Abgeschlossen werden die 14 stufenförmigen Sitzreihen von
einem Säulengang mit Balustraden. Der gemalte Himmel über dem Raum spielt
auf das klassische Theater unter freiem Himmel an. Die monumentale
Bühnenwand gibt durch drei Portale den Blick auf eine Kulissenstadt – ein
idealisiertes Theben – frei. Um die Illusion von Tiefe zu verstärken, steigt
der Bühnenboden an und die Häuser sind perspektivisch verkleinert. Kein
Wunder, dass diese Kulisse für alle Vorstellungen als Bühnenbild verwendet
wird.
Orestie. Eine körperbetonte Inszenierung über blutige
Zeiten
"Chor
ist die Stadt in ihrer Fröhlichkeit und Chor ist auch die Masse in ihrer
Gewalt; Chor kann vom Krieg bis zum Engelsgesang reichen", sagt Ermanna
Montanari, die zusammen mit Marco Martinelli die künstlerische Leitung der
Festspiele 2024 übernahm. So ist es nicht verwunderlich, dass die beiden
Regisseur Theodoros Terzopoulos, einen Meister der Inszenierung des
klassischen tragischen Repertoires, nach Vicenza einluden. Nach der
Weltpremiere der Orestie beim Epidaurus-Festival im Sommer 2024
adaptierte Terzopoulos sein Werk für den kleineren Raum des Teatro Olimpico.
Dabei zeichnete er sowohl für Dramatik, Bühnenbild, Kostüm- und Lichtdesign
verantwortlich. Terzopoulos kehrt in seiner Interpretation der
Aischylos-Trilogie (Agamemnon, Choephoren und Eumeniden) zur ursprünglichen
Funktion des griechischen Theaters zurück und hinterfragt Möglichkeiten zur
Veränderung der Gesellschaft. Im Zentrum seiner Arbeit steht ein Chor,
bestehend aus zwanzig talentierten jungen Schauspielern, die mit
mathematischer Genauigkeit agieren und einen zusammenhängenden Körper
bilden.
Von Anfang an betont Terzopoulos das Böse, das einer rachsüchtigen
Gemeinschaft innewohnt: Messerklingen leuchten in dem ins Halbdunkel getauchten
Bühnenbild auf; blutbefleckte Laken liegen im Kreis auf dem Boden. Es sind
stumme Zeugen der Gewalt. Höchst beeindruckend und stimmig wird die Blutgier
mit rhythmischer Synchronisation und flexibler Choreografie dargestellt. Mit
dem Auftritt von Athene im goldenen Anzug wird die ideologische Absicht von
Theodoros Terzopoulos verdeutlicht. "Willkommen in der Neuen Welt", dröhnt
es aus den Lautsprechern. Ohrenbetäubende Geräusche, die an Börsenhektik und
Kampfhubschrauber erinnern, begleiten die Aussagen der berühmten Göttin der
Weisheit, des Krieges und der Zivilisation. Das sind die einzigen
Aktualisierungen der antiken Tragödie. Athene enthüllt den Kern von
Terzopoulos' in griechischer Sprache mit italienischen Übertiteln
versehener dreieinhalbstündiger Aufführung (ohne Pause!): Die alten Rachegötter
brachten den Tod, aber ist die moderne Zivilisation nicht genauso
blutrünstig? Die Analogien zur heutigen weltweiten Krise der Demokratie liegen
auf der Hand.
Lied des Ödipus. Eine Variante in "grecanico" mit
italienischen Übertiteln
Sieben
Tage später fand im selben einzigartigen Raum die Uraufführung von
Tragùdia, dem neuen künstlerischen Projekt von Alessandro Serra, statt.
Der italienische Regisseur geht von Artauds Rückkehr zu den primitiven
Mythen aus und fragt, wie das kollektive Wissen heute rekonstruiert werden
kann, vor allem in welcher Sprache, die nicht konzeptionell, sondern
musikalisch, instinktiv und sinnlich sein soll. Zu diesem Zweck verzichtet
Serra – der auch für Bühnenbild, Kostüme, Licht- und Tondesign
verantwortlich zeichnet – auf Italienisch und entscheidet sich für einen
antiken griechisch-kalabrischen Dialekt, der auch als "grecanico" bekannt
ist.
Indem der Künstler an Sophokles' Werke König Ödipus und
Ödipus auf Kolonos anknüpft, verfolgt er in seinem Lied des Ödipus
die Reise des Helden von dessen Kindheit über die Entdeckung seiner Sünden
bis hin zu seiner Blindheit, dem Abstieg in den Hades und schließlich der
Wiedervereinigung mit den Göttern und seinem Verschwinden im Wald der
Eumeniden. Serras originelle Kreation ist überlagert mit Symbolen und
visuellen Anregungen. Vor allem stechen die Stimmen und Körpereinsätze des
Chors hervor, der aus sieben Schauspielern besteht. "Ein akustischer Raum,
der in einer kollektiven Emotion mitschwingt; eine Energie, die außerhalb
der Zeit existiert", erläutert der Künstler sein Ziel im Programmheft. Auch
in dieser Inszenierung vibriert die antike Welt im "natürlichen Bühnenbild"
des Teatro Olimpico, insbesondere wenn sich die Körperhaltungen der Künstler
mit den beleuchteten lebensgroßen Statuen aus Palladios monumentaler Fassade
zu identifizieren scheinen. Serras visionäres Werk begeistert mit
stimmlichen und erzählerischen Mitteln, die Mythos und Menschlichkeit ans
Licht bringen. Besonders beeindruckend ist das letzte Bild, als der blinde
Ödipus, eingehüllt in ein himmlisches Licht der Erlösung und Liebe, durch
die Kulisse des Teatro Olimpico schreitet.
"Der Chor war der aufschlussreiche Spiegel der sich aus
Tausenden von Bürgern zusammengesetzten Gemeinschaft, die im Athen des 5.
Jahrhunderts nicht nur bloße Zuschauer waren, sondern auch als Schöpfer an
der Seite der Künstler fungierten", sagen die beiden Festivalleiter
Montanari und Martinelli, zugleich Gründer des Teatro delle Albe in Ravenna.
Bekannt für ihre "öffentlich zugänglichen Aufrufe" der letzten Jahre, durch
die sie Tausende von Menschen aus der Gegend von Ravenna begeisterten, um
Dante Alighieris Göttliche Komödie zum Leben zu erwecken, riefen
Montanari und Martinelli auch in Vicenza die Bürger auf, sich an einer neuen
Arbeit zu beteiligen. So hatte ich während meines Aufenthaltes das
Vergnügen, zusammen mit 50 anderen Einwohnern unterschiedlichen Alters und
verschiedener Ethnien an einem Workshop unter der Leitung der beiden
Künstler teilzunehmen. Fegefeuer der Dichter hieß die "Choraktion",
die Teile der "Göttlichen Komödie" mit poetischen Fragmenten von Emily
Dickinson, Wladimir Majakowski, Walt Whitman verband.
Das
Festival, das auch in der Palladio-Basilika, dem Astra-Theater und der
Bertolianischen Bibliothek in Vicenza stattfand, umfasste unter anderem noch
einen Prolog Duet Behavior von John Hollenbeck und Meredith Monk –
der weltweit einflussreichsten und bedeutendsten Künstler der
Gegenwart –,
sowie die Produktion Pluto der goldene Gott, erarbeitet von
Marco Martinelli mit Teenagern aus mehreren italienischen Ortschaften, unter
anderem aus Pompeji und Vicenza, und schließlich Hugo von Hofmannsthals Elektra
in der Regie von Serena Sinigaglia. Man darf auf die Festivalauflage 2025
unter der künstlerischen Leitung von Ermanna Montanari und Marco Martinelli
gespannt sein.