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"Wenn die Kultur spricht, verschwindet der Hass"

Interview mit Carmen Lidia Vidu.

Von Irina Wolf
(25. 10. 2019)

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Julien Javions
(c) Julien Javions

Carmen Lidia Vidu
office [at] carmenlidiavidu.com

 

Offizielle Homepage
& Biographie:

carmenlidiavidu.com

 


 


 

"Die Videoprojektion war
und ist meine persönliche
Handschrift in der Theater-
szene. Multimedia ist ein
aktiver Charakter in meinen
Produktionen. Es ist mein
Teil der Poesie, die Reali-
tät in Hyperrealität
verwandelt."

 

 

 

 

 

"Im rumänischen Theater
gibt es keinen internatio-
nalen Dialog und keine
Forschung."

 

 

 

 

 

 

"Aus meiner Position als
freischaffende Künstlerin
beobachte ich, dass Rumä-
nien seit Jahren versagt
hat, eine europäische
Stimme zu werden. Es gibt
eine chronische Isolation
und ich kann sie mir
nicht erklären."

 

 

 

 

 

 

"Neunzig Prozent der
im Ausland gezeigten
Produktionen stammen
von Frauen."

 

 

 

 

 

 

"Mein Glück ist, dass ich
ständig zwischen bilden-
der Kunst, Theater-, Film-,
Oper- und Werbeveran-
staltungen wechsle."

 

 

 

 

 

 

"Rumänien ist ein armes
Land. Die Stadt ist keine
Gemeinschaft. Rumänien
gehört nicht den Menschen.
Es ist so, als würden sich
die Rumänen weigern,
in die Gesellschaft zu in-
vestieren. Sie haben
andere Probleme."

 

 

 

 

 

 

"Ich glaube, dass Rumä-
nien die Stärke und
Funktion der Kultur
nicht versteht."

 

 

 

 

 

 

"Das Theater hat mir
die Flügel gebrochen. Es
sagte mir immer, dass ich
eine Frau bin und dass es
nicht notwendig ist, zu viel
von meinem Leben zu
verlangen."

 

 

 

 

 

 

"Mein Wunsch ist es,
eine internationale Künst-
lerin zu sein, die Rumä-
nien in die europäische
Gegenwart versetzt."

 

 

 

 

 

Irina Wolf: Sie haben 2003 Ihr Regiestudium bei der Nationalen Universität für Theater- und Filmkunst in Bukarest (UNATC) abgeschlossen. Multimedia spielt eine wichtige Rolle in Ihren Arbeiten. Wie entstand dieser Wunsch nach multimedialem Theater?

Vidu: Ich bin 1980 in Arad, der westlichsten Stadt Rumäniens, geboren. Nach der Revolution 1989 begann ich nach Deutschland, Ungarn und Griechenland zu reisen. Die Bilder und die Musik des Westens haben mich angelockt. Bis heute bewahre ich eine CD mit dem Klang von Berlin auf, die ich am Alexanderplatz erworben habe. Ich bin mit italienischen Fernsehsendungen und MTV aufgewachsen. Ich träumte davon, in der Hauptstadt des Landes zu studieren und Studentin der Regisseurin Cătălina Buzoianu zu sein.

In meiner künstlerischen Ausbildung gab es keine Grenzen zwischen den Künsten. Im Alter von acht Jahren habe ich gelernt zu fotografieren und Bilder zu entwickeln. Mit neun Jahren wurde mir mein erstes Aufnahmegerät geschenkt, mit vierzehn fing ich an, die Videokamera zu benutzen. In der Schule hatte ich eine fast poetische Liebe zur Mathematik. Die Geometrie hat mir sehr gut gefallen; mit ihr konnte ich "im Raum sehen". All dies habe ich in meine Produktionen eingebracht: Fotografie, Film, Live-Musik, Video, zeitgenössischer Tanz, amerikanische Texte, Reality-Shows, Mathematik, meine Biografie.

2003 habe ich meine erste Inszenierung im ACT-Theater in Bukarest gemacht. Die Theaterkritikerin Cristina Rusiecki schrieb eine Rezension über Fool for Love. Aus ihrem Artikel erfuhr ich, dass ich multimediales Theater mache. Ich war jung, ich untersuchte meine Gefühle, meine Gedanken. Durch den Videoprojektor betrat ich ein großes Universum, das aber auch sehr intim war. Die Videoprojektion war und ist meine persönliche Handschrift in der Theaterszene. Multimedia ist ein aktiver Charakter in meinen Produktionen. Es ist mein Teil der Poesie, die Realität in Hyperrealität verwandelt. Dazu kommen der Ton, die Geräusche. Multimedia ist ein Werkzeug, Menschen zu erkunden.

Irina Wolf: Sie sind eine der wenigen rumänischen Regisseurinnen, die sich auch mit Film und Animation beschäftigt. Sie haben unzählige Kurzfilme gedreht. Wie wählen Sie Ihre Themen aus?

Vidu: Ich betrachte die Realität unter der Lupe, das heißt, ich widme mich den Details. Ich mag das Experiment, die Forschung. Für mich gehen sie Hand in Hand. Ich folge nicht einer Inspiration des Augenblicks. Meine Vision baut sich erst nach einer intensiven Recherche auf.

Ich habe immer versucht, in der Realität zu bleiben und eine persönliche Beziehung zum Leben zu haben. Seit 2006 arbeite ich mit dem Internationalen Dokumentarfilmfestival Astra in Sibiu zusammen. Es ist eine ganz andere Welt als die des Theaters. Im rumänischen Theater gibt es keinen internationalen Dialog und keine Forschung. Das Astra Film Festival war für mich eine Schule. Ich war verantwortlich für Preisverleihung, Spots, Making-Ofs. Ich habe gelernt, Dokumentationen und Animationen zu machen, vor allem aber den Anderen zu erforschen. So habe ich mich seit 2016 dem Dokumentartheater zugewandt. Mit Hilfe des Film- und Dokumentartheaters versuche ich, mit Rumänien und meiner Biografie Frieden zu schließen.

Irina Wolf: Wie sehen Sie das rumänische Theater im Jahr 2019? Was sind die positiven Aspekte? Welche Änderungen halten Sie für notwendig?

Vidu: Ich war immer eine Außenseiterin sowohl im Theater als auch im Film. Aus meiner Position als freischaffende Künstlerin beobachte ich, dass Rumänien seit Jahren versagt hat, eine europäische Stimme zu werden. Es gibt eine chronische Isolation und ich kann sie mir nicht erklären. Dann gibt es ein Monopol der Männerstimmen. In den dreißig Jahren seit der Revolution wurden höchstens eine oder zwei Regisseurinnen für die wichtigsten rumänischen Preise nominiert: bester Regisseur und beste Produktion. Es sind immer dieselben ästhetischen Diskurse, dieselben Männer. Dieses Monopol ist eine Krankheit.

Das Gute daran ist, dass die Regisseurinnen zunehmend im Ausland präsent sind. Neunzig Prozent der im Ausland gezeigten Produktionen stammen von Frauen. Die unabhängige Theaterszene ist zu einer Kraft geworden. Sie allein schafft es, Rumänien mit der europäischen Kultur in Einklang zu bringen.

Irina Wolf: Seit 2017 sind Sie Multimedia-Regisseurin für das Festival George Enescu. Was bedeutet das? Wie verbindet sich diese Tätigkeit mit dem Theaterbereich?

Vidu: Das Musikfestival George Enescu bedeutet reichhaltige visuelle Inhalte, dramatische Erzählungen und ein neues Publikum. 2017 sollte ich das Bühnenbild und die Kostüme ersetzen und dem Publikum helfen, durch den narrativen Faden der Werke zu reisen. Es waren etwa 6 Stunden Film für zwei Werke. Daran habe ich ein halbes Jahr gearbeitet. Ich habe über Enescu, die griechische Welt und Luthers Reform gelesen. Ich bin nach Rom geflogen, um den Dirigenten Vladimir Jurowski zu treffen und mit ihm über die visuelle Interpretation der Figuren in Enescus Oedipe zu sprechen. Dann entdeckte ich durch den Regisseur Lawrence Foster die historischen Ähnlichkeiten in der Oper Mathis der Maler. Meine persönliche Reise war sensationell. Mein Glück ist, dass ich ständig zwischen bildender Kunst, Theater-, Film-, Oper- und Werbeveranstaltungen wechsle.

Irina Wolf: Ebenfalls 2017 starteten Sie das dokumentarische Theaterprojekt "Tagebuch Rumänien". Die drei bisherigen Produktionen in Sfântu Gheorghe, Constanța und Timişoara fanden nationale und internationale Resonanz. Wie ist dieses Projekt entstanden?

Vidu: Ich habe beschlossen, Theater zu machen, weil ich dadurch mit der Welt kommuniziere. Ich mache Interviews, schreibe Drehbücher, bringe Journalismus auf die Bühne und lerne eine neue Sprache die der Dokumentation. Für Tagebuch Rumänien habe ich einen Teil der Schwaben und Sachsen kennengelernt. Rumänien ist ein armes Land. Die Stadt ist keine Gemeinschaft. Rumänien gehört nicht den Menschen. Es ist so, als würden sich die Rumänen weigern, in die Gesellschaft zu investieren. Sie haben andere Probleme. Armut ist das Hauptproblem. Das geht Hand in Hand mit mangelnder Bildung, Missbrauch, Manipulation und Hass. Die Rumänen werden von klein auf erzogen, das Land zu verlassen, um besser leben zu können. Und sie verlassen es.

Mit "Tagebuch Rumänien" habe ich versucht, Fragen zu beantworten. Ich wollte viele Jahre Regisseurin in Bukarest, in der Hauptstadt, sein. 2016 habe ich beschlossen wegzugehen. Die Künstler, mit denen ich in Sfântu Gheorghe, Constanța, Timişoara zusammengearbeitet habe, waren eine Therapie für mich. In Sfântu Gheorghe hatte ich die Offenbarung der Kultur. Die Stadt ist so klein wie ein Dorf. Es gibt eine Spannung zwischen Rumänen und Ungarn, einen Mangel an Dialog und fehlende Vergangenheitsbewältigung. Doch wenn die Kultur spricht, verschwindet jeglicher Hass. Es ist fantastisch zu sehen, wie es zu diesem Dialog kommt. Rumänen machen Video-Mapping auf Stadtgebäuden, Ungarn tanzen und Roma singen. Ich glaube, dass Rumänien die Stärke und Funktion der Kultur nicht versteht. Das ist die Bedeutung von "Tagebuch Rumänien": Der Schauspieler wird zum Vorbild für das Publikum.

Irina Wolf: Sie haben jahrelang in der Fernsehbranche gearbeitet. Welche Aktivität (Theater, Kino, Fernsehen, Regie von multimedialen Produktionen) interessiert Sie am meisten?

Vidu: Die Fernsehbranche war die erste, die in mich investierte. Ich erinnere mich, die wichtigsten Ereignisse für Pro Tv inszeniert zu haben. Wir koordinierten große Teams von Künstlern, Stars und Technikern. Wir änderten täglich die Konzepte. Dann ging ich zum Theater, wo der Direktor mir sagte, dass er mir nur den kleinen Saal gibt, weil er mir nicht vertraut, dass ich große Menschengruppen führen kann. Es war frustrierend zu wissen, dass ich Veranstaltungen für Hunderttausende von Euro für das Fernsehen inszenierte und im Theater ein Budget von nur 7.000 bis 8.000 Euro zur Verfügung hatte. Das Theater hat mir die Flügel gebrochen. Es sagte mir immer, dass ich eine Frau bin und dass es nicht notwendig ist, zu viel von meinem Leben zu verlangen. Mit dem ersten Dokumentarfilm wurde ich mit dem Gopo-Preis ausgezeichnet. Ich kann also sagen, dass ich mehr Mut aus Fernsehen und Film gewonnen habe, um im rumänischen Theater zu kämpfen.

Ich möchte in einer Welt ohne kulturelle Grenzen leben. Es sollte keine Grenze zwischen Rumänien und dem Rest der Welt geben, zwischen dem Publikum und den Künstlern, zwischen mir und dem Theater. Mein Wunsch ist es, eine internationale Künstlerin zu sein, die Rumänien in die europäische Gegenwart versetzt.

 

Aus dem Rumänischen von Irina Wolf

(Auszug aus dem Originaltext in rumänischer Sprache,
Teil des Sammelbandes Teatrul.ro 30-Noi nume/Theatre.ro 30 New Entres)
 

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