Irina Wolf:
Sie haben 2003 Ihr Regiestudium bei der Nationalen Universität für
Theater- und Filmkunst in Bukarest (UNATC) abgeschlossen. Multimedia spielt
eine wichtige Rolle in Ihren Arbeiten. Wie entstand dieser Wunsch nach
multimedialem Theater?
Vidu:
Ich bin 1980 in Arad, der westlichsten Stadt Rumäniens, geboren. Nach
der Revolution 1989 begann ich nach Deutschland, Ungarn und Griechenland
zu reisen. Die Bilder und die Musik des Westens haben mich angelockt.
Bis heute bewahre ich eine CD mit dem Klang von Berlin auf, die ich am
Alexanderplatz erworben habe. Ich bin mit italienischen Fernsehsendungen
und MTV aufgewachsen. Ich träumte davon, in der Hauptstadt des Landes zu
studieren und Studentin der Regisseurin Cătălina Buzoianu zu sein.
In meiner
künstlerischen Ausbildung gab es keine Grenzen zwischen den Künsten. Im
Alter von acht Jahren habe ich gelernt zu fotografieren und Bilder zu
entwickeln. Mit neun Jahren wurde mir mein erstes Aufnahmegerät
geschenkt, mit vierzehn fing ich an, die Videokamera zu benutzen. In der
Schule hatte ich eine fast poetische Liebe zur Mathematik. Die Geometrie
hat mir sehr gut gefallen; mit ihr konnte ich "im Raum sehen". All dies
habe ich in meine Produktionen eingebracht: Fotografie, Film,
Live-Musik, Video, zeitgenössischer Tanz, amerikanische Texte,
Reality-Shows, Mathematik, meine Biografie.
2003 habe ich meine
erste Inszenierung im ACT-Theater in Bukarest gemacht. Die
Theaterkritikerin Cristina Rusiecki schrieb eine Rezension über Fool
for Love. Aus ihrem Artikel erfuhr ich, dass ich multimediales
Theater mache. Ich war jung, ich untersuchte meine Gefühle, meine
Gedanken. Durch den Videoprojektor betrat ich ein großes Universum, das
aber auch sehr intim war. Die Videoprojektion war und ist meine
persönliche Handschrift in der Theaterszene. Multimedia ist ein aktiver
Charakter in meinen Produktionen. Es ist mein Teil der Poesie, die
Realität in Hyperrealität verwandelt. Dazu kommen der Ton, die
Geräusche. Multimedia ist ein Werkzeug, Menschen zu erkunden.
Irina Wolf:
Sie sind eine der wenigen rumänischen Regisseurinnen, die sich auch mit
Film und Animation beschäftigt. Sie haben unzählige Kurzfilme gedreht. Wie
wählen Sie Ihre Themen aus?
Vidu:
Ich betrachte die Realität unter der Lupe, das heißt, ich widme mich den
Details. Ich mag das Experiment, die Forschung. Für mich gehen sie Hand
in Hand. Ich folge nicht einer Inspiration des Augenblicks. Meine Vision
baut sich erst nach einer intensiven Recherche auf.
Ich habe immer
versucht, in der Realität zu bleiben und eine persönliche Beziehung zum
Leben zu haben. Seit 2006 arbeite ich mit dem Internationalen
Dokumentarfilmfestival Astra in Sibiu zusammen. Es ist eine ganz andere
Welt als die des Theaters. Im rumänischen Theater gibt es keinen
internationalen Dialog und keine Forschung. Das Astra Film Festival war
für mich eine Schule. Ich war verantwortlich für Preisverleihung, Spots,
Making-Ofs. Ich habe gelernt, Dokumentationen und Animationen zu machen,
vor allem aber den Anderen zu erforschen. So habe ich mich seit 2016 dem
Dokumentartheater zugewandt. Mit Hilfe des Film- und Dokumentartheaters
versuche ich, mit Rumänien und meiner Biografie Frieden zu schließen.
Irina Wolf:
Wie sehen Sie das rumänische Theater im Jahr 2019? Was sind die
positiven Aspekte? Welche Änderungen halten Sie für notwendig?
Vidu:
Ich war immer eine Außenseiterin sowohl im Theater als auch im Film. Aus
meiner Position als freischaffende Künstlerin beobachte ich, dass
Rumänien seit Jahren versagt hat, eine europäische Stimme zu werden. Es
gibt eine chronische Isolation und ich kann sie mir nicht erklären. Dann
gibt es ein Monopol der Männerstimmen. In den dreißig Jahren seit der
Revolution wurden höchstens eine oder zwei Regisseurinnen für die
wichtigsten rumänischen Preise nominiert: bester Regisseur und beste
Produktion. Es sind immer dieselben ästhetischen Diskurse, dieselben
Männer. Dieses Monopol ist eine Krankheit.
Das Gute daran ist,
dass die Regisseurinnen zunehmend im Ausland präsent sind. Neunzig
Prozent der im Ausland gezeigten Produktionen stammen von Frauen. Die
unabhängige Theaterszene ist zu einer Kraft geworden. Sie allein schafft
es, Rumänien mit der europäischen Kultur in Einklang zu bringen.
Irina Wolf:
Seit 2017 sind Sie Multimedia-Regisseurin für das Festival George
Enescu. Was bedeutet das? Wie verbindet sich diese Tätigkeit mit dem
Theaterbereich?
Vidu:
Das Musikfestival George Enescu bedeutet reichhaltige visuelle Inhalte,
dramatische Erzählungen und ein neues Publikum. 2017 sollte ich das
Bühnenbild und die Kostüme ersetzen und dem Publikum helfen, durch den
narrativen Faden der Werke zu reisen. Es waren etwa 6 Stunden Film für zwei
Werke. Daran habe ich ein halbes Jahr gearbeitet. Ich habe über Enescu, die
griechische Welt und Luthers Reform gelesen. Ich bin nach Rom geflogen, um
den Dirigenten Vladimir Jurowski zu treffen und mit ihm über die visuelle
Interpretation der Figuren in Enescus Oedipe zu sprechen. Dann
entdeckte ich durch den Regisseur Lawrence Foster die historischen
Ähnlichkeiten in der Oper Mathis der Maler. Meine persönliche Reise
war sensationell. Mein Glück ist, dass ich ständig zwischen bildender Kunst,
Theater-, Film-, Oper- und Werbeveranstaltungen wechsle.
Irina Wolf:
Ebenfalls 2017 starteten Sie das dokumentarische Theaterprojekt "Tagebuch
Rumänien". Die drei bisherigen Produktionen in Sfântu Gheorghe, Constanța
und Timişoara
fanden nationale und internationale Resonanz. Wie ist dieses Projekt
entstanden?
Vidu:
Ich habe beschlossen, Theater zu machen, weil ich dadurch mit der Welt
kommuniziere. Ich mache Interviews, schreibe Drehbücher, bringe
Journalismus auf die Bühne und lerne eine neue Sprache
–
die der
Dokumentation. Für Tagebuch Rumänien habe ich einen Teil der
Schwaben und Sachsen kennengelernt. Rumänien ist ein armes Land. Die
Stadt ist keine Gemeinschaft. Rumänien gehört nicht den Menschen. Es ist
so, als würden sich die Rumänen weigern, in die Gesellschaft zu
investieren. Sie haben andere Probleme. Armut ist das Hauptproblem. Das
geht Hand in Hand mit mangelnder Bildung, Missbrauch, Manipulation und
Hass. Die Rumänen werden von klein auf erzogen, das Land zu verlassen,
um besser leben zu können. Und sie verlassen es.
Mit "Tagebuch
Rumänien" habe ich versucht, Fragen zu beantworten. Ich wollte viele
Jahre Regisseurin in Bukarest, in der Hauptstadt, sein. 2016 habe ich
beschlossen wegzugehen. Die Künstler, mit denen ich in Sfântu Gheorghe,
Constanța, Timişoara
zusammengearbeitet habe, waren eine Therapie für mich. In Sfântu
Gheorghe hatte ich die Offenbarung der Kultur. Die Stadt ist so klein
wie ein Dorf. Es gibt eine Spannung zwischen Rumänen und Ungarn, einen
Mangel an Dialog und fehlende Vergangenheitsbewältigung. Doch wenn
die Kultur spricht, verschwindet jeglicher Hass. Es ist fantastisch zu
sehen, wie es zu diesem Dialog kommt. Rumänen machen Video-Mapping auf
Stadtgebäuden, Ungarn tanzen und Roma singen. Ich glaube, dass Rumänien
die Stärke und Funktion der Kultur nicht versteht. Das ist die Bedeutung
von "Tagebuch Rumänien": Der Schauspieler wird zum Vorbild für das
Publikum.
Irina Wolf:
Sie haben jahrelang in der Fernsehbranche gearbeitet. Welche Aktivität
(Theater, Kino, Fernsehen, Regie von multimedialen Produktionen)
interessiert Sie am meisten?
Vidu:
Die Fernsehbranche war die erste, die in mich investierte. Ich erinnere
mich, die wichtigsten Ereignisse für Pro Tv inszeniert zu haben. Wir
koordinierten große Teams von Künstlern, Stars und Technikern. Wir änderten
täglich die Konzepte. Dann ging ich zum Theater, wo der Direktor mir sagte,
dass er mir nur den kleinen Saal gibt, weil er mir nicht vertraut, dass ich
große Menschengruppen führen kann. Es war frustrierend zu wissen, dass ich
Veranstaltungen für Hunderttausende von Euro für das Fernsehen inszenierte
und im Theater ein Budget von nur 7.000 bis 8.000 Euro zur Verfügung hatte. Das
Theater hat mir die Flügel gebrochen. Es sagte mir immer, dass ich eine Frau
bin und dass es nicht notwendig ist, zu viel von meinem Leben zu verlangen.
Mit dem ersten Dokumentarfilm wurde ich mit dem Gopo-Preis ausgezeichnet.
Ich kann also sagen, dass ich mehr Mut aus Fernsehen und Film gewonnen habe,
um im rumänischen Theater zu kämpfen.
Ich möchte in einer
Welt ohne kulturelle Grenzen leben. Es sollte keine Grenze zwischen
Rumänien und dem Rest der Welt geben, zwischen dem Publikum und den
Künstlern, zwischen mir und dem Theater. Mein Wunsch ist es, eine
internationale Künstlerin zu sein, die Rumänien in die europäische
Gegenwart versetzt.
Aus dem Rumänischen von
Irina Wolf
(Auszug aus dem Originaltext in rumänischer Sprache,
Teil des Sammelbandes Teatrul.ro 30-Noi nume/Theatre.ro 30 New Entres)