In Schwarz gekleidet, mit
einer undefinierten Form und vor allem lautstark. Zu ohrenbetäubenden
Soundeffekten bewegt sich die Fantasiefigur in der Mitte der Bühne, bis alle
Zuschauer auf drei Seiten rundherum Platz nehmen. Doch wer ist diese
garstige Erscheinung? So stellt sich Natasza Sołtanowicz die "Anomalie" vor,
die den menschlichen Alltag durcheinanderbringen kann. Die polnische Autorin
und Regisseurin schafft am Nationaltheater in Craiova, im Südwesten
Rumäniens, eine beeindruckende Show über die Reaktionen der Menschen auf
unvorhersehbare Ereignisse, die im Leben Betroffenheit auslösen. Gleichfalls
bemerkenswert ist die von der Regisseurin gezeichnete dynamische
Choreografie: Neun Schauspieler bewegen sich wie Roboter mit unglaublicher
Präzision zu düsteren elektronischen Klängen, einem ebenfalls von
Sołtanowicz geschaffenen Soundtrack. Gleichermaßen faszinierend sind auch
die Kostüme, allen voran die futuristischen Science-Fiction-Masken. Die
Anomalie war eine spektakuläre Show, die sich perfekt an das Motto
"Dramatiken des Möglichen" der 34. Ausgabe des Nationalen Theaterfestivals
(FNT) angepasst hat.
Über 30 Produktionen in
einer Vielfalt von stilistischen und ästhetischen Formen wurden vom 18. bis
28. Oktober in Bukarest gezeigt. Mit einem besonders reichhaltigen und
abwechslungsreichen Programm lieferten drei Kuratoren – Mihaela Michailov,
Călin Ciobotari und Ionuţ Sociu – einen guten Überblick über die dynamische
rumänische Theaterszene.
Eröffnet wurde das Festival mit einer Performance
der bekannten deutschen Gruppe She She Pop – eine von fünf aus dem Ausland
eingeladenen Produktionen. Dance me! war ein
generationsübergreifender Wettbewerb zwischen zwei Teams: den älteren
Künstlern von She She Pop und jüngeren Menschen. In einer als Boxring
gestalteten Bühne tanzte jeweils eine Mannschaft zur Musik der anderen.
Zwischendurch wurden alterstypische Erfahrungen und politische Einstellungen
verhandelt. Während die Senioren Live-Songs vortrugen, verwendeten die
Jugendlichen fast ausschließlich computergenerierte Beats. In einer der
besten Szenen zeigten die älteren Performer einen Paartanz mit Orangen
zwischen sich balancierend. Die spielerische generationsübergreifende
Erkundung Dance Me! sorgte aufgrund ihrer experimentellen Konvention
für kontroverse Reaktionen und bot dem Publikum eine andere Perspektive des
Theatermachens.
Neben etablierten
Regisseuren wie Andrei Şerban, Tompa Gábor, Radu Afrim befanden sich im
Programm eine Reihe jüngerer experimentierfreudiger Künstler wie Catinca
Drăgănescu, Eugen Jebeleanu oder Botond Nagy, ein klarer Beweis dafür, wie
gut der
intergenerationelle Austausch zwischen Jung und Alt im rumänischen
Theater funktioniert. Adaptionen von Klassikern wie Shakespeare, Ionesco, Büchner und
Ibsen – z. B. Hedda Gabler inszeniert von Thomas Ostermeier am
Bukarester Nationaltheater – lockten die Besucher ebenso wie moderne
Inszenierungen über brandaktuelle Themen.
Sexualpädagogik und Schwangerschaftsabbruch kritisch hinterfragt
Eine
weitere aus dem Ausland eingeladene Produktion war Geschichten der
Großmütter, die den Töchtern von ihren Müttern zugeflüstert werden. In
dieser im polnischen Contemporary Theater Szczecin entstandene Performance
der Dramatikerin und Regisseurin Gianina Cărbunariu geht es um die strengen
Abtreibungsgesetze zum einen im ehemaligen rumänischen Kommunismus, zum
anderen im gegenwärtigen katholischen Polen, wo Schwangerschaftsabbruch nur
in drei Fällen erlaubt ist: Gefahr für Leib und Leben der Mutter,
Vergewaltigung oder schwere Missbildung des ungeborenen Kindes. Cărbunarius
polyphon aufgebauter Text verknüpft zwei Fälle, einen aus jedem Land. Von
Anfang an offenbart die Inszenierung, dass Abtreibungsverbot ein weiterer
Aspekt männlicher Dominanz in der Gesellschaft ist. Die fragmentarische
Show, mit Live-Aufnahmen in einem einfachen, aber wirkungsvollen Bühnenbild,
eröffnet ebenfalls einen Rahmen der Reflexion über das Theater. Die von der
Regisseurin geschaffenen Bilder sind emotional aufgeladen und erzählen
Geschichten, die tief berühren, ohne dabei die informative Komponente zu
vernachlässigen.
Besonders schockierend war
die Entdeckung, dass in Rumänien Sexualunterricht in den Lehrplänen schlicht
und einfach fehlt. Genau aus diesem Grund erschien mir die Produktion
Bujor des Theaters aus Galaţi (eine Stadt an der Donau, etwa 11 km von
der Grenze zur Republik Moldau entfernt) in der Regie von Leta Popescu sehr
mutig. Doru Vătavuluis Stück wechselt gekonnt zwischen zwei Zeitebenen:
einer Debatte zwischen den Eltern von Gymnasiasten und dem Lehrer namens
Bujor, und Rückblenden aus dessen eigener Schulerfahrung. Anspielungen auf
die Homosexualität des Lehrers, die bestimmten konservativen Standards der
rumänischen Gesellschaft nicht entspricht, werden mit viel Humor
präsentiert. Eine notwendige, temporeiche Show, mit guten Schauspielern, die
ihre Rollen glaubwürdig verkörpern. Hervorragend fand ich die Idee der
Kuratorin Mihaela Michailov, nach jeder Aufführung, eine Diskussion mit dem
Publikum zu organisieren. Bujor war Teil der Festivalsektion
"Pädagogisches FNT", zu der auch
Das zerbrechliche Gefühl der Hoffnung
gehörte.
Antisemitismus-Bekämpfung auf Deutsch und Ungarisch
Dass
in Rumänien hochwertige ungarisch- und deutschsprachige Theatergruppen
existieren, ist im Westen Europas oft unbekannt. Umso wichtiger ist ihre
Präsenz im Festivalprogramm, besonders dann, wenn die behandelten Themen von
großer Relevanz sind. Sidy Thal (Koproduzenten: Deutsches
Staatstheater Temeswar und Jüdisches Staatstheater Bukarest) erzählt die
Geschichte eines antisemitischen Angriffs der faschistischen Bewegung "Die
Eiserne Garde" am 26. November 1938, als während eines Auftritts der
jüdischen Sängerin Sidy Thal zwei Handgranaten explodierten. Vier Menschen
starben, weitere siebzig wurden verletzt. Dramatiker Thomas Perle und
Regisseur Clemens Bechtel betrachten das Attentat aus unterschiedlichen
Perspektiven. Die Produktion sticht durch Mehrsprachigkeit hervor: Sidy Thal
spricht auf Jiddisch, während die anderen Charaktere, manchmal innerhalb
desselben Monologs, zwischen Deutsch und Rumänisch wechseln. Dazu gibt es
englische Übertitel. Überdies ist das Anlegen der Inszenierung als
Wandertheater ein ungewöhnliches Konzept. Dem Prolog im Foyer des Jüdischen
Theaters folgte ein Rundgang um die Synagoge, bei dem Dialoge und Monologe
über Kopfhörer abgespielt wurden. Anschließend begaben sich die Zuschauer in
den Theatersaal. Unerfreulich fand ich, dass der kurze Spaziergang im Freien
von mehreren Polizisten zu unserer eigenen Sicherheit begleitet werden
musste. Eine wertvolle Show, die in der gegenwärtigen Zeit des weltweiten
Aufstiegs des Rechtsextremismus Alarm schlägt. Manchmal überholt die
Realität das Theater: Noch während ich diese Zeilen schreibe, ist bekannt
geworden, dass der ultrarechte Kandidat Călin Georgescu die meisten Stimmen
in der ersten Runde der Präsidentenwahl in Rumänien erhalten hat!
Auch Kerzen der
Gerechtigkeit thematisiert den Antisemitismus (Regie: Aba Sebestyén,
eine Produktion der Gruppe "Tompa Miklós" des Nationaltheaters Târgu Mureş).
Ausgehend von der wahren Geschichte der Sabbatariergemeinschaft in einem
siebenbürgischen Dorf liefert der Dramatiker Csaba Székely eine
eindrucksvolle Analyse der menschlichen Natur. Es geht mit schwarzem Humor
um Beziehungen zwischen Familien sowie zwischen diesen und den dörflichen
Institutionen, als sich die sabbatarischen Szekler während des Zweiten
Weltkriegs mit nationalsozialistischen Tendenzen der Budapester Behörden
konfrontiert sahen. In guter ungarischer Theatertradition sorgte ein
Orchester live auf der Bühne für unvergessliche musikalische Momente.
Weiterhin überzeugte das gesamte Ensemble mit bester Schauspielkunst.
***
Das Staatstheater
Constanţa, aus der südostrumänischen Stadt am Ufer des Schwarzen Meeres, und
das Theater "Andrei Mureşanu" aus Sfântu Gheorghe, die mit jeweils zwei
Produktionen im Festival vertreten waren,
bestachen durch äußerst begabte
junge Schauspiel-Kollektive. Eine Hommage an Regisseur Silviu Purcărete im Rahmen des Moduls
"50
Jahren Theaterarbeit", ein Fokus auf "12 unabhängige/private
Schauspielstätten", szenische Lesungen neuer Stücke, 58 (!)
Buchpräsentationen und eine Produktion des Nationaltheaters "Mihai Eminescu"
aus Chişinău, Republik Moldau, ergänzten das Programm. Dennoch bleibt für
mich Wer hat meinen Vater umgebracht? von Édouard Louis das Highlight
der gesamten Theatersaison: eine tadellos synchronisierte Choreografie
gezeichnet von Andrea Gavriliu, eine Demonstration schauspielerischer
Virtuosität,
Andrei Măjeris brillante Regie im Metropolis-Theater, Bukarest.