Ausgehend
von Yann Verburghs einfallsreicher Neufassung von Arthur Schnitzlers
Reigen präsentiert Regisseur Eugen Jebeleanu in La Ronde ein
Labor der Emotionen, das Paarbeziehungen in der gegenwärtigen Gesellschaft
neu überdenkt. Sex wird unter anderem als Machtverhältnis untersucht. So zum
Beispiel in der Szene mit einer offenbar linken Politikerin, die an ein
Kreuz mit der Aufschrift "Gott ist eine Frau" genagelt ist und durch ihre
als Nonne verkleidete sadistische Partnerin verbal angegriffen wird. Das
gesamte Ensemble des "Andrei Mureşanu"-Theaters in Sfântu Gheorghe leistet
beeindruckende Arbeit, bietet eine intensive, mit vollem Einsatz geführte
Vorstellung. Manchmal setzen sich Schauspieler an die Tische und schenken
uns Bier zur Verkostung ein. Ob die Paare männlich, weiblich oder divers
sind, Jebeleanu inszeniert die Verkettung von Beziehungen mit viel Gefühl
und zartem Humor.
La Ronde
fügte sich gut in das vom Kuratorenteam für die diesjährige 33. Ausgabe des
Nationaltheaterfestivals vorgeschlagene Konzept. Mit "Laboratories of the
Sensitive" traf das Kuratoren-Trio, bestehend aus Mihaela Michailov, Oana
Cristea Grigorescu und Călin Ciobotari, seine Auswahl im Zeichen aktueller
thematischer Forschung, unkonventioneller künstlerischer Theatersprachen,
neuer Formen der Dramaturgie und der szenischen Aufwertung des Körpers.
Außerdem wurde großer Wert auf die Theaterdynamik auf regionaler Ebene
gelegt sowie auf Kreationen, deren Ästhetik einen ethischen Standpunkt
aufwiesen. Zu den 30 aus den 150 Uraufführungen der vergangenen Saison
ausgewählten rumänischen Produktionen kamen performative und visuelle
Installationen, Lesungen zeitgenössischer Theaterstücke, Aufführungen in
Schulen, Debatten, Konferenzen, Ausstellungen, Buchpräsentationen,
Radiotheatersendungen sowie drei internationale Gastspiele bedeutender
europäischer Produzenten.
Fokus auf
Gesellschaftspolitisches
Eröffnet
wurde das Festival mit Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu
töten des gefeierten portugiesischen Theatermachers Tiago Rodrigues, das
schon 2021 bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde. Rodrigues' politischer
Diskurs, ob Gewalt im Kampf gegen Populismus hilft, löste auch in Bukarest –
wie in den meisten Ländern, in denen die Produktion gespielt wurde – heftige
Reaktionen im Publikum aus, allerdings nur an einem der zwei
Aufführungsabende. Nahezu regungslos saßen die Zuschauer im Saal bei der
Eröffnungsaufführung. Überraschenderweise waren am darauffolgenden Abend
Teile des Publikums beim radikalen Schlussmonolog erzürnt: Zahlreiche
Zuschauer schienen zu vergessen, dass es sich um Theater handelte und fingen
an, laut zu schreien und zu buhen.
Gleichermaßen übte die
Produktion Die jungen Barbaren vom Ungarischen Staatstheater in
Klausenburg scharfe Kritik an der Idee des Nationalismus als
Staatsideologie. Basierend auf dem Text von Miklós Vecsei H. und der
Improvisationsarbeit des Teams erkundete die Aufführung in unglaublich
schnellem Tempo die Freundschaft zwischen den zwei berühmten ungarischen
Komponisten Bartók Béla und Kodály Zoltán. In Attila Vidnyánszkys jr.
Inszenierung verschmelzen Schauspiel, Choreografie und klassische Livemusik
zu einem Gesamtkunstwerk. Den acht Schauspielern und vier Tänzern, die auf
der Bühne von Mitgliedern des Musikensembles begleitet werden, gelingt es,
die Geschichte eindrucksvoll darzustellen.
Mehrere Produktionen
untersuchten gesellschaftspolitische Themen wie Migration, Diskriminierung
von Frauen in patriarchalen Systemen, chauvinistische und antisemitische
Einstellungen. Es war ferner ebenfalls interessant zu beobachten, dass die
diesjährige Ausgabe sich einer zunehmend ausgeprägten Präsenz von
Regisseurinnen erfreute: Alexandra Badea brachte Exil auf die Bühne
des Nationaltheaters Bukarest (siehe
dazu auch den Beitrag: "Sinnstiftung
und Entfremdung der Generationen"),
Nicoleta
Esinencu Die Apokalypse der Hausfrauen am Theater der Jugend in
Piatra Neamţ und Gianina Cărbunariu Magyarosarus Dacus am ungarischen
Szigligeti-Theater in Großwardein (mehr zu dem Stück in: "Überlebensstrategien
in der Sicherheitszone").
Im zweiten internationalen
Gastspiel erzählte Corinne Jaber, eine Künstlerin syrisch-deutscher
Herkunft, die Reise ihres fiktiven Alter Egos durch den Libanon und
Jordanien in den Bürgerkrieg nach Syrien. In ihrer One-Woman-Show Oh My
Sweet Land sorgte das Live-Kochen auf der Bühne für eine unmerkliche
Vermittlung von grundlegenden Begriffen wie Identität und Heimat. Schade
nur, dass wir vom traditionellen syrischen Gericht Kibbeh nicht kosten
durften. Truth's a Dog Must to Kennel hieß das dritte internationale
Gastspiel. Die 70-minütige One-Man-Show von Tim Crouch entpuppte sich als
eine originelle Neuinterpretation von König Lear. Lediglich mit einem
VR-Headset ausgerüstet, auf der leeren Bühne stehend, kommentierte Crouch
Shakespeares berühmtes Stück auf eine spannende Weise und regte unsere
Fantasie an.
Meeresgeschichten und ein Techno-Konzert über Sauerstoff
Eine
große Vielfalt von Theaterformen bot das RNTF, das vom 20. bis 30. Oktober
in Bukarest bei strahlendem Sonnenschein und ungewöhnlich warmen
Temperaturen stattfand. Für volle Säle sorgte wieder einmal der arrivierte
Regisseur Radu Afrim. Gleich zwei seiner Inszenierungen fanden sich im
Programm wieder. Aufgrund der großen Nachfrage wurden zwei weitere
Vorstellungen von Seaside Stories zu der ursprünglich geplanten
hinzugefügt. Die dreistündige Produktion des Staatstheaters aus Constanţa,
die 2023 den UNITER-Preis gewonnen hat, ist eine Abfolge von Geschichten mit
unterschiedlichen Charakteren aus Badeurlauben am Meer. Afrim schafft es,
die anspielungsreichen Collagen, verfasst von sieben verschiedenen Autoren
sowie zwei seiner eigenen Texte, auf wundersame Weise auf der Bühne
zusammenzubringen. Herbarium hieß Radu Afrim's zweite Inszenierung –
ein wunderbar poetisches Bildmaterial über die Art und Weise, wie Charaktere
unterschiedlichen Alters sich eng mit der Natur verbunden fühlen.
Schauspieler Pálffy Tibor
widmete sich der Regie von Iwan Wyrypajews Stück Sauerstoff und
kreierte eine technisch aufwendige Inszenierung mit vielen Ton- und
Videoeinspielungen. Die Produktion des "Támasi Áron"-Theaters aus Sfântu
Gheorghe nutzte einen unkonventionellen Rahmen für den vom
polnisch-russischen Dramatiker 2002 verfassten mystisch-ironischen Text, in
dem jede der zehn Szenen unter einem Motto aus der Bibel steht. Getrennt von
zwei in Kreuzform angebrachten transparenten Wänden agierten die zwei sehr
guten Schauspieler Janka Korodi und Bence Kónya-Ütő – Letzterer zeichnete
auch verantwortlich für das Klanguniversum, das hauptsächlich aus live
gemischter Technomusik besteht. Monologe, Hip-Hop-Szenen, Videoprojektionen
und Filmeinblendungen bildeten ein stimmiges künstlerisches Produkt.
Das
Pädagogik-Paket
Zum
zweiten Mal in Folge bot das Nationaltheaterfestival eine Reihe von Lesungen
von Texten europäischer Dramatiker an. Besonders spannend erwiesen sich die
anschließenden Diskussionsrunden, an denen Autoren, Künstler und Experten
teilnahmen. Dieses vom Regisseur Bobi Pricop koordinierte
Performance-Lesemodul bot die Gelegenheit, Stücke kennenzulernen, die zum
ersten Mal in Rumänien vorgestellt wurden und sich mit brandaktuellen Themen
wie Umwelt- und Datenschutz oder sexueller Belästigung befassen (z.B.
"jenseits von fukuyama" von Thomas Köck). Wurden bei der letztjährigen
Festival-Ausgabe alle szenischen Lesungen von Bobi Pricop geboten, so waren
dieses Jahr die stark gekürzten Texte von insgesamt sechs Regisseuren und
Regisseurinnen am Anfang ihrer Laufbahn in Szene gesetzt.
Das 2022 ins Leben
gerufene Modul "Pädagogisches RNTF", das sich auf zwei Komponenten
konzentriert – Präsentation von Theateraufführungen in Schulen und Gymnasien
in Bukarest sowie Theaterworkshops für Kinder und Jugendliche mit Hör- oder
Seh-Beeinträchtigungen bzw. neurologischen Behinderungen – wurde dieses Jahr
durch "Laborkapseln in rumänischen Theaterfakultäten" erweitert, in denen
etablierte Künstler wie Mariana Mihuţ, Miklós Bács, Răzvan Mazilu, Botond
Nagy, den Studierenden die Möglichkeit gaben, sich neue performative Modelle
anzueignen.
Das RNTF agiert auch als
Produzent. Die mit Spannung erwartete Premiere von Gertrude,
produziert vom Nationaltheater Bukarest und dem RNTF, war ein
durchschlagender Erfolg. Die Neufassung von Hamlets Geschichte durch den
Dramatiker Radu F. Alexandru mit rein männlicher Besetzung markierte die
Rückkehr des beliebten Regisseurs Silviu Purcărete nach Bukarest. Am Schluss
des Festivals noch ein Höhepunkt: die groß angelegte Produktion des
Nationaltheaters "Mihai Eminescu" aus Temeswar in der Regie des berühmten
Litauers Oskaras Koršunovas. Exodus erwies sich als eine
tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Thema Auswanderung, eine
musikalische Show, die Hoffnung in den Vordergrund rückte. "Das Angebot der
diesjährigen Ausgabe des Nationaltheaterfestivals war komplex und
reichhaltig, hat Interesse, Bewunderung oder heiße Kontroversen erweckt. Es
war ein Festspiel der Gegenwart und zugleich zukunftsorientiert!", meinte
abschließend Aura Corbeanu, Vizepräsidentin des Rumänischen Theaterverbandes
UNITER und Geschäftsführerin des RNTF. In einer zunehmend aggressiven und
unberechenbaren Welt bleibt das Nationaltheaterfestival eine intensive und
beachtliche Erfahrung.