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Bukarest: Festivalstadt zwischen Realität und Experiment

"Dramatiken des Möglichen" lautete das heurige Motto der 34. Ausgabe des Nationalen
Theaterfestivals (FNT) in Bukarest. Vom 18. bis 28. Oktober wurden mehr als 30 Produktionen
in einer Vielfalt von stilistischen und ästhetischen Formen vorgestellt. Mit einem besonders
reichhaltigen und abwechslungsreichen Programm lieferten drei Kuratoren – Mihaela Michailov,
Călin Ciobotari und Ionuţ
Sociu – einen guten Überblick über die
dynamische rumänische Theaterszene.

Von Irina Wolf
(13. 12. 2024)

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   In Schwarz gekleidet, mit einer undefinierten Form und vor allem lautstark. Zu ohrenbetäubenden Soundeffekten bewegt sich die Fantasiefigur in der Mitte der Bühne, bis alle Zuschauer auf drei Seiten rundherum Platz nehmen. Doch wer ist diese garstige Erscheinung? So stellt sich Natasza Sołtanowicz die "Anomalie" vor, die den menschlichen Alltag durcheinanderbringen kann. Die polnische Autorin und Regisseurin schafft am Nationaltheater in Craiova, im Südwesten Rumäniens, eine beeindruckende Show über die Reaktionen der Menschen auf unvorhersehbare Ereignisse, die im Leben Betroffenheit auslösen. Gleichfalls bemerkenswert ist die von der Regisseurin gezeichnete dynamische Choreografie: Neun Schauspieler bewegen sich wie Roboter mit unglaublicher Präzision zu düsteren elektronischen Klängen, einem ebenfalls von Sołtanowicz geschaffenen Soundtrack. Gleichermaßen faszinierend sind auch die Kostüme, allen voran die futuristischen Science-Fiction-Masken. Die Anomalie war eine spektakuläre Show, die sich perfekt an das Motto "Dramatiken des Möglichen" der 34. Ausgabe des Nationalen Theaterfestivals (FNT) angepasst hat.

Über 30 Produktionen in einer Vielfalt von stilistischen und ästhetischen Formen wurden vom 18. bis 28. Oktober in Bukarest gezeigt. Mit einem besonders reichhaltigen und abwechslungsreichen Programm lieferten drei Kuratoren – Mihaela Michailov, Călin Ciobotari und Ionuţ Sociu – einen guten Überblick über die dynamische rumänische Theaterszene.

   Eröffnet wurde das Festival mit einer Performance der bekannten deutschen Gruppe She She Pop – eine von fünf aus dem Ausland eingeladenen Produktionen. Dance me! war ein generationsübergreifender Wettbewerb zwischen zwei Teams: den älteren Künstlern von She She Pop und jüngeren Menschen. In einer als Boxring gestalteten Bühne tanzte jeweils eine Mannschaft zur Musik der anderen. Zwischendurch wurden alterstypische Erfahrungen und politische Einstellungen verhandelt. Während die Senioren Live-Songs vortrugen, verwendeten die Jugendlichen fast ausschließlich computergenerierte Beats. In einer der besten Szenen zeigten die älteren Performer einen Paartanz mit Orangen zwischen sich balancierend. Die spielerische generationsübergreifende Erkundung Dance Me! sorgte aufgrund ihrer experimentellen Konvention für kontroverse Reaktionen und bot dem Publikum eine andere Perspektive des Theatermachens.

Neben etablierten Regisseuren wie Andrei Şerban, Tompa Gábor, Radu Afrim befanden sich im Programm eine Reihe jüngerer experimentierfreudiger Künstler wie Catinca Drăgănescu, Eugen Jebeleanu oder Botond Nagy, ein klarer Beweis dafür, wie gut der intergenerationelle Austausch zwischen Jung und Alt im rumänischen Theater funktioniert. Adaptionen von Klassikern wie Shakespeare, Ionesco, Büchner und Ibsen – z. B. Hedda Gabler inszeniert von Thomas Ostermeier am Bukarester Nationaltheater – lockten die Besucher ebenso wie moderne Inszenierungen über brandaktuelle Themen.

Sexualpädagogik und Schwangerschaftsabbruch kritisch hinterfragt

   Eine weitere aus dem Ausland eingeladene Produktion war Geschichten der Großmütter, die den Töchtern von ihren Müttern zugeflüstert werden. In dieser im polnischen Contemporary Theater Szczecin entstandene Performance der Dramatikerin und Regisseurin Gianina Cărbunariu geht es um die strengen Abtreibungsgesetze zum einen im ehemaligen rumänischen Kommunismus, zum anderen im gegenwärtigen katholischen Polen, wo Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen erlaubt ist: Gefahr für Leib und Leben der Mutter, Vergewaltigung oder schwere Missbildung des ungeborenen Kindes. Cărbunarius polyphon aufgebauter Text verknüpft zwei Fälle, einen aus jedem Land. Von Anfang an offenbart die Inszenierung, dass Abtreibungsverbot ein weiterer Aspekt männlicher Dominanz in der Gesellschaft ist. Die fragmentarische Show, mit Live-Aufnahmen in einem einfachen, aber wirkungsvollen Bühnenbild, eröffnet ebenfalls einen Rahmen der Reflexion über das Theater. Die von der Regisseurin geschaffenen Bilder sind emotional aufgeladen und erzählen Geschichten, die tief berühren, ohne dabei die informative Komponente zu vernachlässigen.

Besonders schockierend war die Entdeckung, dass in Rumänien Sexualunterricht in den Lehrplänen schlicht und einfach fehlt. Genau aus diesem Grund erschien mir die Produktion Bujor des Theaters aus Galaţi (eine Stadt an der Donau, etwa 11 km von der Grenze zur Republik Moldau entfernt) in der Regie von Leta Popescu sehr mutig. Doru Vătavuluis Stück wechselt gekonnt zwischen zwei Zeitebenen: einer Debatte zwischen den Eltern von Gymnasiasten und dem Lehrer namens Bujor, und Rückblenden aus dessen eigener Schulerfahrung. Anspielungen auf die Homosexualität des Lehrers, die bestimmten konservativen Standards der rumänischen Gesellschaft nicht entspricht, werden mit viel Humor präsentiert. Eine notwendige, temporeiche Show, mit guten Schauspielern, die ihre Rollen glaubwürdig verkörpern. Hervorragend fand ich die Idee der Kuratorin Mihaela Michailov, nach jeder Aufführung, eine Diskussion mit dem Publikum zu organisieren. Bujor war Teil der Festivalsektion "Pädagogisches FNT", zu der auch Das zerbrechliche Gefühl der Hoffnung gehörte.

Antisemitismus-Bekämpfung auf Deutsch und Ungarisch

   Dass in Rumänien hochwertige ungarisch- und deutschsprachige Theatergruppen existieren, ist im Westen Europas oft unbekannt. Umso wichtiger ist ihre Präsenz im Festivalprogramm, besonders dann, wenn die behandelten Themen von großer Relevanz sind. Sidy Thal (Koproduzenten: Deutsches Staatstheater Temeswar und Jüdisches Staatstheater Bukarest) erzählt die Geschichte eines antisemitischen Angriffs der faschistischen Bewegung "Die Eiserne Garde" am 26. November 1938, als während eines Auftritts der jüdischen Sängerin Sidy Thal zwei Handgranaten explodierten. Vier Menschen starben, weitere siebzig wurden verletzt. Dramatiker Thomas Perle und Regisseur Clemens Bechtel betrachten das Attentat aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Produktion sticht durch Mehrsprachigkeit hervor: Sidy Thal spricht auf Jiddisch, während die anderen Charaktere, manchmal innerhalb desselben Monologs, zwischen Deutsch und Rumänisch wechseln. Dazu gibt es englische Übertitel. Überdies ist das Anlegen der Inszenierung als Wandertheater ein ungewöhnliches Konzept. Dem Prolog im Foyer des Jüdischen Theaters folgte ein Rundgang um die Synagoge, bei dem Dialoge und Monologe über Kopfhörer abgespielt wurden. Anschließend begaben sich die Zuschauer in den Theatersaal. Unerfreulich fand ich, dass der kurze Spaziergang im Freien von mehreren Polizisten zu unserer eigenen Sicherheit begleitet werden musste. Eine wertvolle Show, die in der gegenwärtigen Zeit des weltweiten Aufstiegs des Rechtsextremismus Alarm schlägt. Manchmal überholt die Realität das Theater: Noch während ich diese Zeilen schreibe, ist bekannt geworden, dass der ultrarechte Kandidat Călin Georgescu die meisten Stimmen in der ersten Runde der Präsidentenwahl in Rumänien erhalten hat!

Auch Kerzen der Gerechtigkeit thematisiert den Antisemitismus (Regie: Aba Sebestyén, eine Produktion der Gruppe "Tompa Miklós" des Nationaltheaters Târgu Mureş). Ausgehend von der wahren Geschichte der Sabbatariergemeinschaft in einem siebenbürgischen Dorf liefert der Dramatiker Csaba Székely eine eindrucksvolle Analyse der menschlichen Natur. Es geht mit schwarzem Humor um Beziehungen zwischen Familien sowie zwischen diesen und den dörflichen Institutionen, als sich die sabbatarischen Szekler während des Zweiten Weltkriegs mit nationalsozialistischen Tendenzen der Budapester Behörden konfrontiert sahen. In guter ungarischer Theatertradition sorgte ein Orchester live auf der Bühne für unvergessliche musikalische Momente. Weiterhin überzeugte das gesamte Ensemble mit bester Schauspielkunst.

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   Das Staatstheater Constanţa, aus der südostrumänischen Stadt am Ufer des Schwarzen Meeres, und das Theater "Andrei Mureşanu" aus Sfântu Gheorghe, die mit jeweils zwei Produktionen im Festival vertreten waren, bestachen durch äußerst begabte junge Schauspiel-Kollektive. Eine Hommage an Regisseur Silviu Purcărete im Rahmen des Moduls "50 Jahren Theaterarbeit", ein Fokus auf "12 unabhängige/private Schauspielstätten", szenische Lesungen neuer Stücke, 58 (!) Buchpräsentationen und eine Produktion des Nationaltheaters "Mihai Eminescu" aus Chişinău, Republik Moldau, ergänzten das Programm. Dennoch bleibt für mich Wer hat meinen Vater umgebracht? von Édouard Louis das Highlight der gesamten Theatersaison: eine tadellos synchronisierte Choreografie gezeichnet von Andrea Gavriliu, eine Demonstration schauspielerischer Virtuosität, Andrei Măjeris brillante Regie im Metropolis-Theater, Bukarest.
 


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