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Notizhefte
zusammennähen? Suppe mit dem Messer auslöffeln? Eine
Von
Irina Wolf |
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Aus den 1000 Seiten des Meisterwerks der Literaturgeschichte einen Theaterabend machen zu wollen, zeugt von Wagemut. Etliche Abenteuer "des Ritters von der traurigen Gestalt" wurden aus dem Roman herausgefiltert und in viereinhalb Stunden verdichtet. Kein Pferd Rosinante, kein Esel, keine Windmühlen. Dafür aber die Verwechslung des Gasthauses mit einem Schloss, die Hochzeit Camachos des Reichen mitsamt den Begebnissen von Basilio dem Armen, das Treffen mit einer Räuberbande, mit dem Puppenspieler Meister Pedro und vieles mehr. Doch Martinelli und Montanari beschränken sich nicht nur auf die Bühne. Wie ihr voriges Dante-Projekt (2017 – 2022), das sich mit der Göttlichen Komödie befasste, ist auch Don Quijote in Flammen setzen als eine Reise durch symbolträchtige Orte der Stadt Ravenna gedacht. Während der erste Teil 2023 im "verzauberten Schloss", dem Malagola-Palast (Sitz des Internationalen Zentrums für Gesangsstudien) stattfand, spielte der zweite Teil 2024 in den Ruinen von Teodoricos mittelalterlichem Palast. Das Teatro Rasi (Sitz des von Martinelli und Montanari gegründeten Teatro delle Albe), das jahrhundertelang von Klarissen bewohnt und von Napoleon Bonaparte in einen Stall verwandelt wurde, war Zeuge des krönenden Abschlusses dieses beachtlichen, vom Teatro delle Albe/Ravenna Teatro, dem Ravenna Festival und dem Teatro Alighieri koproduzierten Projekts. Fäden der Illusion Solch ein außergewöhnliches Stationentheater in Ravenna zu erleben, ist eine intensive Erfahrung, denn Martinelli und Montanari verwandeln das Publikum in "irrende Ritter", die von zwei kümmerlichen Magiern begleitet werden: Hermanita (Ermanna Montanari), die die "Fäden spinnt" und Marcus (Marco Martinelli), der die "Fäden verfolgt". Ihre Zauberstäbe sind stumpf. Sie können nichts anderes tun, als Geister zu beschwören. So werden zum Beispiel die drei Hauptfiguren des Romans aus einem "Müllraum" freigezaubert: Don Quijote (gespielt von Roberto Magnani) heißt Roberto del Castillo, Sancho Panza (gespielt von Alessandro Argnani) ist Aleandro Argnàn de Puerto Foras und Dulcinea ist Laura Ross de la Briansa (eigentlich Laura Redaelli). Viel eindrucksvoller als die Interpretation der drei Hauptfiguren von Cervantes’ Werk ist die Beteiligung der Bürger, sei es der "Chor der Glossolalics", der "Chor des Bürgerfests", der "Chor der Gefangenen" oder der "Chor der Vernünftigen", die Bücher verbrennen, um Don Quijote zu retten. Chiamata Pubblica (öffentlicher Aufruf/public call) heißt die Einladung des Ravenna Teatro, die allen gilt, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Nationalität. Unter der Anleitung von Martinelli und Montanari werden Hunderte von Bürgerinnen und Bürgern aus der Region und darüber hinaus mit verschiedenen Aufgaben im Rahmen eines Labors, dem sogenannten Cantiere (Baustelle), betraut. Begeisterte Gruppen widmen sich Gesang, Tanz oder Chorrezitation. Sie bilden das, was Martinelli als "Chöre" bezeichnet. Andere wiederum tragen zur Gestaltung des Bühnenbilds und der Kostüme bei. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, ist erstaunlich und ansteckend zugleich. Auch "Stämme" (tribú) junger Männer und Frauen, die die von Marco Martinelli initiierten Non-Scuola-Workshops besuchten, nehmen am Projekt teil. Es war einfach beglückend zu sehen, mit welcher Hingabe und Einsatzfreude die Jugendlichen spielten. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der italienischen Jugendgruppen (aus Bari, Florenz, Neapel, Noto, Rimini, Rom, Santarcangelo, um nur einige zu nennen) verdoppelt. Teilnehmer aus Malta und Paris kamen hinzu, was die internationale Dimension des Projekts unterstreicht. Von Anfang an spielen Martinelli und Montanari mit der Illusion als dem zentralen Thema des Romans, mit der Frage, was ist Realität und was ist Traum. In der Eingangshalle des Malagola-Palastes nähen mehrere Frauen an alten Nähmaschinen die Seiten mit ihren intimsten Träumen zu Broschüren. Dieser "Chor der Träumerinnen" bietet jedem von uns, den "irrenden Rittern", eine Seite. In kleinen Gruppen von sieben Personen bewegen wir uns dann lautlos durch die Räume des "verzauberten Schlosses", gehen Stockwerke auf und ab, werden Zeugen atemberaubender Szenen. Träume und Albträume wechseln sich in diesem Labyrinth ab. Die Reise, die damit beginnt, dass Kinder Sandburgen bauen und mit einem älteren nackten Paar, einem Mann und einer Frau, die sich zärtlich umarmen, endet, dauert nur wenige Minuten, ist aber ein einzigartiges Erlebnis, bei dem die Lichter (von Luca Pagliano und Marcello Maggiori) und die Klänge (von Marco Olivieri) starke Emotionen vermitteln. Visuell ist die Inszenierung ein Schauspiel aus längst vergangenen Zeiten: Es wird im Garten des Malagola-Palastes gespielt, vom Balkon desselben Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert rezitiert. Während das 50-köpfige Publikum von Ort zu Ort zieht, zeichnet der Illustrator Stefano Ricci live auf Kreidetafeln Tiere und anthropomorphe Figuren. Manchmal radiert er sie schnell wieder aus, um neue, stets flüchtige Zeichnungen zu erschaffen. Auch das Hörerlebnis kommt nicht zu kurz. Es wird zu Live-Musik aus dem 17. Jahrhundert oder zu sephardisch-andalusischen und kalabrischen Liedern getanzt, hervorragend dargeboten von der Rockband LEDA. Poetisch! Politisch! Martinelli und Montanari verbinden das Politische und das Poetische in bemerkenswertem Maße. Der erste Teil endet mit einer Bücherverbrennung, ähnlich wie im Roman, in dem die Nichte des Ritters, die Haushälterin, der Dorfpfarrer und der Barbier die meisten Ritterromane des Helden ins Feuer werfen.
Das sind vielleicht die emblematischsten Sätze von Martinellis Dramaturgie. Im zweiten Teil analysieren die drei Protagonisten ihren Alltag im Verhältnis zum Theater und zur Welt. Die zu lösenden individuellen Probleme sind historisch und politisch eng mit dem Geschehen auf unserem Planeten verknüpft. Martinelli und Montanari sind Meister darin, über aktuelle Ereignisse – ob Kriege oder Klimawandel – zu reflektieren und sie stets mit tiefgründigen philosophischen Themen zu verknüpfen. Das Feuer, vor dem wir am Ende des ersten Teils geflohen sind, finden wir buchstäblich brennend in einem Kessel im Hof von Teodoricos Palast. Doch hier zerstört es nicht die Bücher, sondern erhellt die Nacht und gibt uns Hoffnung. Verdorben wird diese nur von der Geschichte eines dreizehnjährigen Mädchens, das aus ihrem Dorf entführt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen wurde. Diese Roman-Episode verwandelt sich in das Anliegen tausender anderer unterdrückter Frauen. Verstörend und beeindruckend klingt die Geschichte, erzählt in einem Atemzug von einer der jungen Laienschauspielerinnen, die den Non-Scuola-Workshops entsprungen ist. Die Reise neigt
sich dem Ende zu. Im dritten Teil erleben wir einen Triumph der Illusionen,
der den wahren, wenn auch nur tröstlichen Sinn des Lebens wiederherstellt.
Die Türen des Teatro Rasi öffnen sich, und dieselben Bürger, die vor drei
Stunden noch Träume nähten, bieten uns Brot, Wasser und Wein an. Der
Theatersaal ähnelt der Höhle des Montesinos. Hier spielt die Geschichte der
Hochzeit zwischen dem reichen und alten Camacho und der jungen Quitéria, der
Tochter zweier armer Bauern, die jedoch in Basilio verliebt ist, einen
jungen Mann in ihrem Alter, arbeits- und mittellos. Nachdem die von Basilio
ausgeheckte Scharade auffliegt, wird die Hochzeit mit einem Happy End
gefeiert. Dem Schildknappen Sancho Panza wiederum gelingt es, seine Rede mit
einer Reihe von Sprichwörtern auszuschmücken, die uns amüsieren und Don
Quijote maßlos ärgern. In einem der schönsten Momente der Reise begegnet
Hermanita ihrem jungen Ebenbild vor einer Reproduktion des Gemäldes "Der
Schlangenbeschwörer" von Henri Rousseau. Ein weiterer Beweis dafür, dass das
Theater die Fähigkeit hat, die Realität auf den Kopf zu stellen und
Erinnerungen wiederzuerwecken. Am Ende stirbt Don Quijote, und als sich im
Hintergrund der Vorhang hebt, wird die Apsis der romanischen Kirche
sichtbar, in der ein prächtiges goldenes geflügeltes Pferd steht. Ein Kind
mit einer Fackel tritt hervor und entzündet eine Flamme als Hoffnung für
eine bessere Welt. Marco Martinellis und Ermanna Montanaris Werke
faszinieren durch atemberaubende Intensität und Professionalität. |