Im
Jahr 2017 gastierte Vidu im Schauspielhaus Wien mit "Tagebuch Rumänien.
Sfântu Gheorghe" und "Tagebuch Rumänien. Constanţa". Zwei Jahre später war
sie im Theaterhaus Jena mit "Tagebuch Rumänien. Temeswar" zu Gast. Im
November 2020 gewann sie bei den Internationalen Filmfestspielen Karlsruhe
Independent Days den Female Award (gestiftet von der Stadt Karlsruhe) für
den Kurzfilm "My Romanian Diary".
Ausschlaggebend für dieses
umfangreiche dokumentarische Projekt, das unter dem Übertitel "Tagebuch
Rumänien" entstand, war ein verheerendes Feuer 2015, bei dem in einem Klub
in Bukarest 64 Menschen ums Leben kamen. Die Unfähigkeit des Staates,
Korruption zu bekämpfen und seine Bürger zu schützen, regte Vidu dazu an,
sich vom herkömmlichen Theater abzuwenden und sich gesellschaftspolitisch zu
engagieren.
Waren die ersten drei
Theaterproduktionen ebensovielen rumänischen Städten gewidmet, fasst Vidu in
"Tagebuch Rumänien. 1989" den Umsturz des Kommunismus in ihrem Lande ins
Auge. Die rumänische Revolution dauerte nur eine Woche; in den Wirren
starben aber über 1000 Menschen. Am 25. Dezember 1989 wurde Diktator Nicolae
Ceauşescu exekutiert. Bis zum heutigen Tag werden die Umstände des
politischen Wechsels in Rumänien kontrovers diskutiert. "Tagebuch
Rumänien. 1989 ist meine Art zu zeigen, dass man selbst die Geschichte
mitgestaltet, dass die eigene Einstellung wichtig ist", sagt Vidu im gut
gestalteten Programmheft. Diese Auffassung entstand aus der Überzeugung der
Künstlerin, dass "das Theater Gefahr läuft, für die Gemeinschaft irrelevant
zu werden" und dass "Selbstgefälligkeit zu unserer Isolation führt, denn wir
hören nur auf Meinungen, die unsere eigenen bestätigen."
Für
alle Tagebücher zeichnet Carmen Lidia Vidu für Text und Regie
verantwortlich. Der Ablauf ist immer derselbe: Die Regisseurin spricht
während des Entstehungsprozesses mit den Schauspielern sowohl über
deren Privatleben als auch über ihre Mitgestaltung und Mitwirkung am
Stadtleben beziehungsweise an der Revolution. Danach wird das Material
gesichtet und die Einzelauftritte der jeweiligen Ensemblemitglieder zu einem
stimmigen Ganzen zusammengefügt. Ion Caramitru, Oana Pellea, Florentina
Țilea und Daniel Badale sind die vier Protagonisten von
"Tagebuch Rumänien.
1989". Sie verkörpern keine Charaktere, sie enthüllen einen Teil ihrer
eigenen Biografie und schildern vor allem, wie sie die turbulenten
Ereignisse von 1989 erlebt haben. Die vier Perspektiven könnten nicht
unterschiedlicher sein. Ion Caramitru, derzeit Direktor des Nationaltheaters
Bukarest, war zur Zeit der Revolution 47 Jahre alt und zählte zu den
bekanntesten Schauspielern Rumäniens. "Brüder, wir haben gewonnen!", rief er 1989
voller Begeisterung in der Live-Ausstrahlung des rumänischen Fernsehsenders
TVR. Heute verurteilt Caramitru vehement die "gescheiterte" Revolution. Die
seinerzeit 26-jährige Oana Pellea folgte im Dezember 1989 dem Aufruf zur
Verteidigung des Fernsehsenders, ein Ort, um den harte Kämpfe ausgefochten
wurden. Sie wurde irrtümlicherweise für die Frau eines Terroristen gehalten.
"Nichts im Leben ist umsonst, nur der Tod", sagt die Schauspielerin. Worte,
die mit Sicherheit vielen Zuschauern nahegehen.
Florentina
Țilea war 1989
erst zwölf Jahre alt. Sie gehört zur Generation, "die mit Angst
erzogen wurde".
Țilea war Teil der auserwählten Kinder,
welche patriotische
Gedichte während Ceauşescus Stadtbesuchen in Iaşi vortragen sollten. Als
seine Rezitatorin genoss sie Privilegien wie
Cola-Getränke, Bananen und Auslandsreisen in die DDR. Ceauşescus Erschießung
erfüllte sie mit Trauer. Sie vergoss sogar einige Tränen. Ein Sonderfall ist
auch Daniel Badale. Vor 30 Jahren leistete er den Militärdienst und hätte
somit seinen Befehlen entsprechend auf die rebellierende Zivilbevölkerung schießen müssen
– wozu es glücklicherweise nicht kam. Er erinnert sich, dass sein
gepanzertes Kampffahrzeug zur Zeit der Revolution am Universitätsplatz im
Zentrum Bukarests positioniert war und vor ihm sich unter anderem Ion
Caramitru befand.
Es sind völlig
verschiedene Eindrücke von Menschen aus unterschiedlichen Generationen, die
Vidus Inszenierung präsentiert. Die vier einzigartigen Monologe werden durch
drei Videoeinspielungen ergänzt. Diese enthalten Interviews mit Dan Voinea
(ehemaliger Staatsanwalt, der die "Revolutionsakte" untersuchte), Germina
Nagâț (Mitglied des Nationalen Kollegiums für das Studium des
Sicherheitsarchivs) und mit dem bekannten britischen Historiker Dennis
Deletant (ein Experte für den rumänischen Kommunismus). Ihre kurzen
Interventionen liefern wichtige Informationen und werden als
Verbindungselemente zwischen den vier Liveauftritten der Schauspieler
eingesetzt. All diese Erzählungen ergeben ein anschauliches Bild jener Zeit.
Und doch leben Carmen Lidia
Vidus Inszenierungen sowohl von den unterschiedlichen
Bühnenpersönlichkeiten als auch von der Umrahmung, in die ihre jeweiligen
Geschichten eingebettet werden. Gut ausgesuchte Fotos aus dem Leben der
Darsteller und ihrer Familien, pfiffige Videosequenzen greifen
ineinander und erzeugen ein Gesamtbild, das besonders spannend wirkt. Im Falle von
"Tagebuch Rumänien. 1989" spielt der
Multimedia-Teil eine besondere Rolle. Aufgrund der Pandemie musste die für
das Frühjahr ursprünglich geplante Premiere verschoben werden. Die neuen
restriktiven Maßnahmen führten dazu, dass sie im Freien auf der
spektakulären Dachterrasse des Theaters gezeigt wurde. Anstatt der über 300
Sitzmöglichkeiten konnten in der Amphitheater-Halle im siebenten Stockwerk
nur 60 zur Verfügung gestellt werden.
Groß war das Staunen, als die
Zuschauer von Vidus Projektionen von den Bildern, welche die dramatischen
Ereignisse der Revolution, aber auch aus dem Leben der Schauspieler
zeigen, gewissermaßen "überrollt" wurden: Die Regisseurin nutzte zu
diesem Zweck die riesige
Fläche der zur Verfügung stehenden Leinwand von 33 Metern Länge und 21
Metern Höhe, die auf dem Dach des Gebäudes thront. Die Projektionen blieben
auch von Passanten am Universitätsplatz nicht unbemerkt. Dass der
Universitätsplatz als Kilometer null der Revolution bezeichnet wird, weil
dort die meisten Menschen 1989 starben, gilt ebenfalls als emblematisch. Es
sei hier noch erwähnt, dass Cristina Baciu den Multimedia-Ansatz leitet,
Ovidiu Zimcea für die Musik und Gabriela Schinderman für den Comicstreifen,
der die chronologische Abfolge der Ereignisse wiedergibt, verantwortlich
zeichnen. Sie alle tragen zum Erfolg der Inszenierung bei.
Vidus dokumentarische
Multimedia-Theaterproduktion – so der Untertitel von "Tagebuch Rumänien.
1989" –, ist rührend und unterhaltsam zugleich. Dieser wichtige Beitrag über
den bewegten Abschnitt der rumänischen Geschichte spricht sowohl die ältere
Generation an, die den Kommunismus erlebt hat, als auch die Jüngeren, denen
Ceauşescus Diktatur und die Ereignisse vom Dezember 1989 unbekannt sind,
an. Kaum ein Werk der rumänischen Theaterszene hat in den letzten Jahren so
viel öffentliches Interesse geweckt – ein deutliches Zeichen dafür, wie
außergewöhnlich und zugleich notwendig dieses Projekt ist.