei "Lehrerinnen" beteiligen sich am einzigartigen Konzert. Der beliebten
rumänischen Sängerin und Liedermacherin Ada Milea gelingt ein bezauberndes
Stück Musiktheater.
12 Uhr:
Wer
Straßenshows bevorzugt, ist ebenfalls bestens bedient. Ob im benachbarten
Einkaufszentrum oder auf dem Platz vor dem Theatergebäude, nun ist die Zeit
der Jongleure und Clowns. Der argentinische Fußballspieler Mencho Sosa
verwandelt Fußballfelder in mitreißende Zirkusnummern. Dabei ist die
Interaktion mit dem Publikum ausschlaggebend, besonders dann, wenn kleine
Kinder zu Fußballhelden gekürt werden.
Unvergessliche Momente aus Clownerie und Magie liefert
auch Andrea Fedi aus Italien mit seiner Katastrofa Show. Während
Riesenseifenblasen die Kleinen erheitern, werden die erwachsenen Zuschauer
zum Boxen aufgefordert. Menschen bilden die Ecken des Boxrings und betätigen
sich gleichzeitig als Masseure. Zusammengehalten werden sie durch breite
Klebebandstreifen. Auch Frauen dürfen an dem lustigen Boxkampf teilnehmen.
So wird eine Dame aus dem Publikum aufgefordert sich "sexy" zu bewegen, um
die Boxrunden anzuzeigen. Hingegen hält eine weitere weibliche Person Wasser
und Kübel für den Boxer-Clown bereit. Dass alle Beteiligten mit Begeisterung
mitmachen, spricht für das lokale Publikum.
17 Uhr:
Nach
einer gut verdienten Verschnaufpause geht es am Nachmittag mit szenischen
Lesungen von Theaterstücken weiter, einer Programmsparte, die die
Kooperation mit dem Literaturfestival FILIT, das zeitgleich mit FITPT
stattfand, hervorhebt. Die drei aus einer Schreibresidenz entstandenen Texte
werden später im Rahmen eines Sammelbandes erscheinen.
18 Uhr:
Mit
Katzen, einem Konzerttheater der Gruppe Fără Zahăr (ohne Zucker, Anm.)
wird der Nachmittag fortgesetzt. Die Katzenfiguren von Bobo Burlăcianu und
Bobi Dumitraş gleichen erstaunlicherweise den Menschen: Ein Fabrikbesitzer,
ein Politiker, ein Paar mit Beziehungsproblemen, ein Söldner und ... ein
Hund, wiedergeboren im Körper einer Katze, erzählen mittels Vokal- und
Instrumentalmusik ihre Geschichten. Ein großes Publikum besucht die
schwungvolle Produktion des vor zwei Jahren gegründeten Theaters "Matei
Vişniec" aus Suceava, das den Namen des meistgespielten rumänischen
zeitgenössischen Autors trägt.
19 Uhr:
Am
Abend wird es ernst. Das Nationaltheater "Marin Sorescu" aus Craiova zeigt
ein Stück über die Entstehung eines Theaterstücks. Der Autor, ein
schockierender Text des britischen Dramatikers Tim Crouch, enthüllt eine
Welt, die von Gewalt und Missbrauch beherrscht wird. In Bobi Pricops
origineller Inszenierung sind die vier Schauspieler mitten im Publikum
platziert, das auf mehreren Sitzreihen direkt auf der Bühne sitzt. Durch
dieses einzigartige Experiment können die Reaktionen der Zuschauer bis ins
Detail beobachtet und eine hochemotionale Wirkung erzielt werden.
Gewalt, Verleugnung und Identitätssuche sind die Themen
von Das Perfekt. Die Produktion des Nationaltheaters "Radu Stanca"
aus Hermannstadt verfolgt die Geschichte Rumäniens im Spiegel dreier
Generationen einer Familie. Und so führt der Text der in Paris lebenden
rumänischen Autorin, Regisseurin und Bühnenbildnerin Alexandra Badea
unweigerlich zur Ceauşescu-Diktatur, zu den Wirren und Umbrüchen nach dem
Ende des Kommunismus, vor allem aber zum größten Pogrom an der jüdischen
Bevölkerung in Rumänien, das in den 1940er Jahren in Iaşi stattgefunden hat.
20 Uhr:
Den
Abschluss bildet ein nonverbales Theaterstück über die in Rumänien
landesweit bekannte Ballade vom Schäfchen Mioriţa.
Das Nationalepos, das vom Testament eines Schäfers handelt, dem ein Raubmord
droht und der seinem Tier den letzten Willen mitteilt, gibt es mittlerweile
in hunderten Varianten. Das unabhängige Theaterkollektiv "Auăleu" aus
Temeswar setzt
Mioriţa mit zeitgenössischer Black Metal Musik und prächtigem
Maskentheater zu einer packenden Show neu zusammen.
Durch die geografische Vielfalt und die breitmöglichst
gefächerte Auswahl an Produktionen schaffte es die Kuratorin Oltiţa Cîntec
auch dieses Jahr, für Staunen, Lachen und Begeisterung beim jungen und
junggebliebenen Publikum zu sorgen.