Im
Becken von San Marco herrscht ein ständiges Treiben: Vaporettos legen an,
Frachtboote entladen ihre Waren, Gondolieri fahren Touristen auf dem Canal
Grande. Die große Panoramaterrasse des Hauptbüros der Venediger Biennale ist
einzigartig. Links der Blick über die Insel San Giorgio Maggiore, rechts
über die imposante Basilika Santa Maria della Salute. Kein Wunder, zählt
doch der historische Palast Ca'Giustinian zu den repräsentativsten
Vertretern des venezianischen Stils der Spätgotik. Hier fand die Eröffnung
der diesjährigen 46. Ausgabe der Theaterbiennale statt, die zweite unter der
künstlerischen Leitung des Regisseurs Antonio Latella. Unter dem Motto
"Zweiter Akt: Schauspieler / Performer" (der erste Akt war 2017 den
Regisseuren gewidmet) wurden vom 20. Juli bis zum 5. August insgesamt 31
Produktionen, darunter sechs Weltpremieren, gezeigt.
Zwei Löwen aus
Edelmetall
Eröffnet
wird die Biennale Teatro traditionell mit der Preisverleihung. Der silberne
Löwe, ein Nachwuchspreis für theatralische Innovation, ging dieses Jahr an
die italienische Gruppe Anagoor. Den goldenen Löwen – er zeichnet ein
Lebenswerk aus – erhielt das Duo Antonio Rezza und Flavia Mastrella. Am
ersten Abend zeigten Anagoor ihre Neuproduktion Orestea. Agamennone,
Schiavi, Conversio. Gegründet im Jahr 2000 von Simone Derai und Paola
Dallan, machten sich Anagoor insbesondere dadurch bemerkbar, dass sie "alles
in Eigenregie kreieren", so Latella in der Laudatio. So ist es nicht
verwunderlich, dass Simone Derai für Regie, Bühnenbild, Kostüme,
Video-Design sowie für die Dramaturgie, zusammen mit Patrizia Vercesi,
verantwortlich zeichnet. Ebenfalls bekannt sind Anagoor für ihre
Zusammenarbeit mit professionellen Künstlern und Laienschauspielern, mit
Sängern und Tänzern.
Philosophische und
literarische Bezüge lagen schon immer im Fokus der Theatergruppe. Auch
für die Neuproduktion wird eine Neuübersetzung von Aischylos Orestie mit
Zitaten aus Werken verschiedener Autoren wie S. Quinzio E. Severino, S.
Givone, W.G. Sebald, G. Leopardi, A. Ernaux, H. Broch, P. Virgilio Marone, H.
Arendt, G. Mazzoni bereichert. Der dadurch entstandene Text erweist sich als
dicht und schwierig. Dennoch wird er verständlich von den Schauspielern
vermittelt, zumal die Dauer der Aufführung vier Stunden umfasst, mit nur einer
Pause dazwischen. Rätselhaft wirkt die Inszenierung aber durch die
Videoprojektionen. Die auf der Bühnenrückwand gezeigten Filme stellen
entweder eine von Flammen verschlungene Europa-Karte oder ein zu
schlachtendes Rind dar.
Auf
der sonst leeren Bühne befinden sich ein Mikrofon, ein altes, für
Live-Aufnahmen der Schauspielerstimmen bestimmtes Tonbandgerät und einige
Lautsprecher. Die Soundkulisse spielt eine wichtige Rolle. Elektronische
Musik, Menschenlärm, klirrende Waffen, Kindertotenlieder, Möwenschreie,
Wellengetöse. Das sind nur einige der von Anagoor eingesetzten Soundeffekte,
um die Fantasie der Zuschauer anzuregen, ihre eigenen Bilder zu kreieren.
Schon zu Beginn ertönt der gellende Ruf des Muezzins, und währenddessen
werden auf dem Bildschirm die Worte "Hahn der Morgenröte" projiziert. Ist
der Hahn in der indischen Welt als Tier des Übergangs zwischen Leben und Tod
bekannt, so verkündet er auch bei Tagesanbruch das Ende der Nacht. Denn der
Ausgangspunkt der Produktion ist der Tod. Stärker als das Leben. Fazit:
Anagoors Werk untersucht die Wurzeln der heutigen westlichen Gesellschaft.
Ganz anders die Ästhetik von Rezza und Mastrella. Drei ihrer Werke wurden im
Festival gezeigt: 7-14-21-28, Fratto_X und Adelante. Das 1987 gegründete Duo
besteht einerseits aus Antonio Rezza, "dem Künstler, der in seinem Körper
die zwei verschiedenen Charaktere des Schauspielers und des Performers
vereint" und, andererseits, aus Flavia Mastrella, Schöpferin von
außergewöhnlichen Bühnenbildern, den sogenannten Lebensräumen oder
"Habitaten". Angeordnet auf Metallgestelle, symbolisieren Seile und Netze aus
Leinen und farbigen Stoffen zum Beispiel einen Kinderspielplatz. Mit seiner
einzigartigen schauspielerischen Tour de Force belebt der Künstler die von
Mastrella geschaffenen Kunstwerke. Rezzas sehr hoher körperlicher Einsatz
und unermüdlicher Wortfluss sind atemberaubend. Sein Körper scheint keine
Grenzen zu kennen. Er schwingt auf der Schaukel hin und her, verwickelt sich
in den Netzen, wirft sich auf den Boden, läuft, springt, hüpft. Gestik und
Mimik bleiben dabei nicht nebensächlich. Die verspielten Worte wirken witzig
und erheiternd. Und doch steckt mehr dahinter, vielfach sind subtile
politische Assoziationen erkennbar. Und wenn am Schluss zwei nackte Männer
(Ivan Bellavista ist Rezzas Assistent) um den Kinderspielplatz herumlaufen,
und ihre intimsten Körperteile mit den Händen zudecken, kennt die
Begeisterung des Publikums keine Grenzen.
Gespenster im
Lego-Neubau
Mit
Spannung erwartet worden war die Premiere von Henrik Ibsens Gespenster
in der Inszenierung von Leonardo Lidi. Themen wie "die Familie, das Fehlen
einer Hauptfigur oder die Abwesenheit als Protagonistin" sind für den
Gewinner des (2017 den italienischen Nachwuchsregisseuren unter 30 Jahren gewidmeten)
Biennale College von großem Interesse. Lidi betrachtet das Drama des
bekannten norwegischen Autors als ein Lego, das er auseinandernimmt und
seinem eigenen Wunsch entsprechend wiederaufbaut. Dadurch reduziert er die
Personenanzahl auf vier und zwingt die Schauspieler, in mehrere Rollen
hineinzuschlüpfen. Und das tun sie hervorragend. Statt eines Holzfußes trägt
Jakob Engstrand, Reginas Vater, eine Taucherflosse. Er interpretiert auch
den Pastor Manders. Frau Alving wird von einem Mann gespielt, der ebenfalls
den verstorbenen Herrn Alving sowie seine Geliebte Johanna verkörpert. In
Lidis Vision ist Oswald, Frau Alvings Sohn, geistig behindert.
Auf einer einfachen Bank
dem Publikum gegenübersitzend, erfolgt die Narration des Dramas. Düster und
bedrückend wirkt die Atmosphäre, vor allem durch die dunkelgraue Farbe, die
das Bühnenbild dominiert. Wasser spielt eine sehr wichtige Rolle. Ein
kräftiger Regen bedeckt die Bühne und die Schauspieler. Die Szene wirkt
gruselig, umso mehr, da alte Gespenster zum Vorschein kommen. In einem mit
Wasser gefüllten kleinen Becken bringt Frau Alving Regina um. Danach nimmt
sie sich das Leben. Der einzige Überlebende dieses Ibsen-Dramas "Marke Lidi"
ist der plötzlich geheilte Oswald. Er steht auf und schreitet mit geradem
Körper zur Rampe hin, schaut den Zuschauern lange in die Augen. Das
unerwartete Ende wirkt überraschend und regt zum Nachdenken an.
Schon
seit mehreren Jahren ist das College zum fixen Bestandteil der
Theaterbiennale geworden. Ziel ist es, "den Theaterschaffenden in Italien
eine Stimme zu geben und –
unter Berücksichtigung der
bestehenden Schwierigkeiten und der Kluft zwischen den Generationen
–
mehr Sichtbarkeit zu
schaffen". Der Kuss. Das war das Thema des diesjährigen Biennale College.
Der Kuss als eine der "intensivsten und geheimnisvollsten natürlichen
Gesten", gleichzeitig aber auch als "Performance-Darbietung, die durch
ständige Erneuerung einzigartig und unwiederholbar wird". Umso spannender
kündigt sich die Inszenierung des College-Gewinners bei der nächsten Auflage
des Festivals an.